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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert

Tage in den Jahren der Christa Wolf. Ein Trostbuch für all ihre Leser. Von Ulrich Gellermann

Liebe Christa Wolf,

erneut haben Sie ein berührendes, kluges Buch vorgelegt: „Ein Tag im Jahr 2001 – 2011“ Es ist die Fortsetzung jenes „Ein Tag im Jahr“, das vor zehn Jahren erschien und letztlich auf eine Idee von Maxim Gorki zurückging: An einem festgelegten Tag im Jahr das aufzuschreiben, was Schriftstellern des Aufschreibens wert ist. Seit dem 27. September 1960 sitzen sie nun in jedem September an Ihrem Schreibtisch, wieder und wieder, und zeichnen Ihren Tag auf.

An dieser Stelle denke ich mir den empörten Einwand, Sie seien doch vor mehr als einem Jahr verstorben und an ein Jenseits religiösen Formates würde ich doch wohl kaum glauben. Stimmt. Aber ich weiß, dass Sie in den Gedanken und Erinnerungen vieler Menschen weiterleben. Das ist das wirkliche Weiterleben nach dem Tod. Und, bitte verzeihen Sie, aus dem vorliegenden Buch höre ich Ihre Stimme: Kühl, trocken, nachdenklich, manchmal mit einer leisen norddeutschen Klangfärbung, als habe ihr kurzer Aufenthalt in Mecklenburg ein Andenken hinterlassen.

Also, wenn ich an Sie schreibe, dann schreibe ich an Ihre Leser, an Ihre Freunde. In dieser Landschaft sind Sie lebendig, bleiben Sie gegenwärtig. Zurück zum Buch: Die russische Stadt Gorki heißt längst wieder Nishni Nowgorod, und ob alle Besucher des Berliner Gorki-Theaters wissen, wer das war, der große russische Schriftsteller und Revolutionär? Aber auch Sie erinnern an ihn und so bleibt er. Zumindest eine Zeit.

Es ist ausgerechnet der Monat der Anschläge auf das New Yorker World Trade Center mit dem Ihr neues Buch beginnt. Obwohl am Tag Ihrer Aufzeichnung die Anschläge schon ein paar Tage her sind, bestimmen sie Ihren 27. September. Weil eine wie auch immer formierte öffentliche Meinung vom „Anschlag auf unsere Zivilisation“ redet, wollen Sie sich vergewissern was das ist: Zivilisation. Und auf dem Weg der Vergewisserung – die Verfeinerung der Sitten liegt an seinem Rand, wie auch die Gesittung – finden Sie die entscheidende Frage: „Und wenn sie alle“ (die Inhalte der Zivilisation) „unter dem Terror der Ökonomie ihre Wirkungskraft im Abendland verloren hätten und nur noch als Schimären in uns weiterlebten?“

In diesen Tagen findet Ihr Zweifel die schrecklichsten Antworten. Eine Schreckensantwort auf die Anschläge fanden die USA-Regierung und Ihre Verbündeten schon bald: Im „Kampf gegen den Terror“ begannen sie den Afghanistankrieg. Sie, verehrte Frau Wolf, erschraken damals über den Satz des amerikanischen Präsidenten „Wer nicht für uns ist, ist für unsere Feinde.“ Und sie blieben erschrocken, als Sie eine Seite aus dem Berliner TAGESSPIEGEL lasen, auf der die Gegner des drohenden neuen Krieges des „feigen Denkens“ bezichtigt und mit Namen und Fotos des „antiamerikanischen Ressentiments“ denunziert wurden.

Ich habe diesen Artikel im Netz-Archiv des TAGESSPIEGELS gesucht und nicht gefunden: Schamvoll, nach Jahren eines sinnlosen Krieges, hofft die Redaktion augenscheinlich, ihre damalige Schamlosigkeit bliebe verborgen. – Aus Ihrer Aufzeichnung ist vom Essen zu Hause zu erfahren, Ihr Mann machte an diesem Tag Pasta mit einer Sahne-Käse-Lachs-Sauce, vom Waschen, vom Lesen in einem Buch E. L. Doctorows: So wird die Mischung Ihres Buches bleiben.

Gute zehn Jahre Rückblick, Jahre, die, mit Ihren Augen gesehen, voller spannender Fundstücke sind. Manche sind unschlagbar kurios: So Ihr Gespräch mit einem wichtigen Sozialdemokraten, der Ihnen 2002 versichert, seine Partei wolle ihre ökonomische Politik in Richtung Lafontaine umsteuern. Was mag er heute sagen? Immer noch in der SPD, muss er sich neue Illusionen machen. Das ist auch nicht einfach. Einmal schreiben Sie über einen Fernsehblick auf die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises: „. . . bei dem all die Bildschirmgesichter in einem Saal versammelt sind und man stark das Gefühl von Inzucht hat.“ Können Sie mein Kichern hören?

Eine meiner schönsten Funde erlese ich in einem Gespräch zwischen Ihnen und Ihrer Fußpflegerin. Die erzählt davon, dass ihre Arbeit an der Maschine einer DDR Verpackungsfabrik die schönste Zeit in ihrem Leben gewesen sei. Da habe ich für einen Moment den Atem angehalten. Wie sollen wir denen, die die DDR mit jedem Jahr ihrer Nicht-Existenz für immer unschöner halten, das beibringen? Wie sollen wir selbst denen, die wohlmeinend für ein bedingungsloses Grundeinkommen plädieren, den besonderen Wert der Arbeit bei der Entwicklung der Menschen erklären? Als Sie dann, in einem fiktiven Dialog mit einem Westmenschen, noch nachschieben, dass die „einfachen Menschen heute mehr Angst vor der Arbeitslosigkeit haben, als sie früher vor der Stasi hatten“, bin ich reif für die Reanimation, so wenig Atem ist geblieben.

Mit jedem weiteren Jahr Ihrer Aufzeichnugen rückt Ihre Frage „Wie lange noch?“, die Frage nach dem Sterben häufiger in die Zeilen. Krankheit und Krankenhaus fressen Ihre Zeit. Das hindert Sie nicht die „Finanzkrise“ wahrzunehmen und zu bis heute gültigen Sätzen zu kommen: „Diesmal ist es der Kapitalismus, der seinen Offenbarungseid leisten muss.“ – „Und das gemeine Volk weigert sich, die Veränderung zur Kenntnis zu nehmen.“

Es war mir ein klein wenig unangenehm, als Sie – in einer zarten, pastellen Szene – über die Liebe zu Ihrem Mann schreiben. So, als ob ich einen heimlichen, unerlaubten Blick in Ihr Privatleben getan hätte. Doch weiß ich von Leuten, die Sie besser kennen als ich, wie wichtig Ihnen Gerd Wolf immer war. So bin ich, versehentlich, doch bei der Vergangenheitsform angelangt. Kann mich nicht länger vor der Wahrheit drücken, auch nicht vor jenem Satz gegen Ende Ihrer Arbeit: „Ich wäre nicht untröstlich, wenn ich nicht mehr schreiben würde.“

Liebe Frau Wolf, Sie fehlen, doch immerhin, wir haben Ihr neues Buch. Ein Trost.

Quelle

RATIONALGALERIE | Ulrich Gellermann 2013

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