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Die granulare Gesellschaft

Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst. Unsere Einzigartigkeit ist vorbei. Zu der Entwicklung der granularen Gesellschaft. Von Rupert Neudeck

Dieses Buch von Christoph Kucklick macht uns deutlich: Wir stehen vor einer Wende nicht nur unserer alltäglichen Verhaltensweisen, wir sind auch zum ersten Mal seit Sigmund Freud wieder dabei, unser Mensch-sein, unser vermeintlich einzigartiges Menschsein zu ent-mythologisieren. Das ist ein Prozess, der weit über die Entmythologisierungen einzelner religiöser Verkündigungen hinausgeht. Denn er geht uns alle als Menschen an. Das vom Autor sogenannte granulare Zeitalter fordert uns zu einschneidenden philosophischen Erkenntnissen und Rücknahme klarer, feststehender Dogmen auf.

Die alten Sätze, die wir auf der Schule und später auswendig kannten und lernten, sind nicht mehr gültig: „Nur Menschen können Schach spielen“, das dachten wir wäre schon der Höhepunkt, als wir von dem Sieg des Computers über den Weltmeister Kasparow erfuhren. Aber es gibt weitaus mächtigere Sätze, die wir zurücknehmen müssen: Nur Menschen können Gesichter erkennen. Nur Menschen können Sprache verstehen. Nur Menschen können Auto fahren. Und auch der Satz gilt nicht mehr: „Nur der Mensch kann mathematische Beweise erzielen und überprüfen“. Der Mensch (oder der Mann, wie der Autor in seiner Begeisterung falsch sagt) bewohnt die Kammer der geplatzten menschlichen Einzigartigkeiten. Noch klarer: Die Kammer der Kränkungen.

In den letzten Jahrzehnten sind diese Kränkungen immer schneller zu alltäglichen geworden. Man hatte uns gesagt auf der Schule, dass wir – oder pathetischer: der Mensch – ins Anthropozän eingetreten seien, also in der Zeitalter, in der der Mensch der wichtigste Einflussfaktor auf der Erde ist. Der Mensch formt die Natur. Doch je mehr der Mensch die Welt nach seinen Bedürfnissen formt, desto mehr relativiere und reduziere er seine Einzigartigkeit. Die Sätze die beginnen: „Nur wir Menschen…“ werden weniger und seltener.

Nur gibt es natürlich eine Menge Probleme. Der Pilot der Flugmaschine, die der Autopilot verlässt, ist kaum noch dazu in der Lage, die Maschine sicher und manuell zu einer Landebahn zu bringen, wie wir als Flugpassagiere erschreckend erfahren. Im Bereich der Wissenschaften werden uns bald Theorien vorgelegt aller Fachbereiche, die „wir nicht mehr begreifen, neue Kosmologien, Aufschlüsselungen des menschlichen Erbguts, mathematische Theorien der Gesellschaft, der Autor zitierte einen Ökonomen: Die Wissenschaft werde undurchschaubar sein und deshalb immer mehr wie Religion oder Magie aussehen. Das geht bis dahin, dass wir Abschied nehmen sollen von einer liebgewordenen Erfahrung: dass nämlich unser Erkenntnis und Politik-fortschritt bisher gemessen wurde an der Aufklärung und an Immanuel Kant. Der Mensch ist das einzige Wesen, das wollen und das moralische Gesetz in sich als vernünftig erkennen kann. Und er kann sich allein das Bewußtseins einer Existenz durch das Denken sichern. Aber e s kann sein, dass wir Immanuel Kant verabschieden müssen.

Es sind wuchtige, selbstbewusste Kapitel eines der wenigen Forscher, die das Gebiet überschauen, in das wir alle mit wenig Widerstand hineinsteigen. Wer kann sich noch den Widerstand leisten? Wer kann sich nicht leisten als Schriftsteller, seine Texte mit der Hand zu schrieben und sie so an einen Verlag weiterzureichen und das noch mit der altmodischen durch Streik erschütterten Dampfpost? Wer kann als Journalist sich erlauben, dass er noch Artikel auf seiner Olivetti schreibt? Kaum jemand. Der Rezensent besinnt sich, dass ihm vor 15 Jahren der Chefredakteur einer Tageszeitung anbot, seine Artikel als handschriftlich oder maschinenschriftlich einzureichen, die würden selbstverständlich genommen. Ich fürchte, dass es das nicht mehr gibt.

Die granulare Gesellschaft ist die, in der das Digitale unsere altbekannte Wirklichkeit auflöst. Das geht dann los mit der Differenzrevolution oder: Warum wir seltene Gehirne und Körper bekommen. Dann taucht der Autor in die zweite, die Intelligenz-Revolution ein und benennt den Preis, den wir dafür bezahlen. Dann steigt er in die Kontrollrevolution ein, die beweist, wie wir uns „vorhersagbar machen lassen“.

Das Kapitel die überforderten Institutionen ist das aufregendste. Denn der Autor bestätigt, durch das eigene Beispiel, dass es die selbstfahrenden Autos geben wird. Wie kann die Ethik eines selbstfahrenden Autos aussehen? Sollten alle Autos automatisch fahren, könnten sie untereinander kommunizieren und die Probleme alle selbst lösen. Aber im Mischverkehr Mensch und Maschine, muss das Auto ‚lernen‘, sich ein bisschen wie ein Mensch zu bewegen. Je mehr die Automation der Autos vorangeht, desto mehr spüren die Ingenieure, dass sich die Autos eigentlich wie Menschen verhalten müssen. Das sei eine der großen Ironien der Entwicklung. Die Maschine  verlange eine Art „Soziale Programmierung“.

Und der Autor macht alles ans ehr prägnanten Beispielen klar: Fährt ein selbstfahrendes Auto z.B. an eine Vier-Wege Kreuzung ist es wahrscheinlich, dass es ohne menschlichen Eingriff da gar nicht weiterkommt. Warum? Weil sich die Maschine genau an die Straßenverkehrsordnung hält, das macht kein Mensch. Wir schieben unser Auto nah in die Kreuzung hinein, um zu signalisieren, dass wir fahren wollen und sind aggressiver als das Recht es uns erlaubt.

Aber es geht noch weiter: Diese digitale Revolution beschert uns eine neue Ontologie. Der Satz von Rene Descartes macht keinen Sinn mehr: Ich denke, also  bin ich. Heute müsste man sagen: Ich bin online, also bin ich. Es gibt eine gemeinsame Welt von Menschen und Dingen. Die neue Ontologie ist die OOO, das ist die „Objektorientierte Ontologie“. Die Denker der OOO halten dafür, dass es keine „Wesensunterschiede mehr gibt zwischen Menschen und Dingen“.

Alle machen dasselbe: sich verbinden, aufeinander wirken. Die einen mehr (=Menschen), die anderen weniger (=Ziegelsteine, es gibt keine prinzipielle Differenz. Wenn Pegida dagegen in Dresden gekämpft hätte, hätte man diese Menschen-Demonstranten noch verstehen können. Denn das ist das erklärte Ende allerbisherigen Philosophie, von Pythagoras-Sokrates bis Habermas-Sloterdijk. Es ist wie die enorm verbreiterte und verstärkte Entthronung des Menschen, wie er in der Freud-Entdeckung schon seinen Königssitz in der Welt verlor und weit vorher schon in der Entdeckung von Kopernikus, dass sich nicht alles um unseren Planeten Erde und damit um die Menschheit dreht. Der Menschen verliert seinen angestammten Platz als König der Welt  Alles wird anders. Der Autor zitiert die Bewerbungen bei Google. Der Personalchef Laszlo Bock verzichtet auf das wichtigste Signal er Qualität bei einem Bewerber: die Abschlussnote im Studium. Er sagt: Es gäbe keine Verbindung zwischen Studienerfolg und Leistung im Job. Auch Akademiker sind lange nicht mehr so gefragt wie früher.

Der größte und anspruchsvollste Technologiekonzern der Welt mit mehr als 50.000 Angestellten verzichtet auf formale Bildung. Auch auf Fachkenntnis. Nicht-Experten gelänge es viel besser, neue Lösungen zu finden. Was ist eine granulare Begabung? Sie erfordert keinen Doktorgrad, sondern „eine gesteigerte Irritierbarkeit, um sich von Dingen und Situationen anregen zu lassen. Noch klarer: „Die Irritation durch den Kommunikationsüberschiss auszuhalten und kreativ zu wenden, ist die neue Kernkompetenz“. Die neue Verpflichtung aus der „Granularität“, wie der Autor das nennt, heißt: Es gäbe so viele Bücher. Und wir hätten so wenig Zeit. Es sei nicht die ethische Verpflichtung, sie alle zu lesen, sondern jeden Weg durch das Archiv der Bücher al wichtig anzuerkennen“.

Es klingt fast theologisch: Die neuen Fans und Follower der granularen Gesellschaft sind verliebt ins Scheitern. Wie sagte Buber: „Erfolg ist keiner der Namen Gottes“. Es finden failure conferences statt seit 2009, die schwelgen in der positiven Macht des Scheiterns und feiern die Kämpfernatur des Menschen. Bei den FailCons treten höchst erfolgreiche Menschen auf, „Musterschüler des Scheiterns gleichsam“. Erfolg und Scheitern seien immer schlecht voneinander zu unterscheiden. Und – gegen Ende des Buches meint der Autor pathetisch, obwohl Pathos gar nicht dazugehört: Der Stolz der Moderne bestand Sarin; jemand bedeutendes zu sein. Der „Stolz der granularen Gesellschaft besteht darin, immer wieder ein anderer sein zu können, ohne sich dabei zu verlieren“. Der Autor nennt das eine „verteufelt anspruchsvolle Haltung“. Man darf die Bedeutung dieser Revolution nicht unterschätzen. Schüler verbringen bis zum Abitur rund 3000 Stunden im Unterricht – und 10.000 Stunden mit Videospielen. Jeden Tag spielen (circa) eine halbe Milliarde Menschen mindestens eine Stunde lang Online Siele, alle Menschen kommen zusammen auf rd. Drei Milliarden Stunden – pro Woche.

Der Autor ist grenzenlos positiv in der Einschätzung der Möglichkeiten durch die digitale Revolution. Er verknüpft das mit den Ergebnissen der Demoskopie, die uns sagt, dass die Empathie im 21. Jahrhundert eine steile Karriere nach oben gemacht hat. „Gier ist out, Empathie ist in“, schreibt der Verhaltensforscher Frans de Waal. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Was wir noch nicht wissen ist, wie weit uns die digitale Welt von den Freunde der Begegnungen, d er Freundschaft, der Begeisterung für eine kollektive politische Bewegung entfernt.

Wenn ich ein Pärchen in der Bahn nebeneinander sitzen sehe, eine, zwei Stunden und die sind nur mit ihren smartphones beschäftig und reine Monaden im leibnizschen Sinne, und die höchste Kommunikation zwischen den beiden findet dadurch statt, dass sie sich gegenseitig mal ein Selfie vorhalten mit ihren Smartphones, dann werde ich unsicher, ob die neue heranwachsende Generation „unberechenbar empathisch sein wird. Und ob sie nicht von „World of Warcraft“ entscheidende Schäden mitabbekommt, die sie von dem Ziel des „ewigen Friedens“ und der Suche danach abbringt.

Auch weiß ich nicht, ob es nur positiv ist, dass jeder jetzt schreiben kann, wieviel er will. Die Revolution des Schreibens findet in der Tat statt. Weltweit schreiben wir rund 200 Milliarden Emails pro Tag, auf Facebook werden in den USA allein täglich 16 Milliarden Worte veröffentlicht. Aber wozu?

Was geschieht mit den Konflikten in der arabischen Welt, mit den 22 Millionen Syrern. Mit den an der Küste Nordafrikas gestrandeten Millionen junger Afrikaner? Sie werden nicht von 500 Millionen Tweets gerettet, sondern durch hart zupackende junge Matrosen und Helfer, die sie auf dem Mittelmeer finden. Auch kann man annehmen, dass große Literatur in der granularen Gesellschaft nicht mehr vorkommt und entsteht. Oder nur bei Leuten wie dem verstorbenen Günter Grass, der sich in seine Eremitage in Behlenburg zurückzog, wo es kein Handy, kein Telefon, kein Computer, kein Smartphone geben durfte.

Christoph Kucklick „Die granulare Gesellschaft – Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst“

Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

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