DER HUNGER
„Wie zum Teufel, können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?“ Der Leser muss sein Leben ändern. Zu einem aufrüttelnden Buch über den Menschheitshunger. Von Rupert Neudeck
Das ist das eindringlichste Buch über den Hunger, das ich kenne. Niemand hat den Hunger bisher so bezwingend beschrieben, aber auch als eine solche Festungsarchitektur der Gegenwart, dass man zwischendurch den Rat des Autors wahrmachen möchte, der uns Lesern anempfiehlt, nur bis dahin weiterzulesen, wo wir noch lesen können ohne zu weinen. Der Autor hat alle Facetten der Problematik, die auch die der Semantik der sog. Entwicklungshilfe ist, mitgemacht. Ihm kann niemand beikommen. Er schreibt im Indien-Kapitel, dass die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO dafür zuständig sei, den „Hunger zu beziffern“. Man gebe sich redlich Mühe. Da es aber in der Welt der Entwicklungsländer kaum statistische Landesämter gibt und die UNO sich nur in den Hauptstädten in klimatisierten Gebäuden aufhält, sind das eben auch Entscheidungen.
Die FAO, so schreibt der Autor, habe es geschafft, die Anzahl der Unterernährten in der Welt deutlich zu verringern – indem sie die Berechnungsmethode verändert hat. Das habe sie schon öfter gemacht: 1974 gab sie die Zahl der Unterernährten mit 460 Millionen an. Man sah voraus, dass diese Zahl in zehn Jahren auf 800 Millionen ansteigen könnte. 1989 bestätigte sich das. Es gab nun 786 Mio. Hungernde. 1990 machte die FAO noch einmal eine Kehrtwende und gab zu, ohne dass die Welt oder die Journalisten in Gelächter ausbrachen, dass man eine fehlerhafte Methode angewandt habe. Es habe nämlich 1970 nicht 460 Millionen, sondern mehr als das Doppelte gegeben 941 Millionen.
Und das führte zu der Erfolgsmeldung: Der damals aktuelle Stand von 786 Mio. habe keine Zunahme des Hungers bedeutet, sondern im Gegenteil – ein großer Erfolg. Diese permanenten Änderungen und Revisionen dienen nur uns Westlern, sie sollen uns zeigen, wie gut unsere Politik greift. Der Hunger sei natürlich nicht gleichmäßig auf alle Bewohner der Erde konzentriert, vielmehr verteile er sich auf die ärmsten Länder, die „Entwicklungsländer“ oder die Andere Welt. Es sind 48 Länder, die eindeutig zur Anderen Welt gehören, die Ärmsten der Armen, die „least developed countries“, davon sind aktuell 34 afrikanische und 13 asiatisch pazifische Länder. Diese 48 Länder, in denen elf Prozent der Weltbevölkerung leben, verfügen alle zusammen über 0,5 Prozent des globalen Vermögens.
Der Autor hat einen Stil, zwischendurch immer die wichtigsten Erkenntnisse ganz kurz festzuhalten. Der Hunger sei die Krankheit, unter der die meisten Menschen leiden – nach dem Tod, der am Ende jeden trifft. „Und deswegen ist er die tödlichste Krankheit, nach dem Tod selber“. Es gab eine Zeit – da gab es wegen des Hungers noch einen Aufschrei. „Doch heutzutage ist der Hunger vor allem still“. Die Frage stellt sich der Leser bei diesem kaum zu Ende zu lesenden Buch (über 800 eng beschriebene Seiten!) – warum revoltieren diese Menschen nicht gegen das Kasten System, gegen die Einschränkungen ihrer Lebensbedingungen?
Wenn man sich den Skandal der Ungerechtigkeit klarmacht, kann man nur heulen oder sich wegen seines Nichtstuns verachten. Die Lebenserwartung in Spanien liegt bei 82, die in Mozambique bei 50 Jahren. In Japan 83 Jahre und in Sambia 57 Jahre. „Die einen haben allein deshalb die Chance doppelt so lange zu leben, weil sie an einem anderen Ort geboren wurden. Eine brutalere Form von Ungerechtigkeit fällt mit nicht ein“. Zahlen wollen uns mit Ihren Erfolgsziffern beruhigen. Zahlen sind aber auch Hintertürchen für Schurken „Zahlen sind das Alibi des armseligen Relativismus“. Wäre dieses Buch mutig oder wäre der Autor mutig, enthielte das Buch keine einzige Zahl. Aber dem ist nicht so. „Ich Schurke flüchte mich in die Sicherheit der Herde“. Immer wieder betont der Autor, wie irreführend Zahlen sind, wovon aber das ganze System unserer Ministerien, unseres ganzen humanitären Betriebes lebt. Zahlen dienen dazu, zu belegen, was wir schon wissen. Wir respektieren sie, glauben sie sagen die Wahrheit.
Aber Zahlen „sind die beste Möglichkeit, die Wirklichkeit einzufrieren. Sie abstrakt werden zu lassen. Die Regierung Indiens tut natürlich auch was, sie richtete nach einem öffentlichen Eingeständnis von 2008 von Premierminister Manmiohan Singh Hilfszentren, sog. Anganwadis ein, die Impfstoffe und Nahrung für die ärmsten Kinder bereithalten sollen. Und man gab BPL-Karten aus, BPL= Below poverty line“, mit denen man einmal im Monat 35 Kilo Reis für drei oder vier Rupien das Kilo kaufen kann. Aber Korruption sorgt dafür, dass solche gut gemeinten Gesetze nicht greifen. Man fragt sich als Leser des Buches, was für die Milliarde Inder die Verfassung bedeutet, die ja die Kasten Diskriminierung verbietet, im Alltag bleibt sie aber bestehen und wird sogar manchmal verstärkt.
Ja, es ist gut, dass der Autor mitten in seinem flüssigen Text mal in Klammern schreibt: manchmal denke er, dieses Buch sollte aus einer Folge von solchen Geschichten bestehen, Geschichte wie dieser völlig desillusionierten Frau und Mutter Anitha. „Jeder sollte so weit lesen, wie er kann, und sich fragen, warum er das liest oder nicht liest“ Dann aber beschuldigt sich der Autor, der wieder versucht nach Gründen für das Unerträgliche zu suchen. „Auch darin bin ich ein Feigling“. Und so ist es auch: der Leser ist von der Radikalität dieses Autors so fasziniert, dass er an manchen Stellen innehalten möchte. Ich hatte gedacht, dass ich aus eigener Erfahrung schon genug über den Hunger in Afrika wüsste, aber ich muss nach dem Buch eingestehen: ich weiß noch ganz wenig.
Das Buch hat mich zurechtgebracht, um die Formulierung von Immanuel Kant nach der Lektüre von Rousseau hier wieder aufzunehmen. Und ich denke, ein gewisses Maß an Pathos verdient das Buch und verdient der Autor. Nehmen wir allein die schriftstellerische Leistung, wie in diesem riesigen Buch ganz große ausgeruhte Reportagen mit genauesten Belegen (aber ohne Apparat und Anmerkungen, denn alles steht gleich im Text) die immer wieder neue Problematik dieser größten Krankheit der Menschheit darstellt. Er hat sich überall umgesehen, der Argentinier Martin Caparros.
Ein unglaublich intensives und bewegendes Kapitel bieten die Reise und Recherchierbemühungen des Autors in Indien, in Kalkutta, in Biraul, in Chandigarh, in Vrindavan, in Delhi und in Bombay. Das Ausweglose bei der Starrheit und der Weitergeltung des Kastensystems in der weiteren Existenz von Hunger und Unterernährten wird in diesen Kapiteln überdeutlich. Manche Beispiele bewegen uns so sehr, dass dem Leser die Tränen kommen. Auch das Ausweis der Begabung des Autors, der ganz politischer Publizist und ganz Schriftsteller ist. Er zieht nach Bangladesh („Wie der Hunger benutzt wird“) und in die USA und nach Argentinien. Er kommt in das neueste Land der Hemisphäre, die Republik Süd-Sudan, das erst 2005 das Licht der Unabhängigkeit erblickte, dort ist es die Beharrlichkeit des Stammesdenkens, das den Enthusiasmus der Freude über die einmal erreichte staatliche Freiheit total vergessen lässt. Für jemanden, der gemeint hat, er kenne sich da schon aus, ein ganz überraschendes Kapitel. Dann in das Land, das eine große Insel ist und als solche eine französische Kolonie war, aber doch nie ganz zu Afrika gehörte: Madagaskar.
Er beschreibt die westliche Heuchelei gegenüber dem chinesischen Engagement und den großen Investitionen sehr genau. Natürlich, sagt der Autor, machen sich die Chinesen in Afrika breit. „Aber das Gerede dient vor allem dazu, dass sich alle Augen auf China richten statt auf die westlichen Länder, die einfach dasselbe tun wie immer. Oder dazu, die einträglichen Geschäfte des christlichen Westens als patriotisches Engagement für eine bedrohte Zivilisation zu stilisieren: Wir sind der letzte Deich gegen die große chinesische Flut“. Aber er entschuldigt sich beim Leser: zu China wäre mehr zu sagen als er es tun kann, denn kein Land hat es geschafft die Zahl der Hungernden so drastisch herunterzubringen wie China. Es sollen aber auch dort noch (2014) 134 Millionen sein, die nicht genügend zu essen haben.
Es sei ungerecht sagt der Autor, dass in seinem Buch nicht ausführlicher von China die Rede ist, wo von Indien es ja 140 Seiten gibt. Aber er könne dort nicht arbeiten. Er sei bisher zweimal dagewesen und habe beide Male am Ende das Gefühl gehabt, „dass die von den Behörden auferlegten Beschränkungen mir eine Berichterstattung, wie ich sie mir vorstelle, unmöglich machen“. Schlimmer eigentlich, fügt er hinzu. Am Ende gab er nur das weiter, was ihm Bürokraten mundfertig geliefert hatten.
Das letzte Kapitel über Madagaskar ist noch einmal von betörender Überzeugung. Der Autor schreibt all diese langen madegassischen Namen, man hat das Gefühl, man ist schon auf dieser Insel, die ja auch einen heftigen Widerstand gegen Daewoo entwickelt, die südkoreanischen Konzerne, der einen Riesenbatzen des Landes unter seine eigenen Fittiche nehmen will: Landgrabbing. Dagegen regt sich in Madagaskar das, was man an den anderen Orten vermisst: Widerstand, Rebellion. Der Autor hat das Landgrabbing mit der größten Intensität beschrieben.
Die Menschen setzen immer auf die Versprechungen der Staaten und Firmen: Daewoo Manager Hing sagt. „Madagaskar ist ein vollkommen unterentwickeltes, aber intaktes Land. Wir werden die Menschen in Lohn und Arbeit bringen, indem wir sie die Felder bestellen lassen, und das ist gut für Madagaskar“. Ist es eben nicht. „Das Argument der Effizienz liegt ganz auf der Linie von Monsanto. Die Unternehmen präsentieren sich als Wohltäter der Menschheit. Und er beurteilt das, was da geschieht: Die Koloniale Bewegung, die wir Landnahme nennen, „ist der obszönste, der brutalste Ausdruck der Ungleichheit zwischen den Ländern: Einige nutzen das Land anderer, um Nahrungsmittel zu erzeugen, die für alle da sein sollten. Einige nehmen sich alles, die anderen gehen leer aus“.
Noch mal: Man kann das Buch nicht be-sprechen. Es enthält so viele Facetten, Formate, Genres, dass sein Reichtum nur angedeutet werden kann. Zwischendurch reflektiert der Autor in Kapiteln, die er in Klammern (Der Volksmund) betitelt. Der Autor redet mit jemandem, dem das Problem des Hungers egal ist. Wie zum Teufel, fragt er sich und die Politiker und die Mitbürger, können wir weiterleben? Der ganze Apparat, der den Hunger produziert, stützt sich auf zwei, drei Pfeiler. Er würde nicht mehr funktionieren, wenn wir wüssten, dass der arme hungernde Mann in Madaoua alles damit zu tun hat, dass ich in Buenos Aires, Köln, Troisdorf ein sorgenfreies Leben führe. „Die Verbindungen herzustellen, ist ein Akt der Rebellion“. Der Autor fragt einen Madegassen, warum er nicht öfter Zebufleisch essen würde? „Weil sie so groß sind. Wenn wir sie schlachten, würde viel Fleisch übrig bleiben und das müssten wir wegwerfen. Das würde unsere Ahnen erzürnen“.
Er ist gegen die amerikanische Erzählung: Es sind nicht wir, es sind die anderen, sie sind die Bösen. Die Propaganda läuft und funktioniert, wenn man an Landnahmen denkt, denkt man an Asiaten und Araber, zwei äußerste Schreckgespenster des 21. Jahrhundert: wirtschaftliche Invasion und fundamentalistische Gewalt. Besonders denkt man an China. Aber wir hängen auch drin. In der Misere Afrikas.
Landnahme oder Land Grabbing sei eine neuere Variante einer uralten Vorgehensweise. Frühe habe man sie als Kolonialismus bezeichnet, und die okkupierenden Mächte haben ihre Fahnen gehisst. „Jetzt erfolgt das alles unter dem Emblem von Globalisierung und freiem Handel und der Hilfe für die Armen“.
Es ist auch ein gutes Buch für die Helfer, die andauernd vorkommen, die durch die Lektüre dieses Buches wieder Bescheidenheit lernen würden. Und die Pflicht zur Rebellion. Es ist auch ein Buch für die Flüchtlingskrise, die ja zu großen Teilen die irrationale Angst bei unserer reichen Bevölkerungen schürt, dass die Habenichtse und Schmuddelkinder der Welt sich zu uns aufmachen. Die Angst ist da, und deshalb pochen wir auf das Recht unserer Souveränität. Deshalb vertreten so viele unserer Mitbürger die Forderungen, die Weltgesellschaft müsse sich vermindern. Es gibt die „Renaissance des malthusianischen Gedankenguts“.
Der Hunger taucht plötzlich als Bedrohung für alle auf. Eine britische NGO, berichtet der Autor, versuche die eigene CO2 Bilanz aufzupolieren, indem sie Geld spende, das in eine Kampagne zur Verbesserung der Familienplanung investiert wird. „Weniger Kinder, weniger CO2. Logisch oder?“ Viele haben diese Malthus Angst: es müssen Leute sterben, weil 2050 die Erde unmöglich neun Milliarden ernähren kann. Was nicht erwähnt wird: der beste Weg, die Geburtenrate zu senken, bestünde darin, dass die, die auf die Welt kommen, ein gutes Leben haben. „Dann müssten sie nämlich nicht länger so viele Kinder kriegen, damit wenigstens einige durchkommen“.
Warum müssen einige wie Warren Buffett, Bill Gates und Zuckerberg so viel verdienen, damit sie damit als Wohltäter der Menschheit herumziehen? Die Tobinsteuer, die Finanztransaktionssteuer war mal als Allheilmittel gedacht. Aber es gibt nicht die politischen Akteure, Staaten, die bereit wären, sie durchzusetzen. Und selbst wenn es einen mächtigen politischen Akteur gäbe, „wäre noch lange nicht gesagt, dass das Geld ausschließlich zur Bekämpfung des Hungers verwendet wird.“