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C.H. Beck Verlag

© C.H. Beck Verlag

Deutschland – Erinnerungen einer Nation

Ein Buch über alle Eigenschaften und Eigenheiten von uns Deutschen, geschrieben von einem Briten. Von Rupert Neudeck

Das ist ein Buch, das ich mir schlechterdings nicht als e-Book vorstellen kann, womit ich auch nichts gegen e-Books allgemein gesagt haben will. Aber dieses opulente Buch kommt einem daher wie eine große Ausstellung all dessen, was jemand wie dieser Direktor des British Museums Neil MacGregor alles an Eigenschaften, historischen und ethnopsychologischen Mentalitätsklimmzügen von uns Deutschen herausgefunden hat. Das Buch ist deshalb so charmant und leicht zu lesen, weil es uns mit der gleichen heiteren Ausführlichkeit die Krone Kaiser Karls in der Aachener Pfalzkirche wie die nordeuropäische Hanse wie auch die Bier-Laune der Bayern und ihrer besonderen Würste als Zeichen einer Nation behandelt. Das Ganze ist hochgebildet, lebt von der genauesten historiographischen Kenntnis. Und es ist durchsetzt eben nicht mit Illustrationen, die die Kapitel begleiten, sondern mit Bildern, die ganze zwei Seiten in wunderbarem Druck beinhalten. Es ist also, wenn man es extrem sagt, kein illustriertes Buch, denn manchmal sind die Bilder, die Porträts, die Aufnahmen, die wichtigeren Teile eines Kapitels, zu dem es den Text als Beilage gibt.

Man kann das nicht resümieren, deshalb will ich zwei Kapitel lesend kurz darstellen, was dieses Buch uns alles bringt und gibt. Es sind sechs Teile, in die das opus mirandum eingelassen ist. Im Ersten Teil geht es um die Frage: wo dieses Deutschland liegt? Und ein Teil der Antwort ist beschrieben mit dem „Geteilten Himmel“, dem Roman mit dem Christa Wolf die Trauer und Tragödie der deutschen Spaltung literarisch bearbeitete. Der Zweite Teil gilt dem Deutschland der Imaginationen, dem Deutschland, das eine Sprache entwickelte, das unter Johann Wolfgang von Goethe eine Nation wurde, dem der etwas verrückte bayerische König Ludwig ein Walhalla der Helden der Deutschen bereitstellte. Im Teil drei geht es um die fortlebende Vergangenheit, die sich in der „Schlacht um Karl den Großen“, aber auch die zwei deutschen Wege nach 1848 dokumentiert. In die Innereien der Gewerke und Gewerbe, der Zünfte und Gewerkschaft geht der Vierte Teil: „Made in Germany“, der die Druckerkunst, das weiße Gold aus Sachsen und andere Gewerke und Handwerks-Meister behandelt. Teil Fünf widmet sich dem Abstieg und der Katastrophe deutscher Geschichte. Von Bismarck, dem Schmied der deutschen Einheit bis zum „Tor von Buchenwald“. Im sechsten Teil dann geht es um uns Deutsche und wie wir „Mit Geschichte leben“: Die vertriebenen Deutschen haben zu Recht ein eignes Kapitel, die neuen deutschen Juden mit dem gleichen Recht.

Nehmen wir im Teil Drei das Kapitel „Den Geist schnitzen“. Das ist das Kapitel über Tilman Riemenschneider. 1756 spottete Voltaire über das Heilige Römische Reich. Dieses sei „weder heilig noch römisch noch ein Reich“. Nur hatte der Satiriker nicht immer Recht, auch wenn er ein gutes Sprichwort gefunden hatte. Denn in wichtigen Etappen war das Heilige Römische Reich alles. Im Jahr 800 war das Reich auch heilig. Denn in diesem Jahr zog Karl der Große über die Alpen nach Rom und wurde dort vom Papst gekrönt. Untrennbar sollten die weltliche und die geistliche Macht des neuen Reiches sein. Im Reichskirchensystem waren Kirchenfürsten auch weltliche Herren. Drei der sieben Kurfürsten waren geistliche Herren, Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln“. Zu den großen Leistungen des Römischen Reiches in Deutschland gehörte, dass es die Loyalität beider Konfessionen bewahrte. Wir wissen von diesem Tilman Riemenschneider sehr wenig. Er bevorzugte als Medium Lindenholz, „das traditionelle Holz deutscher Bildschnitzer, dessen feiner Maserung er erstaunliche Variationen der Textur abgewonnen hat“. Die vier Evangelisten gehörten 1492 zur vollendeten Predella des Altars der Magdalenenkirche in Münnerstadt bei Würzburg. Mit diesem gen Himmel strebenden Altar schuf Riemenschneider einen heiligen Rahmen, in dem „sterbliche Akteure ihre ewigen geistlichen Funktionen ausüben konnten“. Die vier Evangelien sind heute im Berliner Bode Museum und nicht mehr in der Magdalenenkirche in Münnerstadt. Das Buch zitiert immer aus den besten Exegesen dieser Kunstwerke, in diesem Fall des Leiters des Bode Museums. Alles konzentriert sich auf das Gesicht des heiligen Lukas: „Die Melancholie des Gesichts, die Haltung der Figur, der Fall der Falten, die Gesten, all das zeigt von der Ehrfurcht vor dem Inhalt des Buches, das er geschrieben hat“ (Julien Chapuis).

Von Riemenschneider wissen wir nicht Geburtstag noch Ort. Er hatte später in Würzburg eine Werkstatt, die bis zu 40 Lehrlinge beschäftigte. Riemenschneider wurde in dieser turbulenten Zeit des Bauernkrieges in Würzburg Ratsherr und 1521 bis 1524 auch Bürgermeister. 1525 erlebte Europa den größten Volksaufstand: den deutschen Bauernkrieg. Die Aufstände waren erbittert und blutig, der Rat öffnete bei der Belagerung von Würzburg die Tore den Rebellen, Domkapitel und Bischof flohen auf die Feste Marienberg oberhalb der Stadt, nachdem die Bauern geschlagen waren, kehrte der Bischof triumphierend in die Stadt zurück. Der Bauernkrieg endete mit fruchtbarer Vergeltung. Luther, der das Evangelium in die Sprache des Volkes übersetzt hatte, war entsetzt, nach welcher Art von Gleichheit die Menschen nun schrien. Anders als in England, Frankreich und Schottland, schreibt der Brite MacGregor, waren die Folge der Reformation für religiöse Kunstwerke, Bilder, Glasfenster in Deutschland nicht so verheerend. Luther hatte wohlwollende Ansichten über die Kunst und ihre Rolle im Gottesdienst.

Diese Kapitel sind immer so gearbeitet, dass man vor Überraschungen nicht sicher ist. Also springt der Autor in diesem Kapitel zu Thomas Mann, der den Nazis bis nach Kalifornien hatte entfliehen müssen, der jetzt in der Libary des US-Congress über Deutschland und die Deutschen sprach. Und dabei erwähnte er einen Mann, dem seine ganze Sympathie gehört: Tilman Riemenschneider: „Nie hatte er gedacht, sich in die hohe Politik einzumischen, es lag das seiner natürlichen Bescheidenheit, seiner Liebe zum freien und friedfertigen Schaffen ganz fern. Er hatte nichts vom Demagogen. Aber sein Herz, das für die Armen und Unterdrückten schlug, zwang ihn, für die Sache der Bauern, die er für die gerechte und gottgefällige erkannte, Partei zu ergreifen.“

Ein solches Erinnerungsbild von Tilman Riemenschneider endet in diesem Buch brandaktuell. Die Bundesrepublik Deutschland setzt das Werk von Riemenschneider stolz auf ihre Briefmarken, als Briefmarken noch was waren. Für die DDR war der Künstler noch bedeutsamer. „Er verkörperte in seinem furchtlosen Engagement für die Freiheit der Armen von Unterdrückung durch die Mächtigen alles, wofür ein Künstler stehen sollte. Also setzte man Riemenschneider auf eine Münze“.  Die Frage nach dem politischen Riemenschneider sei weiter offen. Er lebe mit seiner Kunst von der ruhigen Kraft, die jahrhundertelang kennzeichnend war für die deutsche Frömmigkeit, sichtbar vor allem in den pietistischen Strömungen des Luthertums“. Und das Ganze kann man lesen und immer gleich sich anschauen, auch die Münze und die Briefmarke“.

Das nächste Kapitel ist der deutschen Hanse gewidmet,  Brüder der Ostsee. Beginnt man es, wird man von der Seite von dem Danziger Kaufmann Georg Gize freundlich aber auch berechnend von der Seite angeschaut. Die Hanse war ein Verbund von 90 deutschsprachigen Städten, die nicht nur mit Waren, sondern auch mit Ideen arbeitete. 1669 schrumpfte sie auf 14 Städte. Sie war – fast wie im Europäischen Parlament – ein Bund ohne Verwaltung, ohne Siegel, ohne Statuten, ohne Armee, ohne Flotte. Und dann kommt der schöne Satz, den man der EU in Brüssel, der Kommission und allen Regierungen ins Stammbuch schreiben möchte: „Die Hanse gründete in einer Ökonomie des Vertrauens“. Wäre die EU heute schon so weit, hätten wir weder die Euro- noch die Flüchtlingskrise.

Die Hanse ist auch gar nicht untergegangen, die Autofahrer haben alle noch das H wie Hanse vor den Stadtabkürzungen HB, HH, HL. Freiheit war die Botschaft dieses anarchischen Verbundes. Um 1880 sollen die Kinder in den Schulen gesungen haben: „Hamburg, Lübeck und Bremen, / die brauchen sich nicht zu schämen / denn sie sind eine freie Stadt, / wo Bismarck nichts zu sagen hat“.

Man kann an diesem großen Bild-Wort-Buch auch erleben, wie eng die kulturgeschichtlichen Beziehungen der Deutschen zu den Briten sind. Auch wie interessant der Gesichtspunkt eines Briten auf die Eigenheiten und Mentalitätsbrocken der Deutschen ausfallen. Immer und immer wieder berichtet er, was alles im British Museum seine vorläufige oder endgültige Heimstatt gefunden hat. Das 17. Kapitel lässt uns miterleben, was der Künstler Alfred Dürer für die Deutschen gewesen ist. Das Kupferstichkabinett des British Museum besitze viele Stücke, die dieses Zeichen AD tragen. Dürer sei DER prägende Künstler Deutschlands. Er war ein neuer Typus von Künstler, sichtlich voller Selbstbewusstsein, der erste große Künstler Europas, der viele Selbstbildnisse malte. Dürer war auch ein guter Geschäftsmann, denn er verkaufte seine Werke in ganz Europa und nutzte die Vertriebskanäle, über die sich das gedruckte Wort verbreiten konnte. Man begreift die Wirkung der Vier apokalyptischen Reiter, die Apokalypse erschien 1498. Die Zeit zitterte wieder dem Jahr 1500 entgegen, an der Jahrhundert-Wende war wieder mal das Weltende, die Endzeit zu erwarten. Die Apokalypse war ein Kassenschlager, die Drucke verkauften sich so blendend, bis sie Dürer ein Einkommen bis an sein Lebensende verschafften. Das Kapitel über die Geburt der Druckerkunst ist für die Welt und für Deutschland auch wichtig. Der Autor meint, selbst heute trotz der digitalen Kommunikation beherrscht das Buch die Art, wie wir unsere Gedanken organisieren. Selbst wenn wir einen Text auf dem Bildschirm unserer Tablets lesen, blättern wir ungeduldig zur letzten Seite um zu erfahren, wer ihn geschrieben hat.

Man kann das Buch nur loben, wie es die unverbundenen und doch verbundenen Kapitel eines nach dem anderen setzt und uns Deutschen immer wieder neu sagt: Ja, das sind wir, so sind wir, so sind unsere Stärken, aber auch unsere Schwächen. Flexibilität, was die Kanzlerin jetzt anmahnt, hatte der Eiserne Kanzler Bismarck nicht. Wunderbar das Kapitel über das Meißener Porzellan, als Geschenk ein Vorrecht der Herrschenden. Die immer wieder beschworene Würdigung der Qualität von Metallarbeiten ergibt ein Kapitel bis hin zu der Apotheose deutscher Wertarbeit in der Automobilindustrie. Der Mythos vom Käfer, den Ferdinand Porsche erfand, der eben dann wegen der Dummheit der Nazis (neben all ihren Verbrechen) nicht mehr in Kriegszeiten zur Geltung kam, sondern erst 1945 bis 2003. Noch vor den Automobilen war es die Taschenuhr, die wahrscheinlich Peter Henlein in Nürnberg erfunden hatte, wofür er auch als Monument in die Walhalla kam.

Das Kapitel „Die Wiege der Moderne“ macht noch mal bekannt mit der überwältigenden Wirkung, die das Bauhaus von Walter Gropius national wie international hatte. Die Bronzeplatte für die Fassade des Deutschen Nationaltheaters Weimar hatte Gropius entworfen. Das Bauhaus Manifest hatte bis in die USA rauschende Erfolge, nur Deutschland versackte in der Weimarer Republik und kam aus eigener Kraft nicht mehr hoch. Das Bauhaus, so der Yale Professor Michael Craig-Martin habe nicht bloß überlebt. „Das wahre Erbe des Bauhauses ist Ikea. Ikea ist alles, wovon das Bauhaus geträumt hat. Massenproduktion einfacher Dinge in gutem Design, preiswert hergestellt für ein großes Publikum“. 

Dann kommt das überragende Kapitel über die Käthe Kollwitz, die „das Genie von Helmut Kohl“, so der britische Autor, nach Berlin brachte. Sie hatte sehr viel gemein mit Heinrich Böll, der nicht mehr vorkommt. Ihr Mann war Armenarzt auf dem Prenzlauer Berg, sie schrieb: „Als ich Frauen kennenlernte, die Beistand suchend zu meinem Mann kamen, erfasste mich mit seiner ganzen Stärke das Schicksal des Proletariats… Dies will ich noch einmal betonen, dass anfänglich in sehr geringem Maße Mitleid, Mitempfinden mich zur Darstellung  des proletarischen Lebens zog, sondern dass ich es einfach als schön empfand“. Fast wünschte man als Leser, das Buch könnte mit dem Testament der am 22. April 1945 in Königsberg gestorbenen großen Künstlerin unseres Jahrhunderts enden. Ihr Verhältnis hat sie produktiv beschrieben zu dem, was damals die Heilsbotschaft war. „Wäre ich jetzt jung, so wäre ich sicher Kommunistin, es reißt mich auch jetzt noch was nach der Seite. Ich bin entsetzt und erschüttert von all dem Hass, der in der Welt ist, ich sehne mich nach einem Sozialismus, der die Menschen leben lässt und finde, vom Morden, Lügen, Verderben, Entstellen, kurzum allem Teuflischen hat die Erde jetzt genug gesehen. Das Kommunistenreich, das darauf aufbaut, kann nicht Gottes Werk sein“. Aber es kommen noch die unvermeidlichen Kapitel „Am Tor von Buchenwald“, “Vertriebene Deutsche“ und „Die neuen deutschen Juden“.

Wie wohltuend der Blick auf die deutschen Verhältnisse während und am Ende des Krieges dem Briten gelingen, zeigt das Vertriebenen Kapitel, in dem der Autor seinen Weltkriegspremier Churchill zu kritisieren wagt. Das Kapitel zitiert die unglaubliche Formel des Potsdamer Abkommens: Die drei Regierungen stimmen darin überein, dass jede Überführung der deutschen Bevölkerung „oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, …in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll“. MacGregor zitiert Churchill, der noch von einem „sauberen Schnitt“ faselte anstelle eines „Bevölkerungsgemischs, das nur endlose Probleme mache. „Dieser saubere Schnitt war nicht sehr sauber: Die Vertreibung kostete, wie geschätzt wird, über zwei Millionen Tote“. Fast alle Flüchtlinge konnte nur als ihre Habe  mitnehmen, was auf einen Handkarren passte.

Der Autor erwähnt die verhängnisvolle Rolle der deutschen Politik und des Bundes der Vertriebenen, anzunehmen, es könne eine Rückgabe von Land und Eigentum erreicht werden. 1970 setzte Willy Brandt den ersten, Kohl bei der Wiedervereinigung 1990 den letzten endgültigen Schlusspunkt. „Deutschlands Ostgrenzen sind heute friedliche Grenzen innerhalb Deutschlands“.  Das Kapitel „Wiederbeginn“ macht damit vertraut, was wir alle zu Unrecht vergessen haben, nicht mal die Frauenbewegung in Deutschland erinnert: Die Stunde der Frauen und Mütter, der Trümmerfrauen, die damals dafür sorgten, dass Deutschland wieder aufgebaut wurde. Zwischen 1945 und 1946 verpflichteten die Alliierten im Westen und Osten Frauen zwischen fünfzehn und fünfzig, sich an den Aufräumarbeiten der Nachkriegszeit zu beteiligen. Eine junge damals 18-jährige Helga Cent-Velden hat der Autor gefragt nach den Erfahrungen mit dem „Enttrümmern“ in der Berliner Potsdamer Straße.

Das größte deutsche Wunder erreichte wiederum Helmut Kohl, als er die nach dem Zerfall der Sowjetunion herausströmenden Juden in Deutschland herzlich aufnahm. Es waren 200.000. Das Kapitel erinnert noch mal an die Hochzeiten der deutschen Juden, bis zu Friedrich dem Großen und seinem Satz, dass die „Unterdrückung von Juden noch keiner Regierung Wohlstand gebracht“ habe. Das Kapitel erinnert an den Frankfurter Juden Amer Amschel Rothschild, der dort in den 1760ern sein Bankhaus gründete. Er schickte seine fünf Söhne aus, einer blieb in Frankfurt, die vier anderen gründeten Banken in London, Paris, Neapel und Wien. Das Kapitel schließt: Die Juden in Offenbach sind „zurück auf der Straße“, sichtbar für die Nation. die sie aufnahm. 70 Jahre nachdem die Endlösung in Gang kam, haben sich einige hunderttausend Juden entschlossen, „ihre befreiten Länder in Osteuropa zu verlassen und in dem Land zu leben, das sie einmal hatte vernichten wollen.“

Das Buch schließt mit einem Blick auf Barlachs Engel und den Reichstag. Barlachs wunderbarer Engel – in dessen Gesicht man Züge von Käthe Kollwitz entdecken kann – wurde auf Anweisung der NS-Behörden am 23. August 1937 aus dem Güstrower Dom entfernt. Die Skulptur wurde nach Schwerin gebracht, wo sie von Nazis eingeschmolzen wurde. Barlach starb im Oktober 1938. Der Autor erzählt die interessante Geschichte, wie der Engel gerettet wurde. Nach der Beseitigung des Engels spürten Freunde Barlachs eine Gipsform auf, die der Künstler für den ersten Abguss gefertigt hatte und die sich noch immer in der Gießerei befand. Die Freunde machten einen zweiten Abguss. Die Gipsform wurde bei einem Bombenangriff zerstört, aber der zweite Bronzeabguss in einem Dorf bei Lüneburg versteckt. Nach dem Krieg ging es auch um kommerzielle Fragen. Wo sollte die Bronzestatue hin? Güstrow lag im Osten, Lüneburg im Westen. 1951 kam nach langem Verhandeln der Engel in die Antoniterkirche in Köln. Dort hängt er noch heute. Auf der Platte im Fußboden steht nicht mehr 1914-1918, sondern 1933 bis 1945. Die DDR-Führung hatte an dem Pazifismus des Engels von Barlach wenig Interesse, sagte dann aber 1953 zu, dass eine Kopie des Kölner Gusses hergestellt und die dritte Inkarnation von Barlachs Bronzeengel im Dom von Güstrow wieder aufgehängt wurde.

Am 13. Dezember 1981 besuchte der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt bei einem offiziellen Besuch in der DDR den Dom in Güstrow zusammen mit Erich Honecker und dem mecklenburgischen Landesbischof. Helmut Schmidt sagte damals, was für die Deutschen auch heute und morgen gilt: Barlach sei unsere gemeinsame Erinnerung, unsere gemeinsame Vergangenheit, aber „ich möchte das etwas anders wenden und sagen: Er kann auch unsere gemeinsame Zukunft sein“.  Ganz am Schluss kann MacGregor nicht anders und den wunderbaren, für alle Deutsche wegweisenden Text von Walter Benjamin zitieren, den er im Exil in Paris über den wunderbaren „Angelus Novus“ von Paul Klee, wieder einen Engel geschrieben hatte. Der Engel möchte die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm wehte vom Paradiese her, der so stark ist, dass der Engel die Flügel nicht schließen kann. „Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm“. Prophetische Sätze zu einem Bild von Paul Klee, der Ende Juni 1940 in der Schweiz starb als Frankreich überrannt wurde. Drei Monate später hat sich Benjamin auf der Flucht über die spanische Grenze aus Furcht, er würde zurückgeschickt, das Leben genommen.

Das Buch ist wie ein Vermächtnis für uns alle, das nicht zu vergessen. Und uns der Zukunft mit diesem Vermächtnis und diesem Schwur, es zu solchen Verbrechen wie dem Holocaust nie wieder kommen zu lassen, zuzuwenden.

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Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

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