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Carl Hanser Verlag | Wolf Lepenies

© Carl Hanser Verlag | Wolf Lepenies

Die Macht am Mittelmeer

Frankreichs Uhren gehen anders. Zu einer französischen Politik-Konstante: LATINITÄT. Von Rupert Neudeck

Vor vielen Jahren gab es ein Buch des Schweizer Historikers Herbert Lüthy, das im Titel genau das ausdrückt, was der neue Versuch von Historiker Wolf Lepenies über die Macht am Mittelmeer sagen will: „Frankreichs Uhren gehen anders“.

Wer voller Traurigkeit auf die jetzigen Trümmer der Europäischen Union blickt, der sollte zusätzlich dieses inhaltsreiche Buch des Historikers Wolf Lepenies lesen. Es zeigt, wie wir uns durch die Jahrzehnte seit dem zweiten Weltkrieg haben einlullen lassen von den Bekenntnissen der „amitie franco allemande“, während das französische, in der eigenen Geschichte gestählte Bewusstsein immer noch von einer eigenen Machtstellung innerhalb der EU ausgeht und ausgehen muss. Alle Kapitel machen uns mit dieser nicht geänderten und auch nicht leicht zu ändernden Haltung französischer Gloire und der Rolle in der Kolonialzeit vertraut. Lepenies macht uns vertraut mit einer Geheimfigur der französischen Geistesgeschichte Alexandre Kojeve.

Nach dem Kriege erst wurde dieses Manifest von Kojeve gefunden, in dem der Ausdruck „L’empire Latine‘ eine fundamentale Rolle spielt. Während die Staaten des Nordens ihre Erweiterung in den osteuropäischen Raum vollziehen, sollen das die Staaten des Südens, natürlich an der Spitze Frankreich, in den Raum der Mittelmeerländer vollziehen. Lepenies macht schon zu Beginn klar, dass es die von Sarkozy mit Verve angestrebte „Union Mediterraneenne“ nicht geben sollte, auch wenn es ein Wurmfortsatz der ursprünglichen Idee mit Sitz in Barcelona gibt. Kanzlerin Merkel hatte klug ihr Veto eingelegt.

Aber dieses Manifest von Kojeve enthält alle Idiosynkrasien französischer Politik bis heute. Interessanterweise wurde es im Moment der deutschen Wiedervereinigung in Paris zum ersten Mal veröffentlicht: „Als Zeichen des Protestes gegen die Dominant Deutschlands in einer sich nach Mittel und Osteuropa ausdehnenden Europäischen Union.“  Man hat vermutet, dass Kojeve – ein Geheimtipp auf dem Parkett der politischen Universität – das Aide Memoire für den General de Gaulle geschrieben hat. Aber genau der verfolgte natürlich nicht das Lateinische Reich, weil er Europa mit und nicht gegen Deutschland aufbauen wollte. Mit wieviel Ideologie diese Vorstellungen immer belastet waren, geht aus allen Kapiteln des Buches hervor: Die Bemühungen von General de Gaulle und Konrad Adenauers bauten auf der Vormacht der Katholischen Kirche auf. Und das war ein Mythos.

Wie weit sich solche Ideen verselbständigen können, zeigt der Artikel des italienischen Philosophen Giorgio Agamben in La Repubblica vom 15. März 2013 mit der Überschrift: „Wenn ein Lateinisches Imperium sich im Herzen Europas formen würde“. Kojeve kam 1928 als Flüchtling aus Russland nach Frankreich. An der Pariser Ecole pratique des hautes Etudes hielt Kojeve sechs Jahre ein Seminar zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“ ab, 1933 bis 1939, an dem die Creme der Pariser Intelligenz teilnahm. Kojeve war sich sicher – und viele französische Politiker bis heute ähnlich: Um lateinische (und katholische) Werte zu bewahren und ihren Einfluss in der Welt zu sichern, musste den verfeindeten Kräften der slawisch sowjetischen und angelsächsischen Imperien ein drittes entgegengestellt werden: Das Lateinische Reich. Kojeve ging nach dem Krieg in die Politik. Vorher war er noch im Widerstand nützlich wegen seiner vielen Sprachkenntnisse. Raymond Aron nannte ihn den klügsten Mann seiner Generation, wusste aber auch nicht hinter die geheimnisvolle Fassade des Exil Russen zu schauen, der sich einen Marxisten von rechts nannte und aller Wahrscheinlichkeit nach für den KGB spionierte.

Das Buch ist entgegen der Ankündigung nicht nach der Chronologie gearbeitet. Denn nach acht Kapiteln geht es zurück zu den Saint Simonisten und dem Mittelmeersystem, dem Krieg von 1870-1871 und dem „Ende der lateinischen Welt. Große Kapitel widmen sich dem geopolitischen Phänomen Lateinamerika und Lateinafrika. Den Großen Krieg, den ersten Weltkrieg fasst Lepenies unter das Rubrum “Lateinische Zivilisation gegen deutsche Barbarei“. Das Buch endet mit der Eloge für Paul Valery und Gottfried Benn und im Schlusskapitel sehr überraschend aber überzeugend mit einer Würdigung des Albert Camus, des zu früh gestorbenen Algerienfranzosen mit seiner Gegenüberstellung von „Pensee e Midi“ gegen die deutsche Ideologie.

Bewegend ist es nachzulesen, wie sich die Bemühungen der beiden großen katholischen Patriarchen Europas entwickelten. Bis hin zur Versöhnung bei einer großen Messe am 8. Juli 1962 in der großen Kathedrale von Reims und bis hin zum 22. Januar 1963 der Unterzeichnung des Elysee-Vertrags. Der Franzose meinte das wirklich als eine „mariage“ wie er sagte. Der kleinkarierte Bundestag bestand darauf, dass dem Vertrag eine Präambel vorangestellt wurde, welche die engen Bindungen der Bundesrepublik mit den USA betonte und sich für die Aufnahme Großbritanniens in die EWG aussprach. Charles de Gaulle war bis zum Tode enttäuscht: „Le mariage n’a pas ete consomme“.  (Die Hochzeit  ist noch nicht angenommen!)

Es sind große weite Kapitel, die uns die Faszination der Latinität oder der lateinischen Welt deutlich machen. Lateinamerika ist schon vom Wort her von dieser Faszination bestimmt. Die Lateinischen Mächte waren ja eben auch nicht immer einträchtig zusammen. Unter der Diktatur von Primo de Rivera (1923-30) war der Begriff natürlich Hispanoamerica. Den Schlüsseltext für diese Phase schrieb jemand, der der Sohn eines baskischen Vaters und einer englischen Mutter war: Defensa de la Hispanidad. Man erhoffte sich eine Wiederbelebung der katholischen Mission, die einst Spaniens Größe  ausgemacht hatte. Nach dem für Frankreich schändlich ausgegangenen Kriege von 1870f verlangte man die Revanche und die Heimholung von Elsass Lothringen. Zur Kompensation wurden die Beschwörungen der lateinischen Brüderlichkeit immer größer von 1880 – schreibt der Autor – bis 1920 „Blickte Frankreich nach Brasilien wie auf eine lateinamerikanische Kopie seiner selbst“. Nun konnte das postkoloniale Brasilien die Lateiner Europas nicht mehr als seine Herren akzeptieren, wünschte sich aber mit ihnen brüderlich zusammenzuleben, um die miteinander geteilten lateinischen Werte der ganzen Welt zu verbreiten.

Paul Adam, so berichtet das Buch, kam 1914 von einer Reise nach Brasilien zurück und berichtete, dass das Portugiesische wie keine andere Sprache dem Dialekt der römischen Legionäre treu geblieben sei. Die Prägekraft der französischen Kultur und Sprache waren für viele Afrikaner einmalig. Leopold Sedar Senghor unterrichtete als Lehrer für Französisch, Lateinisch und Griechisch am Lycee Descartes in Toulon von 1935 bis 1938. Senghor war allerdings wohl in der bewußten Bescheidenheit seines Handelns, Schreibens und Auftretens ein Glücksfall: Er sagte: „ohne jede Hemmung beanspruchen wir Senegalesen, wir Schwarzafrikaner französischer Zunge unseren Anteil an diesem Erbe Roms. Wir kommen zu Euch wie Pflegekinder, welche die lateinischen Werte nutzen wollen, um unsere ‚barbarischen‘  Böden zu befruchten“. Mitten drin in diesem Kapitel erwähnt der Autor schon einmal Albert Camus, für den die römische Ruinenstadt Tipasa so viel bedeuten sollte. Die Versuchung, die Macht und das Gleichgewicht auszutarieren, gegen die Deutschen, gegen die Angloamerikaner, aber für die Lateiner, ist bis heute nicht ganz beendet. Das verbindet sich mit dem Ereignis der Wiederaufnahme der Olympischen Spiele in Athen vom 6. bis 15. April 1896 auf die Initiative des Barons de Coubertin. Die älteste Tageszeitung Frankreichs, die Gazette de France, scheute nicht die Kosten der Reise ihres Sonderkorrespondenten Charles Maurras. Schon in seinem ersten Bericht, als er noch auf dem Schiff war, spricht er in dieser nationalistischen Art von Notre Mer, wenn er vom Mittelmeer redet. Den ersten Wettkampf habe er aber schmerzlich erlebt, schriebt Lepenies, es war der Triumph von drei deutschen Turnern, Maurras: „von zwei oder drei der germanischen Barbaren“:

Das Buch endet mit dem Mittelmeer zur Zeit der europäischen Diktaturen: Und behandelt die Vorstellung von Albert Camus‘ Pensee du Midi und die Deutsche Ideologie. Dieses Kapitel ist eine wunderbare Ehrenrettung des jung verstorbenen Algerien-Franzosen Albert Camus. Am 8. Februar 1937 eröffnete Albert Camus in Algier das neugegründete Maison de Culture, Camus hatte nun seine besondere Form der Sicht auf das Mittelmeer: Der ganze Irrtum, sagte er bei seiner Eröffnung, bestehe darin, „dass man Latinität und Mittelmeer verwechselt und in Rom verortet, was in Athen begonnen hatte“. Es gäbe keinen „Nationalismus der Sonne“. Es könne einen mediterranen Nationalismus geben, keinen Glauben an die Überlegenheit einer mediterranen Kultur. Der Westen habe durch den Nationalismus seine Einheit verloren. Nur durch den Internationalismus konnte sie wiedergewonnen werden.

Das Prinzip dieser Einheit – so formulierte Camus gegen Charles Maurras und andere – sei nicht mehr das päpstliche Rom, sondern der Mensch. Dieser Anti-Latinismus stellte alles auf den Kopf, was die Anhänger der „idee latine“ behauptet und woraus sie ihre politische Führungsrolle für die lateinischen Nationalen abgeleitet hatten. Nichts konnte diesem Camus fremder sein, als eine Weltanschauung, die sich auf die Reinheit einer Rasse gründet.

Camus – so ganz deutlich der Autor im Schlusskapitel – kämpfte gegen die Monopolisierung von Geschichte gegen Natur. In der deutschen Ideologie, die er in den Briefen an den deutschen Freund so nannte, vollendeten sich 20 Jahrhunderte eines vergeblichen Kampfes gegen die Natur im Namen eines geschichtlichen Gottes und einer Heilsgeschichte. Das mittelmeerische Denken, das Camus in dem Text Das Exil der Henelan beschreibt, wurde vom Erben des wahren Griechenlands geprägt und beherrscht, von einer Kultur des Maßes, die der Rationalität wie dem Glauben Platz ließ, ohne die eine gegen die andere auszuspielen.

Camus war ein wirklicher Mittelmeer-Fan und Verliebter, aber er war es nicht gegen andere Konzepte, er pries nur die „pensee solaire“. Bis heute ist es erfrischend zu lesen, wie sich Camus in der Welt Mitteleuropas nicht wohl fühlte. Und es ist für uns Deutsche heilsam das zu berücksichtigen: Er habe zwei Monate in Mitteleuropa verbracht. Er fühlte Unbehagen. „Diese Leute sind zugeknöpft bis zum Hals. Sie hatten keine Ahnung, wie man sich gehen lässt. Sie wussten nicht, was Freude ist, die sich vom Lachen doch so sehr unterscheidet“. Das ganz andere sei das Mittelmeer, „dieser Geruch und dieser Parfüm, das man nicht zu erklären braucht, wir spüren es alle mit unserer Haut“.

Immer wieder wurde die Tüchtigkeit der Deutschen, die wirtschaftliche Macht, die Größe der Bevölkerung, die gute Organisation des Lebens in Frankreich scheel angesehen. Der Autor zitiert in seinem Nachwort noch das Buch von 1949 – das erste Buch über uns Deutsche von Henri Massis, mit vielen Zitaten von Nietzsche und Ernst jünger. Es gibt immer wieder Angst vor Deutschland. So hat dieser Deutsche Angst vor den Sozialdemokraten unter Führung von Kurt Schumacher. Sie geben zu verstehen, dass sie die Demokratisierung nur mitmachen mit den Alliierten, wenn diese garantierten, die Einheit Deutschlands zu bewahren. Wahrlich, Frankreichs Uhren gehen immer noch anders. 

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Quelle

Rupert Neudeck 2016Grünhelme 2016

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