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Eidesbruch

Die Todsünden des modernen Technik-Gesundheitssystems. Zu einem Buch des Chirurgen Michael Imhof. Von Rupert Neudeck

Das Buch ist besser als sein reißerischer Titel, es beschreibt die Aporien des heutigen Gesundheitsbetriebes und des Arztberufes. Wir haben, ja leider muss man es so sagen, und der Autor sagt es aus eigener Quälerei mit diesem Betrieb, viel Geschäftemacher, zumal aus der Pharmaindustrie. Es werden neue Krankheiten erfunden, es werden Krankheit und Alter als abschaffbar erklärt. Ja selbst der Tod scheint in die gleiche Erwartung zu geraten, abgeschafft zu werden. Imhof: „Das Dogma von der Machbarkeit von Gesundheit“ habe die alten, verstaubten religiösen Dogmen abgelöst und eine neue Religion, „die weltumspannende Gesundheitsreligion“ initiiert. Heute regiere ein neuer Gott, „der Gott Gesundheit“, der – in „Designer-Sportswaer gekleidet, aus einem überdimensionierten Fitnessstudio herauslächelt und den Menschen das Geheimnis eines ewig gesunden, ewig schönen und alterslosen Lebens verkündet, während unter ihm zu heißer Disco Musik auf Laufbändern und Streckbänken die zivilisationserschlafften Muskeln gestählt werden“. For ever young, heißt das Programm dieses Gesundheitsgottes.

Ich ziere das auch so ausführlich, um zu belegen, wie bezwingend der Autor und Arzt unseren Krankheitszustand beschreibt. Die alten Götter seien langweilig geworden. „Die Botoxspritze hat das Weihrauchfass ersetzt, eine Flut von Fitness und Ernährungsratgebern überflutet die Regale der Büchereien. Es wird uns weisgemacht, die Ausdehnung der menschlichen Lebensspannen bis zu 200, ja bis zu 1000 Jahren sei in kurzer Zeit möglich“.

Es ist auch ein Buch geworden über die verhängnisvolle Mode und Manie der Privatisierung, mit der der Westen meint, dass er auch die commons, die öffentlichen Güter an Privatunternehmer und Manager verscherbeln kann. Die Universitätskliniken von Marburg und Gießen wurden 2004 von dem damaligen Hessen-Ministerpräsidenten Roland Koch privatisiert und an den Klinikbetreiber Rhön-Klinikum AG verkauft. Das galt damals als ein großer „Tigersprung“. Aber der Autor kann nachweisen, wie verhängnisvoll es für eine gute Medizin ist, wenn ein so wertvolles öffentliches Gut wie die Gesundheit an die Gewinnerwartung und den Profitzwang geknüpft ist. Das geht in aller Regel dann auf Kosten der guten Betreuung, oder noch altmodischer gesagt, von Trost, Mitleid und Hilfe und Empathie bei den Leiden von Patienten.

In der Medizin, zumal in der Universitätsmedizin dürfen eigentlich Kriterien, die für den Markt taugen, nicht dominieren: zum Beispiel Konsumfreiheit, Vertragsfreiheit und Kundenautonomie. Denn es liegt ja nun einmal nicht in unserer freien Entscheidung, ob wir Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen. Wenn wir krank sind, sind wir einfach dazu gezwungen.

Das Buch ist ein massiver und frontaler Angriff auf die Gefahren, die dem Gesundheitssystem bei uns drohen, geschrieben von einem Arzt, der gern Arzt geworden ist und der seinen Beruf  gern weiter ausüben möchte. Er beschreibt im ersten Teil die Innenansichten der modernen Medizin, um dann im zweiten Hauptteil die „sieben Todsünden der modernen Medizin“ aufzulisten. Die Kommerzialisierung von Krankheit und Leiden; die Geldgier, beschrieben an der „Goldgräberstimmung in der Krebsmedizin“ und den Beutezügen der Pharmaindustrie sowie dem Totschlag gegenüber der Medizin, wie er sich im Silikonskandal artikuliert und dargestellt habe. Die dritte Todsünde – es klingt fast moraltheologisch – liegt in der Habsucht, die in der modernen Medizin eingebrochen ist. Dann gilt als die vierte Todsünde die Korruption, die sich in den anrüchigen Geschäften mit dem Rezeptblock sowie den gelenkten Patientenströmen verselbständigt. Die fünfte Todsünde behandelt der Autor entlang „Ethischer Dammbrüche“: gefälschte Studien, Betrugsfälle, Organspendenskandale, überflüssige Operationen und vertuschte Behandlungsfehler.

Die sechste Todsünde bindet sich an ein altmodisches, aber für den Patienten unglaublich essentielles Bedürfnis: Mitleid. Die Medizin und Therapie bis zum Sterbebett gestalte sich heute schon gnadenlos. Die siebente Todsünde bezeichnet der Autor als „Hochmut und Machbarkeitswahn“. Da hat der Autor eine ganze Latte an Beispielen für solche sog. Designer-Krankheiten, die profitträchtig für die Pharmaindustrie erfunden werden. Da gibt es das Climacterium virile, Aging-Male-Syndrom, Andropause. Die Bierbäuche von bislang braven Familienvätern verwandeln sich in steinharte Waschbrettbäuche – so mancher alte Sack will es denn noch mal wissen. Der Autor schreibt sehr flüssig und bewegend: „Mein Gott, dürfen wir Männer noch nicht einmal mehr alt werden!?“

Michael Imhof „Eidesbruch: Ärzte, Geschäftemacher und die verlorene Würde des Patienten“

Die Propagierung so manchen neuen Syndroms führt zur totalen Medikalisierung der Gesellschaft zum Zwecke der Gewinnmaximierung. Bei etwa drei Millionen Sisi-Frauen, denen ihre Behandlungs-bedürftige Lage erst noch durch Werbekampagnen hätte erklärt werden müssen, wären satte Gewinne zu erwarten gewesen. Imhof ist oft auch ironisch, was seinen Text besonders lesenswert macht: „wenn als Symptome des Sisi-Syndroms ein gepflegtes Äußeres, Leistungsorientierung und Lebensbejahung, Rastlosigkeit, gesteigerte berufliche und kulturelle Aktivitäten behauptet wurden, so hätte es nicht schwer fallen dürfen, erfolgreich in der Öffentlichkeit stehende Frauen als dringlich behandlungsbedürftige Hormon-Defektwesen zu apostrophieren“.

Die Hybris dieser Art von Medizin, die mit Gesundheit und Menschenwürde nichts mehr am Hut hat, besteht darin, sogar den Tod zu negieren. Die Medizin würde schon in absehbarer Zeit Medikamente kennen, die den Prozess des Zelltods im Gehirn und in anderen Organen zu verzögern wenn nicht gar aufzuhalten versprechen. Jahrtausendlang sei der Tod ein klar definierter Zeitpunkt gewesen. „Dieser Zeitpunkt war gegeben, wenn das Herz aufgehört hatte zu schlagen. Aber das richtige Ende sei erst der Hirntod. Wenn es also gelingen würde, den Gehirntod aufzuhalten, z.B. durch Sauerstoffzufuhr, so könnten weitaus mehr Menschen aus dieser Grauzone ins Leben zurückgeholt werden“. Da gibt der Autor seine Reserven auf. Das werde sich als finaler Wahnsinn entpuppen. Der Tod wird unabwendbares Schicksal unserer Existenz bleiben.

Das Buch sollte in allen Ärztegesellschaften, Krankenkassen, den zuständigen Bundestagsausschüssen nicht nur diskutiert, sondern angenommen und beherzt werden. Imhoff zeigt mit dem Finger nicht nur auf die Profit- und Ratingagenturen, die Pharmakonzerne und Großbetriebe. Er zeigt auch auf die Verführbarkeit des eigenen schönen Berufes, der dadurch ein wenig hässlich wird. In dem Kapitel über die Habsucht beschreibt er die Warnungen von Transparency International, die ein gesetzliches Verbot von „Anwendungsbeobachtungen“ bei Patienten verlangen, „weil sie keinen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn erbrächten und es sich um eine legalisierte Form der Bestechung von Ärzten handelte“, im Einzelfall betrügen die Kopfgelder 2500 Euro pro untersuchten Patienten.

Ein anderes Feld in diesem reichen wichtigen ernsten Buch: Es igelt in deutsche Praxen. In dem Bemühen, neue Einkommensfelder für Ärzte zu generieren, werden „individuelle Gesundheitsleistungen“ angeboten, eben „Igel-Leistungen“. Das sind Leistungen, die von Krankenkassen generell nicht übernommen werden, z.B. Impfungen vor Fernreisen; medizinisch-kosmetische Schönheits-Operationen, spezielle Vorsorgeuntersuchungen usw. Das Buch verweist am Schluss auf den Vorbildarzt Dr. Rieux in Albert Camus normativ wichtigem Roman „Die Pest“ (1947). Der Journalist Rambert fragt den Arzt nach seinem Ethos, das ihm die Kraft gibt, weiter gegen die Pest zu kämpfen. Rieux: „Bei all dem handelt es sich nicht um Heldentum. Es handelt sich um Anstand. Das ist eine Idee, über die man lachen kann, aber die einzige Art gegen die Pest anzukämpfen ist der Anstand“. Der Autor meint, er müsse nicht erwähnen, dass es Camus um die die Pest in der Zivilisation, die Pest in unseren Köpfen ging. Die Medizin – so das Fazit des Nachfolgers von Dr. Rieux – dürfe niemals Gott spielen und selbstgefällig Macht über Leben und die Identität der Menschen ausüben wollen.

Quelle

Rupert Neudeck 2015Grünhelme 2015

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