Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent
Transformation: Stunde Null oder Sieg des Neoliberalismus? Zu einer Studie von Philipp Ther. Von Rupert Neudeck
Das Buch beginnt mit einer dramatischen Begebenheit, die der Autor 1990 in Budapest miterlebt hat. Es war schon die Mauer gefallen, und es gab am Eingangstor zum Campingplatz zwei große Schlangen und zwei Schalter. Und es gab eine große-lange und eine kurze Menschenschlange. In der langen Schlange warteten Deutsche, die sächsisch sprachen, die mit leeren Händen dastanden und böse blickten. In der kurzen Schlange standen auch Deutsche, aber sie waren so angezogen wie eben Deutsche aus Westdeutschland und hielten D-Mark-Scheine in den Händen.
Der Autor erinnert sich, als Teenager dabei gewesen und peinlich berührt gewesen zu sein, an der Hand des Vaters die lange Schlange zu überholen. Der Autor bekam damals erklärt, dass man in dieser Schlange mit D-Mark zahlt und dafür sofort einen Standplatz mit Zelt und Auto erhält. – während die Menschen in der Ost-Schlange mit ihrer Ost-Mark noch lange warten und am Ende sehen mussten, ob es überhaupt noch Plätze geben würde.
Das ist aber nur das lockere Vorspiel für eine harte Lektüre, die voller wichtiger und manchmal schwer zu verdauender Einsichten ist, weil sie auch mit Vorurteilen und Einsichten konkurriert, die wir seit Kindesbeinen mit uns herumschleppen. Die Transformation hat sich mit unweigerlichen Schocktherapien durchgesetzt, die unterschiedlich auf diese Gesellschaften einschlugen. Manchmal auch mit „Schocks ohne Therapie“, wie ein polnischer Wirtschaftsminister sagte. In Polen gab es aus taktischen Gründen schon ein marktwirtschaftliches Fenster in der kommunistischen Zeit (unter Generalsekretär Edvard Gierek), die Polonia Unternehmen mit nicht weniger als 80.000 Beschäftigten, die schon ein wenig Neoliberalismus lernen konnten. Polen und besonders die Tschechoslowakei waren ja auch geübt im demokratisch-parlamentarischen Spiel aus den Jahren zwischen den Weltkriegen.
Es sind drei Gestalten, die immer wieder auftauchen. Die beiden Musterknaben der neoliberalen Phase waren eben Polen mit der „Schocktherapie“ des damaligen Wirtschaftsministers Leszek Balcerowicz und Vaclav Klaus mit der „Marktwirtschaft ohne Attribute“. Diese beiden vertraten diese Politik nicht nur wegen ihrer persönlichen Überzeugungen, sondern „zielten vor allem auf die internationale Arena, wo Abweichungen von den Vorgaben des IWF und der Weltbank, man denke nur an den strikten Mieterschutz in Tschechien, lieber nicht erwähnt wurden“. Vaclav Klaus kommt gerade wegen seiner pragmatischen Haltung gut weg in dem Buch, weil er es eben als Ökonom verstand, die Bürger seines Landes durch Wohnraum-Zwangsbewirtschaftung nicht verhungern zu lassen. Der direkt von außen hineinsprang und dessen Ruf nicht so gut klingt nach vollbrachter Schock-Arbeit war Jeffrey Sachs, der Harvard Ökonom, der zumal in Russland sehr viel Unheil anrichtete.
In dem Nachbarland Tschechiens, der Slowakei gab es auch große Erfolge, zumal mit einer Steuervereinfachung und -Senkung, die mit der EU-Erweiterung zusammenhing. Es kam zu einer bitteren Umverteilung von unten nach oben. „Während der reduzierte Mehrwertsteuersatz für Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs abgeschafft wurde (das waren dann Preissteigerungen von 5 Prozent und mehr) bezahlten die Spitzenverdiener weniger Steuern.“ Dann kam es noch zu drastischen Einschränkungen der Sozialleistungen. Davon waren vor allem die zahlreichen Roma betroffen. Sie wagten 2004 einen kurzen vergeblichen Aufstand in der Ostslowakei, plünderten Geschäfte und griffen staatlichen Einrichtungen an. Erfolg, wenn man das dann noch sagen kann: Die Slowakei produziert heute, gemessen an der Einwohnerzahl des Landes, „in neu errichteten Fabriken mehr Autos als jedes andere Land der Welt“. Dagegen hatte die Flat Tax in Russland und der Ukraine weder einen Aufschwung noch einen Investitionsschub zur Folge.
Der Autor versucht einen Weg, nicht nur in die Fallstricke des Neoliberalismus zu tapsen. Die Nomenklatur aber behält er bei, die mit der gebieterischen Tina (There Is No Ad Oma lternative)-Semantik der Neoliberalen gesetzt war. So überschreibt er ein Kapitel auch mit dem Unwort Humankapital, ein Wortungetüm, das verboten gehört. Interessant ist, wie durch in Deutschland kaum noch zu erwartende Anstrengungen von Firmen Gesellschaften im Verein mit Betriebsträten und Gewerkschaften sich die Produktion in Ostmitteleuropa erweitert hat. Er beschreibt zwischendurch das Erlebnis des Besuches 1996 einer Gruppe deutscher Studenten der SPD-Stiftung Friedrich Ebert im Skoda Hauptwerk in Mlada Boleslav. Die Erwartung waren Klagegesänge der Betriebsräte über die schlechten Gehälter und die Arbeitsbedingungen. Immerhin betrugen die Facharbeiterlöhne bei Skoda Mitte der 90er Jahre umgerechnet 500 Euro, die Arbeitszeiten waren im Schnitt länger als in Deutschland.
Doch die Debatte ging ganz anders als erwartet. Die sichtbar zufriedenen Betriebsräte wollten nicht über Löhne und Arbeitszeiten reden, sondern das brandneue Produkt von Skoda präsentieren, einen teilweise von den eigenen Ingenieuren entwickelten Mittelklassewagen; betonten voller Stolz die Vorzüge des Octavia, der auch bald seinen Siegeszug antrat. Sie betonten abschließend, in ihrer Fabrik wäre der Ausschuss geringer und die Arbeitsdisziplin höher als im VW-Stammwerk in Wolfsburg. Der Autor beschreibt zu Recht den nationalen Mythos des tschechischen „inzenirstvi“, die Tschechen galten schon vor dem Weltkrieg als Nation der Techniker und Tüftler. Sie präsentierten das neue Modell, der neue Eigentümer von Skoda ließ klug Betriebsräte und starke Gewerkschaften zu. Das alles funktioniert nicht in Russland und in der Ukraine, wo die Oligarchen sich verdammt breitmachten. Auch Michail Chodorkowski und die später ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko waren hardcore Oligarchen. Reichtum ergab sich durch Produktion und Handel mit Computern und Unterhaltungselektronik.
Spannend noch mal, wie unterschiedlich sich die Völker und politischen Eliten auf das Transformations-Aufgabe einließen. In dem langen reichen Kapitel über die unterschiedlichen Entwicklungen der osteuropäischen Metropolen kommt das gut zum Ausdruck. Berlin – beiläufig gesagt – kommt am schlechtesten weg. Eine Mischung aus wenig beherzter Politik unter Wowereit, eine Gefühlslage und viele Vorurteile gegen andere Fremde aus Osteuropa haben die Stadt sich nicht annähernd so entfalten lassen wie der Autor das am Beispiel der Boomtown Warschau belegt. Auch Wien kommt besser weg als Stadt am ehemaligen Eisernen Vorhang. Der Stil des Autors ist berückend, bei aller Fachkenntnis versäumt er nicht, das große Kapitel über die Entwicklung der ostmitteleuropäischen Metropolen mit einem Text von Wolf Biermann einzuleiten, der nach dem Mauerfall West- und Ost Berlin ironisch verglichen hat: „Der Westen ist besser/Der Westen ist bunter/ Und schöner und schlauer/ Und reicher und frei… Der Osten ist schlechter /Der Osten ist grauer/Und klein sind die Chancen/Und groß ist die Not“. Das Graue lag auf den Städten in der Zeit der Kommunistischen Machtphase. Das lag an den ausgedehnten Plattenbauvororten und dem „heruntergekommenen Zustand der Altbauviertel“. Es gab noch andere Gründe für dieses Grau. Für die Renovierung der Altbauten standen kaum Mittel und Baumaterial bereit. Dazu kam die ökologische Katastrophe, der Ruß der Kohleheizungen, die Abgase der antiquierten Automotoren.
Es entwickelten sich nach der Maueröffnung unglaublich vielfältige übernationale Basare und Märkte. Es gab den Berliner Polenmarkt am Reich-Pietschufer, es gab den Warschauer „Jarmark Europa“. Es gab auch immer alte nationalistisch verblödete Politiker wie Jörg Haider in Österreich, die diese Märkte verfolgten und kriminalisierten und die Gefahr für uns Westler aus dem Osten signalisierten. Da waren dann für Haider die kriminellen Neigungen und Veranlagungen der Osteuropäer. Im Frühjahr 1990 erreicht der Osteuropamarkt auf dem Mexikoplatz seinen Zenith und wurde dann bei einer Razzia kleingestuft. Der österreichische Zoll fand so gut wie nichts, die beschlagnahmten Schmuggelwaren wogen 4,2 Tonnen, die Schmuggler mussten 50.000 Schillinge zahlen – das war‘s, aber der Markt war hin. Der Autor resümiert die Entwicklung positiv für Warschau: Diese Freiluftbasare sind interessant, weil sie den unterschiedlichen Umgang mit den Chancen der Transformation und hier konkret der Grenzöffnung belegen. „Während Warschau den beginnenden Boom voll für sich nutzte, auch um den Preis bürokratischer Kontrollverlusts, war sich das wiedervereinigte Berlin zu fein für derlei Geschäfte“.
Das Buch lebt von der polyglotten Kenntnis der Szene. Genial rief die polnische Wochenzeitung Polytika dazu auf, literarische Texte zur Privatisierung einzusenden. Die Resonanz war riesig, die Zeitung druckte ganze Seiten mit der „Poesie der Privatisierung“. Das Buch enthält einen Limerick „Ein Mädchen in voller Verzweiflung / gab sich hin der Privatisierung / Doch sie macht sich keinen Kopf daraus / so kam eine Einpersonengesellschaft heraus“. Es begann eine Mittelschicht zu wachsen, die Jahreseinkommen in der Stadtbevölkerung ging auf die Höhe zwischen 8.500 und 12.600 Euro.
Der Autor steigert seinen meisterhaften Stil, in dem er in einer realistischen Erzählung übergangslos vom Sachbuch und der dokumentarischen Berichtsart in die Erzählung übergeht: Alle europäischen Passagiere trafen sich mehrmals täglich im Speisewagen. In dem Speisewagen, den der Autor dem funkelnden Expresszug Neoliberalismus einfügt. Alle Staaten Europas waren ja ab einem bestimmten Zeitpunkt auf diesen Zug aufgesprungen, „keiner konnte sich seinem Sog entziehen“. Im Speisewagen habe es nur Einheitskost gegeben, „die von westlichen Obern (der Weltbank, dem IWF, der OECD) serviert wurde. Noch dazu begann das Menü immer mit einer Vorspeise namens „Austerity‘“, der Autor fügt genial in einer Klammer hinzu: „Das leider mit Austern gar nichts gemein hatte“. Die Reisenden wollten die Kost eigentlich nicht immer essen, aber sie spürten die Macht der Kellner, „die jederzeit alte Schulden einfordern konnten und die ökonomische Weisheit gepachtet zu haben schienen“. Beliebt sei der Kellner aus Brüssel gewesen, denn er servierte „Hors d’oeuvres“ aus dem Hilfsprogramm PHARE und versprach vielen Passagieren, dass sie immer bei ihm speisen dürften, wenn sie eine Reihe von Bedingungen erfüllen würden. So war dieser Speisewagen am Ende von 350 Seiten des Buches ein großartiger Ort, „Um Reden über die Reformen zu halten“. Die Ironie ist nicht enden wollend. Die Vertreter der kleinen Nationen präsentierten sich gern als Musterpassagiere und sprachen von einer Marktwirtschaft „ohne Attribute“, „die Ober wiederholten das Mantra ‚Privatisierung, Liberalisierung, Deregulierung‘ wie eine Art Tischgebet“.
In den Speisewagen – das ist dann der Gipfel des Lesegenusses – steigt am Ende einer aus, er heißt Wladimir Waldimirowitsch, „polterte ganz laut gegen die Werte der Ober und versucht seitdem, einen eigenen Zug namens Staatskapitalismus aufs Gleis zu setzen. Zunächst nahm man ihn nicht so ernst“. Doch das habe sich geändert, als er sich daran machte, seine Nachbarn mit aller Gewalt in seinen Zug zu zerren, auf dem inzwischen „Eurasische Wirtschaftsunion“ steht.
Das Buch ist nicht kämpferisch identisch mit dem Neoliberalismus und Kapitalismus. Der Autor ist sich der Fallstricke dieser Politik sehr wohl bewusst. Er sei nicht mit einer einfallslosen Sparpolitik gleichzusetzen. Es geht um die Hinwendung zur sozialen Marktwirtschaft, die wiederum an den Sozialstaat und den Rechtstaat gebunden ist. So schließt er überzeugend, bevor man die Entwicklung einfach den Märkten überlässt, sollte in den reicheren Ländern Europas eine Debatte stattfinden über die Folgen, die die massenhafte Migration aus dem Nachbarkontinent Afrika oder eine weitere Schwächung der EU darstellen. „Die Geschichte Europas“ habe in den letzten 30 Jahren gezeigt, „wie verletzlich und volatil die neue Ordnung ist“.
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Philipp Ther „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent: Eine Geschichte des neoliberalen Europa“ | Online bestellen!