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Herder Verlag | Franz Alt "Frieden ist NOCH IMMER möglich - Die Kraft der Bergpredigt"

© Herder Verlag | Franz Alt „Frieden ist NOCH IMMER möglich – Die Kraft der Bergpredigt“

Frieden ist NOCH IMMER möglich

Krieg und Gewalt haben nicht das letzte Wort

Franz Alt hat ab der Mitte seines Lebens als Pazifist öffentlich Stellung bezogen. Doch jetzt?

  • Kann er seine Haltungen und Einstellungen angesichts der Entwicklungen in der Ukraine, aber nicht nur dort, so weiter vertreten?
  • Welche bleiben, als unverhandelbar – und welche sind wandelbar? Und was würde Jesus heute sagen?
  • Wie würde er die Bergpredigt heute halten und was würde er vielleicht revidieren?

Ein Blick auf den berühmtesten und wichtigsten Text des Neuen Testaments als Grundlage für alle, die sich fragen, wie wir als Christen und Friedliebende uns heute verhalten können – und müssen. Ein Buch, das Kraft schenkt und Mut macht, um die Herausforderungen unserer Zeit anzugehen.

Franz Alt „Frieden ist NOCH IMMER möglich: Die Kraft der Bergpredigt“ | Herder Verlag 2022 | Ab Montag, 07.11.22 im Buchhandel.


Auszug aus „Frieden ist NOCH IMMER möglich“

Du sollst nicht töten
FranzAlt_Frieden ist noch immer möglcih
Herder Verlag 2022

Das Ur-Ethos aller Religionen und Weisheitslehren heißt: „Du sollst nicht töten“. Das meint aber auch „Du sollst nicht töten lassen“, falls du das verhindern kannst. Deshalb wäre es beim Massenmord in Ruanda 1994 notwendig und moralisch richtig gewesen, wenn die anwesenden UNO-Soldaten versucht hätten, den Massenmord zu verhindern – auch mit Waffen. In Ruanda schauten jedoch die UNO-Blauhelme dem Völkermord tatenlos zu, weil sie angewiesen waren, nicht einzugreifen.

Wer hat nun heute Recht in  Deutschland: Diejenigen, die für Waffenlieferungen an die Ukraine sind oder die dagegen sind? Ich weiß es nicht – im Gegensatz zu Freizeitgenerälen in Redaktionstuben und im Internet, die genau wissen, dass das ukrainische Militär keine Chance hat gegenüber der russischen Großmacht. Beide Seiten können schuldig werden. Jede Entscheidung hat ihre dunkle Seite. Jede Entscheidung fordert Menschenleben. Jede Entscheidung macht schuldig. Jedes Handeln birgt Risiken, aber jedes Nichthandeln auch. Wir erleben in diesen Zeiten sowohl Glanz wie auch Elend des Pazifismus. Für die einen sind Pazifisten die Helden der Nationen, für die anderen die Narren der Nationen. „Schwerter zu Pflugscharen“ – ist das ein realistischer Wunsch oder – jetzt in Kriegszeiten – nur ein schöner, aber ferner Traum? Oder bei der Putin-Aggression gar Zynismus?

Es fällt auch mir schwer, den Zorn auf Putin nicht in Hass umschlagen zu lassen. Aber wem würde das nützen? Hass entmenschlicht auch den Hasser. Heribert Prantl hat in dieser Situation in der Süddeutschen Zeitung vorgeschlagen, jetzt wenigstens den „kleinen Pazifismus“ zu pflegen und die deutsch-russischen Städte-Partnerschaften aufrecht zu erhalten. Gute Idee!

Die Befürworter der Waffenlieferungen können nicht ausschließen, dass diese zur weiteren Eskalation beitragen. Und die Gegner von Waffenlieferungen können aber auch nicht ausschließen, dass sie sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen. Wir sind in dieser Frage gespalten. Wir sollten aber gerade jetzt auf einander hören. Auch hier gilt: Dialog ist hilfreicher als gegenseitige Beschimpfungen. Es gibt auch eine Kultur des Zweifelns und der Bedachtsamkeit. Ich bin froh, dass Deutschland jetzt einen Bundeskanzler hat, der zwar Waffen liefert, aber es nur zögerlich tut. Ich finde einen bei Waffenlieferungen zögernden Bundeskanzler hilfreicher als einen Scharfmacher. Zögern und Zaudern scheint mir in Kriegszeiten klüger als forsches Eskalieren.

Umsicht, Wachsamkeit und vor allem vom Ende her Denken sind hauptsächlich in Kriegszeiten die wichtigsten politischen Tugenden. Auch mit seinem Tötungsverbot nimmt uns Jesus das eigene Denken, Urteilen und Entscheiden nicht ab. Wir sollen Nachfolger sein, aber nicht Nachbeter.

Die Gemengenlage in der Ukraine ist einfach zu komplex für schlichte Antworten. Deshalb sagt der Tübinger Friedensforscher, Professor Andreas Hasenclever: „Der Ukraine-Krieg wird noch fürchterlich lange gehen“. Die Aussichten, diesen Krieg kurzfristig zu beenden und die Lage rasch zu befrieden, schätzt die Friedensforschung insgesamt düster ein.

Kriege kennen – vereinfacht gesagt – zwei Ausgänge: Ein Friedensabkommen oder einen militärischen Sieg. Der Ausgang vieler Kriege aber bleibt oft lange Zeit ungeklärt. Deshalb können sie wie der 30-jährige Krieg ewig lange dauern. Halb Europa wurde im 17. Jahrhundert ermordet. Zwischen Münster und Osnabrück konnten sich während des 30-jährigen Krieges Katholiken und Protestanten ein ganzes Jahr nicht auf ein Taufbecken einigen und deshalb mussten nochmal viele tausend Menschen sterben. Unfassbar für uns Heutige.

In den letzten Jahren hat sich die Friedens- und Konfliktforschung auf die Analyse von Bürgerkriegen spezialisiert. Nicht zuletzt deshalb wurden wir auch fast alle von einem klassischen Krieg in Europa im Jahr 2022 so überrascht. Auch ich. Wir hatten nicht mehr erwartet, dass sich in der Ukraine zwei Nationen bekämpfen würden. Doch in der Ost-Ukraine herrschen bereits seit 2014 bürgerkriegsähnliche Zustände. Prorussische Separatisten und ukrainische Milizen bekämpfen sich schon seit Jahren losgelöst von regulären Streitkräften. „Kriege enden dann, wenn sie zu teuer werden“, sagt die Salzburger Kriegsforscherin Lena Oetzel der Süddeutschen Zeitung. Beim Ukraine-Krieg tun beide Seiten so als spiele Geld überhaupt keine Rolle. Solange beide Seiten glauben, dass sie auf dem Schlachtfeld mehr erreichen können als am Verhandlungstisch, wollen sie weiterkämpfen. Noch ist keiner bereit, als erster mit offenen Armen auf den anderen zuzugehen. In diesen Kriegstagen frage ich mich manchmal, warum denn keiner dieser russischen Kriegsherren auch nur ein einziges Mal darüber nachdenkt, was wirklich zählt im Leben? Dann wäre der Krieg rasch beendet.

Papst Franziskus hat in diesen Monaten Zweifel an Waffenlieferungen von außen geäußert, aber zugleich das Recht auf Selbstverteidigung jedes Landes unterstrichen. Jeder wirkliche Pazifist und jede wirkliche Pazifistin muss sich allerdings fragen, wie sich in diesem Vernichtungs-Krieg Putins die Ukraine ohne Waffen verteidigen soll. Vielleicht brauchen wir jetzt einen Umweg. Kurzfristig „Frieden schaffen mit Waffen“, um das langfristige Ziel „Frieden schaffen ohne Waffen“ zu erreichen. Das wäre ein differenzierter Pazifismus – ich nenne ihn Real-Pazifismus. Fakt ist: Der heutige Herrscher in Moskau heißt Putin und nicht mehr Gorbatschow. Unser Problem ist: Es gibt heute weit und breit keinen Gorbatschow und wenn es ihn gäbe, säße er im Gefängnis wie Nawalny.

Russland ist nicht Putinland

Eines sollten wir uns aber auch immer wieder klar machen – auf welcher Seite wir auch stehen: Betroffen sind immer zuerst die Menschen in der Ukraine. Ihre jungen Männer werden getötet, ihre Frauen werden vergewaltigt, ihre Kinder und ihre Alten werden zur Flucht gezwungen. Da verbietet sich deutsche Besserwisserei. Deutscher Pazifismus kann also nicht heißen, dass wir vom sicheren hiesigen Boden aus, den Ukrainern empfehlen könnten: Bitte ergebt euch! Das wäre ein Pazifismus im Sinne des Aggressors. Es wäre ein „Pazifismus“, der dem Aggressor noch die Tür aufhält. Was dabei oft vergessen wird: Schon die deutsche Ur-Pazifistin Bertha von Suttner hielt Verteidigungskriege für legitim. Und der bekannteste deutsche Pazifist Albert Einstein differenzierte zwischen „vernünftigem Pazifismus“ und „verantwortungslosem Pazifismus“. Der Bergprediger empfiehlt: Leistet keinen Widerstand! Die Frage aber bleibt: Wo macht Widerstand Sinn und wo nicht? Wo ist Widerstand das kleinere Übel? Ist die These: „Je schneller die Ukraine Abwehr-Raketen erhält, desto rascher ist der Krieg zu Ende“ wirklich abwegig? Ich erinnere mich an eine Situation in Israel, bei der die Lieferung deutscher Abwehr-Raketen dazu geführt hat, dass der palästinensische Raketen-Beschuss aufgehört hat. Abwehr-Raketen aus Deutschland haben Leben gerettet.

Für Pazifisten gilt wie für und Journalisten: Unsere Fragen sind meist wichtiger als unsere Antworten. Es kann sein, dass es schlimmer ist, sich nicht mit Waffen zu verteidigen als sich mit Waffen zu verteidigen.

In Tibet empfiehlt der Dalai Lama Gewaltfreiheit und keinen militärischen Widerstand gegen das Riesenreich China. Er droht sogar mit Rücktritt von seinem geistlichen Amt, wenn die Tibeter einen militärischen Aufstand gegen China organisieren sollten. Militärischer Widerstand wäre hier nur sinnloses Töten. China ist militärisch den Tibetern natürlich eindeutig überlegen. In der Ukraine haben wir eine völlig andere Situation. In den Tagen, an denen ich dieses Buch zu schreiben beginne, haben Ukrainer 6000 Quadratkilometer von Russland besetztes Gebiet zurückerobert.  Hier kann Widerstand wohl eher Sinn machen. Das müssen die Menschen in der Ukraine entscheiden. Vom sicheren Deutschland aus Ratschläge zu geben – welche auch immer – halte ich für anmaßend.

Wirklicher Pazifismus ist situationsbedingt und keine in alle Ewigkeit in Stein gemeißelte,  festgeschriebene Ideologie.

Es muss im Interesse aller friedliebenden Menschen liegen, dass dieser russische Angriffskrieg keinen Erfolg hat. Krieg ist das Allerschlimmste, was passieren kann. Deshalb wollen auch Soldaten in der Regel keinen Krieg. Wer aber die europäische Friedensordnung angreift und willkürlich Grenzen verschiebt, wer das Völkerrecht mit Füßen tritt, wer massive Kriegsverbrechen begeht, wer Millionen Menschen zur Flucht zwingt, wer Tausende tötet und wer Vergewaltigung als systematische Kriegswaffe benutzt- wie Putins Soldaten, der sollte sich am Schluss nicht auch noch als Sieger fühlen. Das wäre für Putin, aber auch für andere Potentaten nur ansteckend. Krieg ist das Ende aller Humanität. Jeder Krieg kennt letztlich nur Verlierer.

Für Pazifisten ist klar: Nicht wer Schlachten gewinnt, hat gesiegt, sondern der, der Frieden organisiert. Auf der ganzen Welt, auch in Russland, will die übergroße Mehrheit der Menschen keine Politik mehr und auch keine Politiker mehr, die Kriege gewinnen wollen, sondern endlich eine Politik und Politiker, die Frieden gewinnen wollen. Russland ist nicht Putinland.

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Ist Feindesliebe naiv?

Mit über 700 Milliarden Dollar pro Jahr fürs Militär ist die USA noch immer die stärkste Militärmacht der Welt. Deshalb sollten jetzt gerade die USA mit ersten Abrüstungsschritten beginnen, um andere ebenfalls zur Abrüstung zu bewegen. Abrüstung gelingt, wenn der Stärkste damit beginnt. Nur weniger Waffen bringen auf Dauer mehr Sicherheit für alle.

Jesus hat uns in seiner Bergpredigt sogar „Feindesliebe“ empfohlen. Ist das naiv? War Jesus ein Spinner? Auf jeden Fall ist seine Empfehlung erstmalig, einzigartig und außergewöhnlich.

Feindesliebe heißt ja nicht: Lass dir alles bieten. Sondern: Sei klüger als dein Feind. Hab den Mut zum ersten Schritt. Die Bergpredigt Jesu, so hat es mir Gorbatschow einmal gesagt, „ist im Atomzeitalter das Überlebensprogramm der Menschheit“.

Immerhin hat Helmut Kohl diesen Vorschlag gemacht: „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“.

In seiner Regierungserklärung am 13. Oktober 1983 sagte Kohl: „Frieden schaffen ohne Waffen, das ist ein verständlicher Wunsch, aber eine lebensgefährliche Illusion. Frieden schaffen nur durch Waffen: Das wäre eine tödliche Verblendung. Frieden schaffen mit immer weniger Waffen: Das ist die Aufgabe unserer Zeit.“ Nur eine kleine Korrektur der Logik wegen: Immer weniger Waffen führt logischerweise zu null Waffen. Das muss unser langfristiges Ziel sein.

Also abrüsten statt aufrüsten. Darf man die heutigen Verteidigungsminister der NATO, meist Christen, noch an Jesus und Helmut Kohl erinnern? Oder gar an die Bergpredigt-Erkenntnis von Michail Gorbatschow? Das Ziel wäre dann – vielleicht bis 2040 – Frieden schaffen ohne Waffen. Lasst uns Sicherheit doch mal ganz neu denken. Mit der Bergpredigt kann man Politik machen, Ihr lieben Christen in der Politik! Wirkliche Friedenspolitik. Die Bergpredigt ist eine Frohbotschaft und keine Drohbotschaft. Jesus war ein Realist. Also schlage ich in diesem Buch keinen Fundamental-Pazifismus, sondern einen Real-Pazifismus vor, der sich an der jeweiligen Situation orientiert.

Jeder Bergpredigt-Freund und jede Jesus-Freundin braucht die Bereitschaft, ihre Ideale und ethischen Überzeugungen immer wieder selbstkritisch an den Realitäten zu überprüfen und unter Umständen auch schmerzliche Konsequenzen zu ziehen. Das gilt in diesem Buch auch für meine bisherigen pazifistischen Überzeugungen. Das kann auch weh tun, aber es ist unvermeidlich für eine konsequente lernbereite und lernoffene Lebensführung. Wer die möglichen Folgen seines Handelns nicht abwägt, kann rasch schuldig werden gegenüber Menschen, die unter diesen Folgen leiden müssen. Das heißt freilich nicht, von einem radikalpazifistischen Ideal in ein bellizistisches Extrem fallen zu sollen. Es gilt immer die Unterscheidung der Geister. Die bleibt auch Pazifisten nicht erspart.

Zurzeit Jesu waren die Römer Besatzungsmacht und Beherrscher der damaligen Welt. Ein militärischer Aufstand gegen sie – wie ihn einige seiner Anhänger erhofft und erwartet hatten – wäre reiner Selbstmord gewesen – ähnlich wie es heute ein militärischer Aufstand der Tibeter gegen die Weltmacht China wäre. Dennoch wählen viele Tibeter friedliche Protestformen, auch Selbstverbrennungen.

In den letzten Jahren haben sich in Tibet mehr als 150 Menschen aus Protest gegen Chinas brutale Besatzung, aus Protest gegen die permanenten Menschenrechtsverletzungen auf dem Dach der Welt sowie aus Protest gegen den kulturellen Völkermord in Tibet und aus Protest gegen die tausendfache Zerstörung der buddhistischen Klöster sowie gegen die Vertreibung der Nonnen und Mönche, selbst verbrannt. Im Juni 2023 werden deshalb tibetische Künstlerinnen und Künstler in zehn deutschen Städten das Theaterstück „GewaltFreiheitTibet“ aufführen. Es zeigt den gewaltfreien Weg Tibets gegen die chinesische Unterdrückung seit 1950. In diesem Stück fragt der Tibeter Deng den Tibeter Deshan: „Warum hast du dich selbst verbrannt?“ Deshan antwortet: „Um einen Weg zu finden, meiner Stimme Gehör zu verschaffen, ohne ein anderes fühlendes Wesen zu verletzen“.

Die Künstler wollen in Deutschland um Solidarität mit dem Schicksal des tibetischen Volkes werben. Seit über 70 Jahren üben die Menschen auf dem Dach der Welt unter der weisen Führung ihres geliebten Dalai Lama eine Politik der Gewaltfreiheit, eine Politik der Bergpredigt. Es ist ein Kampf David gegen Goliath. Er scheint zunächst aussichtslos. Doch der Ausgang eines solchen Kampfes in der Bibel ist überraschend. In Tibet geht es letztlich auch um einen geistigen Kampf. Ein religiöses Volk kämpft gegen eine atheistisch-kommunistische Ideologie. Vielleicht ist das ein Stellvertreter-Krieg für die ganze Welt: Terror und Unterdrückung gegen Freiheit und Zukunft. Zum Thema Feindesliebe sagt der Dalai Lama: „Ich kenne keine Feinde. Es gibt nur Menschen, die ich noch nicht kennengelernt habe. Von seinen Feinden kann man am meisten lernen. In einem gewissen Sinne sind sie unsere besten Lehrer“. Bei vielen Umfragen gilt der Dalai Lama als der sympathischste Mensch der Welt. Das heißt: Feindesliebe ist global mehrheitsfähig und keine  Utopie! Damit kann man Politik machen – man muss es nur wirklich wollen. Pazifismus ist unrealistisch? Wie schrecklich realistisch war denn in der gesamten Menschheitsgeschichte der  Bellizismus? Der Krieg ist der Vater aller Dinge? Der Krieg ist der Vater aller Armut und allen Leids.

Als 1989 in Berlin die Mauer fiel, war ich mit dem Dalai Lama zu einer Podiumsdiskussion in der Stadt und erlebte eine ganz andere Situation, ein unvergessliches Erlebnis. Wir standen an der Mauer, die Mauerspechte drückten „Seiner Heiligkeit“ eine brennende Kerze in die Hand und hievten ihn auf den Rest der Mauer. Als er oben stand rief er: „So wie diese Mauer fallen wird, so wird Tibet eines Tages frei sein“. Sein „unvergessliches Erlebnis“ schildert er selbst so: „Just in dem Moment als Hunderttausende Demonstranten durch die Schlagbäume in den Westen strömten oder auf die Mauer kletterten und auf der anderen Seite hinuntersprangen, war ich in Berlin. Dann fielen die Grenzzäune, ohne jede Gewalt. Die ganze Welt hielt den Atem an. Die Geschichte wurde durch die Energie der Jugend neu geschrieben. Im Westen wie im Osten weigerte sich die neue Generation, die ideologische Trennung anzuerkennen, und bekräftigte stattdessen den Willen zur Wiedervereinigung.

Möglich war diese Annäherung durch die Politik von Glasnost und Perestroika, die seit 1986 von meinem Freund Michail Gorbatschow propagiert wurde, der damals Präsident der UdSSR war. Er verweigerte den Schießbefehl auf die jungen Menschen und hat erst kürzlich erklärt, dass der Fall der Mauer einen dritten Weltkrieg verhindert habe. „Der Fall der Berliner Mauer hat die Möglichkeit aufgezeigt, dass Protest und Gewaltlosigkeit gegen eine freiheitsfeindliche Diktatur siegen können“. (Fußnote: Dalai Lama: Der neue Appell das Dalai Lama an die Welt. Benevento-Verlag, 2018, Seite 14).

 Gelebter Real-Pazifismus mitten in Deutschland, den auch ich noch kurz zuvor für unmöglich gehalten habe. Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.

Ohne Perspektiven keine Heilung und keinen Frieden

Real-Pazifismus heute kann heißen, Konflikte möglichst gewaltfrei zu lösen versuchen und im „Feind“ immer auch den Mitmenschen zu sehen. Jesuanische Friedensethik traut den Menschen viel zu: Grundsätzlich versöhnungsbereit sein, den Mut zum ersten Schritt haben und möglichst gewaltfrei agieren sowie nicht zu vergessen: Geduld. Geduld und nochmals Geduld üben. Und: Die Hoffnung nie aufgeben. Auch verstehen lernen, was Jesus im Thomas-Evangelium sagt: „Dein Feind, er ist wie du!“. Zugleich weiß die realistische christliche Friedensethik auch, wozu der Mensch im Schlechten fähig ist. Frieden schaffen ist deshalb meist ein schwieriger Abwägungsprozess. Der Bergprediger lehrt, dass der Dialog der grundlegende Weg zum Frieden ist.

Ganz praktisch hat das die christliche Gemeinschaft Sant Egidio in Rom bewiesen. Der Würzburger Pfarrer Matthias Leineweber ist geistlicher Begleiter dieser Gemeinschaft. Er erzählt über die Friedensvermittlung in Mozambique vor 30 Jahren: „Die wichtige Erkenntnis nach 17 Jahren Bürgerkrieg und einer Million Toten war, dass alle Parteien das Wohl für ihr Volk wollen. Das war die gemeinsame Grundlage. Beide Seiten fragten: Was verbindet uns? Und sie haben weggelassen, was trennt. Die Parteien mussten überzeugt sein, dass Frieden die beste Option ist. Wenn eine Seite nicht überzeugt ist, dass der Frieden für sie günstig ist, wird sie sich nicht dafür entscheiden.“ Ohne Perspektiven keine Heilung und keinen Frieden.

Lidija Losowa, eine Theologin der Orthodoxen Kirche der Ukraine, beschrieb nach Kriegsbeginn in der Ukraine die Wut, den Hass und die Rachegefühle ihrer Landsleute auf einer Veranstaltung der Domberg-Akademie: „Die Brutalität der russischen Armee ist so schrecklich und grenzenlos, dass alle emotionalen Reaktionen der Menschen in der Ukraine verständlich sind. Sie wünschen dem Feind den Tod. Sie verfluchen ihn“. Solche Gefühle sind verständlich. Doch zugleich plädierte die Theologin dafür, auch im „Feind das Ebenbild Gottes“ zu sehen. Feindesliebe setzt sich zwar auch zur Wehr, sieht aber im Feind nicht nur den „Feind“ und empfindet nicht nur Hass. Vielleicht müssen wir auch im Augenblick damit leben, dass es nicht immer moralisch vollkommene Lösungen gibt. Ideale können uns auch überfordern. Dennoch müssen wir sie anstreben.

Notwendig bleibt immer die kriegsvermeidende Arbeit für einen gerechten Frieden.

Und denen, die sagen, mit der Bergpredigt kann man nicht regieren, meine Gegenfrage: Habt Ihr es je probiert? Gorbatschow hat´s doch vorgemacht. Und zwar erfolgreich. Dabei weiß ich, dass Gorbi gerade in Russland viele Feinde hatte. Der Mann hat immerhin ein Reich zerstört. Viele Funktionäre, die dabei Privilegien verloren haben, können ihm das bis heute nicht verzeihen. Er bekam bis zu seinem Lebensende Drohbriefe, sogar Todesdrohungen, er hat mir einige davon vorgelesen.

 Michail Gorbatschow wollte bei seinen Gesprächen mit dem US-Präsidenten Reagan 1986 in Rejkjavik sogar alle Atomwaffen abschaffen, also eine atomwaffenfreie Welt. Reagan stimmte ihm zunächst zu, konnte sich aber gegenüber seinen Hardlinern in Washington nicht durchsetzen, sonst hätten wir vielleicht schon heute eine komplett atomwaffenfreie Welt. Auch an diesem Beispiel wird deutlich, dass eine Welt ohne Atomwaffen keine unerreichbare Utopie ist, sondern eine schon heute mögliche Vision. 2017 stimmten in der UNO bereits 123 Staaten für eine Welt ohne Atomwaffen, ein deutliche Mehrheit aller Staaten und Regierungen. Leider sind aber bis heute noch alle neun atomwaffenbesitzenden Länder (USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea) gegen den Atomwaffenverbotsvertrag. 

FranzAlt_Frieden ist noch immer möglcih
Herder Verlag 2022

Eine Position, die hoffentlich auf Dauer nicht haltbar ist. Denn wir hatten bisher nur Glück, dass es nicht zum Atomkrieg kam. Auch das sagte mir der Fachmann Michail Gorbatschow. Wir können und werden aber nicht immer nur Glück haben. Das heutige atomare Glücksrittertum wird irgendwann in der Katastrophe enden, wenn wir es nicht rechtzeitig beenden. Trotz aller Widerstände der Atomwaffenbesitzer: Der Vertrag gegen die Atomwaffen ist bereits geltendes Völkerrecht. Wir können und müssen eine atomwaffenfreie Welt organisieren.

Im nächsten Kapitel kommen wir zum Kern dieses Buches. Vor 2000 Jahren trat der junge Mann aus Nazareth mit einer bis dahin ungehörten Botschaft als Wanderprediger vor die Öffentlichkeit. Und das in Zeiten von Krieg, Kolonialismus, Ausbeutung, Frauen- und Kinderverachtung. Ich mache alles neu, prophezeite er:

  • Frieden ist möglich
  • Liebe ist möglich
  • Gerechtigkeit ist möglich
  • Die Bewahrung der Schöpfung ist möglich.
Quelle

Herder Verlag 2022 | Franz Alt 2022

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