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Das Floß der Medusa – Was wir zum Überleben brauchen

Werden wir überleben – und das in unserer Zeit? Oder planen wir das Überleben nur als Event? Rezension von Rupert Neudeck 

Das Buch kommt wahrlich nicht als Bestseller daher, obwohl er vom Inhalt her das Zeug in sich hätte. Allein der Titel gibt sich Geheimnis voll. Es werden Großkatastrophen kommen und der Autor bitte die geneigten Leser, ihm zu verzeihen, dass er eine lang vergangene Katastrophe benutzt, um seine Mahnungen wirkungsvoller zu machen: Die Fregatte Medusa wurde im April 1807 auf Kiel gelegt, rund 100 Jahre vor der Titanic, die 1912 vom Stapel lief und auf ihrer Jungfernfahrt sank. Wie die Titanic zählte die Medusa zu den schnellsten Schiffen ihrer Zeit.

Nach Napoleons Verbannung sollte die Medusa 1816 den neuen Gouverneur des Senegal Julien Schmaltz dorthin bringen. Zu den Gefahren der westafrikanischen Küste gehören die Sandbänke, die vor der Nordküste des Senegal mehr als 30 Seemeilen weit in den Atlantik ragen. Die Medusa sollte im Verband mit drei weiteren Schiffen segeln, damit man sich gegebenenfalls helfen könnte. Aber sie war eben das schnellste Schiff und sauste voraus.

An Bord der Medusa waren etwa 400 Menschen, 166 Seeleute, Soldaten und 61 Passagiere. Der Kommodore der Fregatte machte sich von einem Schmeichler abhängig, der keine Erfahrung hatte und der befahl, statt in sicherer Entfernung auf dem offenen Meer in der Nähe der Küste zu segeln. Dann setzte das Schiff auf eine Sandbank. Die Pumpen konnte das Eindringen von viel Wasser nicht verhindern.

Es hätte eine Möglichkeit gegeben, das Schiff zu retten, in dem man einen Anker mit einem Beiboot dort versenkt hätte, wo das Wasser tief genug war, dann die Flut abzuwarten und die Medusa mit Hilfe der Ankerwinde aus der Untiefe zu ziehen. Dazu hätte man das Schiff leichter machen müssen. Die Kanonen und Kugeln hätten von Bord geworfen werden müssen. Saint Louis, das heutige Dakar, war nur noch zwei Tage entfernt. Aber man konnte sich nicht entschließen, mit dem Beiboot die Passagiere an land zu bringen.

Am Abend des 4. Juli 1816 fiel ein Sturm über die Medusa her. Die Soldaten meuterten und drohten jeden zu erschießen, der mit einem der Boote sich in Sicherheit bringen würde und sie zurücklasse. Der Gouverneur Schmaltz plante darauf, aus dem zerbrochenen Schiff ein Floß zu bauen, das durch die Beiboote an Land geschleppt werden sollte. Am 5. Juli begann die Fahrt im totalen Chaos. Alle Ruderboote hätten vielleicht das Floß bewegen können. Aber nachdem die Trosse gelöst waren, trieb das Floß mit 146 Männern und einer Frau auf dem Meer und verschwand auf Nimmer wiedersehen.

Das ist die dramatische Geschichte, die für den Autor eine symptomatische ist. Was brauchen wir zum Überleben?

Im Kapitel über das Event und die Konsumgesellschaft, heißt es: „Religion trägt die Menschen nicht mehr, sie schützt nicht vor den Gefühlen der Sinnlosigkeit“. Da ersetzt der Event den Mangel an Stabilität, früher geleistet mit religiöser Sinngebung. Dominante Inszenierungen der Eventkultur drehen sich um Preisverleihungen und Wettbewerbe. Es könne gar nicht genug Wettbewerbe geben. Mittlerweile gibt es eine WM in Bodypainting und in der Air-Brushmalerei.

Atomtechnik kommt in unsere Welt wie ein trojanisches Pferd. Die Großtechnik sei nicht mehr überschaubar. „Als der Tsunami das Atomkraftwerk in Fukushima zerstört hatte, gelang es den Experten der Betreiber nicht, überhaupt zu verstehen, was nun genau passiert war. Seit der Titanic wissen wir, sagt Schmidbauer, dass die Konstrukteure von Technischen Werken nicht an Rettungsboote denken. „Sie sind extrem auf die Manie des Funktionierens fixiert und vergessen, dass jedes Schiff untergehen kann“.

Wir kennen nicht mehr die Handarbeit. Die Handarbeit hat das menschliche Leben in einen anmutigen Bezug zur Umwelt gebracht. Wir bewundern heute Bauernhäuser, Kirchen, Nomadenzelte, die Lehmbauten in Timbuktu, die mexikanischen Pueblos, Städte wie Venedig oder Schibam im Jemen. Über all sei das, was Menschen mit ihren Händen gemacht haben, SCHÖN und mit der Landschaft verwachsen. Nichts von den heutigen Gewerbegebieten mit ihren seelenlosen Industriegebäuden. Darin hat gar nicht auch nur den Anschein von Schönheit.

Im Kapitel „Intelligenz und Politik“ kommt der Autor auf den größten Zerstörer und Vernichter von Geld und Kreativität und Leben. Die Waffenindustrie. Wie sollen wir den „Betriebsrat des Rüstungskonzerns beurteilen, der die Produktion von Landminen toleriert, um Arbeitsplätze seiner Kollegen zu schützen?“ Im modernen Krieg sind Täter und Opfer durch weite Entfernungen getrennt, die „verlässlich vor Schmerzensschreien schützen“. Wir hören nur die Schreie der Freundinnen und Kinder, die bei den vergleichsweise wenigen, die nicht im Kampf sondern durch Unfälle und Attentate umkommen, bei uns bemerkbar sind.

„Der Krieg des Jetpiloten – schreibt Schmidtbauer unterscheide sich vom Trojanischen Krieg „wie das Videospiel vom Schlachthof“. Und über das Buch hinweg ist der Jetpilot schon ausgestorben: Drohnen, unbemannt, vollführen das, was US-Täter am Schreibtisch und Laptop in Tampa Florida für die abgeworfenen Bomben und Raketen über das Swattal und Waziristan oder den Jemen oder die Gebiete südlich von Mogadishu bis Kenya bestimmen.

Die neue Religion sei der Konsumismus. Es gibt Tricks, um ihn zu schlagen. Aber der Autor bleibt skeptisch. Wenn eine Analysandin des Therapeuten davon träumt, sich einen Porsche Cayenne anzuschauen, kann man als Mensch darauf eingehen. Als Therapeut aber sucht der Autor nach Möglichkeiten, „das Selbstgefühl der Patientin weniger als solche Krücken angewiesen sein zu lassen“.

Die Grundkrankheit sei der Total-Individualismus, keine Bindungen, keine Kinder. Es gibt deshalb abnehmende Frustrationstoleranz, mangelnde Belastbarkeit von Schülern und Studenten. Zweitens Anspruch auf schnelle Befriedigung. Instant gratification ist notwendig. Und es gibt drittens eine „Renaissance der Rache“. In Filmen wird das ausgedrückt. Eine Polizistin sucht nicht mehr den Verbrecher, um ihn der Justiz zu übergeben, sondern erledigt ihn mit einigen Schüssen. Der Fortschritt wurde eine Ersatzreligion, die ihre eigenen Kathedralen und Wallfahrtsorte kennt: Die Weltausstellungen, Die von 1900 in Paris wurde von 39 Millionen Besuchern entdeckt. Für uns Moderne werden dauernd Prothesen produziert, die verlorene Fähigkeiten verkümmern lassen.

Die Konsumgesellschaft hat uns alle am Wickel. Triebwünsche müssen sofort befriedigt werden, der Konsument soll kaufen, nicht sublimieren. Solange die Autos immer besser werden, sind wir abgelenkt, darüber nachzudenken, ob sie nicht prinzipiell unbekömmlich sind für uns Menschen. Die Idealisierungen der guten alten Zeit sind naiv aber auch nicht naiver als die Idealisierungen des Fortschritts. Wer auf dem Boden schläft, kann nicht aus dem Bett fallen.

Wer die Wahl hat zwischen Boden und Bett, entscheidet sich für den Luxus.

Die Religion des Konsumismus zerstört: Wer heute mit Ärzten spricht, weiss, dass sie die Freude am Beruf verlieren oder erst wieder in Afrika gewinnen bei einem Engagement einer Hilfsorganisation. Patienten wollen ihre Gesundheit wiederhaben, aber auf nichts verzichten. Der Doktor soll das Herz in Ordnung bringen, aber bitte nicht schon wieder die Leier vom Verzicht.

Es wird in unserer Konsum-Zeitalter normal, eine durch Alkoholsucht bedingte Leberzirrhose durch die Transplantation eines Organs zu heilen oder Fettsüchtige dadurch zu behandeln, dass ihnen ein Stück Dünndarm herausgeschnitten wird. Das Verlorene, so resümiert Schmidbauer, sei – verglichen mit unserem zum Untergang führenden Luxus –  höchst armselig, von so mancher Lebensgefahr begleitet und doch stabiler als der Konsumismus.

Die Unfähigkeit, Werke anderer Kulturen zu respektieren, sei Teil unserer Kultur. Die Anmaßung von uns moralischen Kolonisatoren liege darin, „unsere Idee der Humanität für universell zu halten und zu übersehen, dass sie nur in ihrer eigenen Kultur gilt“.

Alle Kapitel halten diese schöne Spannung aufrecht. Sie sind auch nicht wirre Utopien, sondern gelebte Gegen-Kulturen in Rückbesinnung auf die Welt derer, die mit der Natur lebten, aber nicht wussten, was Öko ist. Rational leuchte der wirtschaftliche Unsinn von Gütern ein, „die nur an wenigen Tagen eines Monats genutzt werden, die aber jede Konsumbürger besitzen ’muss’“.

Es gibt neben den gescheiterten Großversuchen – Hippie-Bewegung in den USA oder Kibbuzim in Israel oder Kolchosen in der Sowjetunion, Modelle einer wirtschaftlichen Einheit, die größer und durchsetzungsfähiger sind als eine Familie.

Gründungen von Siedlungen im Westen der USA sind Beispiele dafür, wie aus durchorganisierten Gesellschaften wieder Plätze werden, wo sich Nachbarn dem Überleben ihrer Mitglieder zuwenden. Die Gesetze und die Bürokratie gehen nicht in die richtige Richtung. Schmidtbauer weiss, dass alle Menschen einen sicheren Ort brauchen. „Was sie als solchen erleben, hängt von der Struktur ihrer Ängste ab“.

Das Buch lebt von dem Gegenteil des politisch-sozialen Eiferertums. Hier redet jemand, der weiß, was uns allen gut tut, der auch weiß, dass wir dorthin vorerst nicht hinkommen. Wir können alle nicht mehr Bastler sein. Der Autor beschreibt, aber ohne Nostalgie, wie er seine Schreibmaschine noch reparieren konnte, auch sein altes Auto, das neue nicht mehr. Er gibt den ganzen langen bemühten Brief in dem Buch wieder, den er auf der Suche nach dem intelligenten Auto an den Herrn Piech von VW am 17.7. 1996 geschrieben hat.

Er schlug ein Modell vor das die ökologische Wende einleitet hin zu „langsameren, leichteren und schwächer motorisierten Fahrzeugen, die nicht nur sparsamer sind, sondern auch das Konzept einer aggressiven technologischen Hochrüstung aufgeben. Und er wollte ein Modell vorschlagen, das eine „pädagogische Wende „ einläuten würde, hin zu einer Technik, „die nicht mehr durch wachsende Undurchschaubarkeit den Nutzer“ zwingt, sein geistigen und emotionalen Fähigkeiten zurückzudrehen.

Der Autor bekam keine Antwort. Ein Ingenieur von der Marketingabteilung sagte ihm, Konstruktionen ohne ABS und Airbag würden als unzeitgemäß verachtet und hätten keine Chance.

Schmidtbauer ist begeistert von den „Commons“, für die er das schöne altdeutsche Wort Allmende benutzt. Er sprüht von Ideen, Politiker, wenn sie es denn wären und nicht eigensüchtige und gut bezahlte Mandatsträger, sollten sie nutzen. Eine soll hier noch zitiert werden. Wie kann man trostlose Mietskasernen voller Sozialwohnungen beleben: Man überführe sie in kollektiven Besitz.

„Stellen wir uns vermülltes Brachland vor, das von Hochhäusern umgeben ist.“ Wenn man sich entschließen kann, diese Brache gemeinsam zu nutzen, wird es nicht lange dauern, und dort gibt es Gärten und gemeinsame Fest. „Menschen können das, nicht immer, nicht unter allen Umständen, aber die Kraft wurzelt in ihnen und kann geweckt werden“.

Und: Die Natur sei keine unerschöpfliche, alles ertragende Mutter, sondern sie ist das Kind eines gereiften menschlichen Bewusstseins, wir müssen für sie sorgen“. Wir müssen Gemeinschaftsgüter entwickeln nach Anleitungen zum Bau stabiler Rettungsflöße.

Ein Buch, das man Kapitel für Kapitel nur meditierend und mit Gewinn für sich und ein neues Leben lesen kann.

Quelle

Rupert Neudeck 2012Grünhelme 2012

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