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Fünfzehn sein: Was Jugendliche heute wirklich denken

Generation Facebook-Instagram-YouTube – Ruhm- und Neidspiralen. Von Rupert Neudeck

Eine Meisterleistung, sich so in diese neue Generation hineinzuversetzen, dass man sie über die Welten sprechen lässt , die uns Erwachsenen ganz fremd sind. Das YouTube meiner Generation, sagt die Autorin Melanie Mühl, war das Fernsehen, ARD, ZDF, die Dritten Programme und später das Privatfernsehen. „Meine Lieblingsserie stammte aus Amerika und lief jeden Montagnachmittag und hieß ‚Ein Colt für alle Fälle‘“. Ja, lang ist‘s  her, dass wir uns noch für das Fernsehen interessierten. Damals waren es die Colt Seavers, Stuntman, Kopfgeldjäger, von Frauen umschwärmt war „mein Idol, der Montagnachmittag fest für ihn reserviert.“ Fernsehverbot war deshalb damals eine grausame Strafe, so grausam wie Hausverbot.

Das Buch begibt sich ganz auf die Sprachebene der – ja, 14 bis 17jährigen. Begriffe, die ‚man‘ in dieser Generation kennt: Thigh Gap, Bikini Bridge, Botox und die Zuwächse bei der Gesichtschirurgie. Es gibt noch gedruckte Medien, die da irgendwie mithalten wie z.B. Bravo, die diese YouTuber begleiten und wenn sie dann irgendwo auftauchen, einen Riesenbahnhof für sie nicht organisieren müssen, er organisiert sich selbst. So hat der Star Mohammed Satiane in Dortmund die Innenstadt zum Hexenkessel gemacht, indem er sich mal entschlossen und das gepostet hat, dass er nach Dortmund fahren wird und gefahren ist, um zu shoppen. Das hat Hunderte von Teenagern in blanke Hysterie gestürzt. Als das Spektakel zu eskalieren drohte griff die Polizei ein. Die Innenstadt lag lahm.

Man erfährt, dass die Instagram – nicht mehr Face Book Generation einen ganz neuen Begriff von Ruhm einbringen wird. Man – ich frage mich immer, was bei diesem total konformen Schönheitsideal, jung, vollschlank, Make up „tonnenweise im Gesicht“, wie damit diese jungen Teenager fertig werden, welches Selbstbewusstsein sie entwickeln, wenn sie sich der Konkurrenz aussetzen. Man erfährt, dass es neben dem Selfie auch das Belfie gibt, das Foto vom Hintern und das Aftersex-Selfie.

Zwischendurch nimmt sich die Autorin eine wissenschaftliche Untersuchung vor: Forscher der Berliner Humboldt Universität und der Technischen Universität Darmstadt haben versucht zu untersuchen, wie sich Face-Book Nutzer nach dem Surfen fühlen. Die Studie geht noch um Facebook, aber Facebook sei die harmlose Variante von Instagram, dem wahren „Selfie Heaven“. Mehr als ein Drittel der Befragten empfand negative Gefühle, Neidgefühle: „Die Gefahr in die Neidspirale zu geraten ist groß“. Jugendliche heute kann man kritisieren, in die Pfanne hauen, man kann sie auch bedauern. Sie sind dauernd unter Druck gesetzt, gut auszusehen. Selbst beim Sport seien manche Mädchen geschminkt. „Ich kenne Fälle, das setzten Mädchen keine Schwimmbrille auf, weil sie sich um Abdrücke auf ihrer Haut Sorgen machen“.

Auch so ein Satz, der lapidar aber inhaltsschwanger daherkommt: Im Zusammenhang mit dem Videoblogger LeFloid. An dieser Stelle geht die Autorin bis zur Grenze dessen, was ein ordentlich lektoriertes deutsches Buch hergeben kann. Was fasziniert denn an den YouTubeStars wie Bigi, LeFloit u.a. Bibi spricht wie Jugendliche sprechen – „mega, wie krass ist das denn?! ,Hy voll cool, keine Ahnung, ohne Witz, richtig geil, ohne scheiß“. Le Floid sei in den Augen Jugendlicher unterhaltsamer als die vom Teleprompter ablesenden Nachrichtensprecher. „Reine Informationsvermittlung ist vielen zu dröge“. Sie interessieren sich für die Welt, aber nicht für die „Tagesschau“.

Die fortlaufenden Kapitel sind alle dramatisch. Die Autorin erwähnt kurz öfter, was es zu ihrer Zeit noch gar nicht gab.  Das Wort und die Realität Magersucht gab es noch nicht. Im Kapitel „Unten ohne. Über die Normalität der Intimrasur“ sagt sie „Wir haben uns früher weder rasiert noch über unsere Vagina gesprochen.“ Andere Körpermerkmale, wie die Grüße des Busens, hätten die komplette Aufmerksamkeit beansprucht. Die Kapitel sind dramatisch, aufregend, manchmal erschreckend. Man möchte in diesen Zeiten nicht Lehrer sein ist meine erste Schlussfolgerung. Eltern sein ist wohl – zumal wegen der vielen Einzelkinder – auch schwieriger geworden.

Liest man „Germany Next Topmodell: Wer ist die Schönste im ganzen Land?“ bekommt man mit, wie magisch wichtig diese Sendung und das Schönheitsideal ist, das mit ihr verbunden ist. Auch hier bemerkt die Autorin, wie weit diese Realität von ihr, die 1976 geboren ist aussieht. „Zu meiner Zeit habe es keine Klum, keine Germany Next Topmodel, keine Helikoptershootings gegeben. Wir träumten auch nicht von einer Modelkarriere, denn wir wussten nicht einmal, wie eine solche Karriere aussieht.“

Alle sehen sich die Sendung an, in jeder Klasse, jeder Schule, wohlgemerkt alle Mädchen. Spaß mache eigentlich nur das Reden über GNTM. Ein nächstes Kapitel geht es um das Schminken. Mädchen werde früh suggeriert, dass Schminken zu den Weiblichkeitserwartungen in einer auf Oberflächenschönheit fixierten Gesellschaft gehört. Irgendwann werde das geschminkte Ich zu ersten Natur.

Jungens beklagen sich, dass sie es schwerer haben als die Mädchen in der Klasse. Wenn sie mal im Unterricht essen oder trinken, müssen sie nachsitzen. Die Mädchen schminken sich dauernd und müssen nicht nachsitzen. Bei Lehrern ist es besonders krass. Mädchen ziehen sich im Sommer aufreizend an, tragen Leggins, Hotpants und krasse Ausschnitte, auch wenn sie dicker sind. „Das lenkt schon manchen Lehrer ab“. Eine Lehrerin habe mal gesagt, dass die „Neuntklässler sich anziehen als kämen sie vom Strich.“

Was alles getan wird, um dem Magersucht-Ideal nahezukommen ist unglaublich. Im Netz z.B. kursiere das Gerücht, „Radieschen hätten eine negative Kalorienanzahl.“ Das bedeute, man verbrenne mehr Kalorien beim Verdauen und Verarbeiten des Radieschens, als man beim Essen zu sich nehme. „Äße man also nur Radieschen, würde man am Ende des Tages weniger wiegen“.

Die Autorin ist immer dabei, die brutalen, einschlägigen Urteile z.B. über die Generation Porno oder die Generation Joint auf dem Pausenhof als das zu entlarven, was sie sind: Vorurteile. Was aber nichts damit zu tun hat, dass sie etwas von der gegenwärtigen sozialpsychologischen Situation der Jugend verharmlosen will. Aber im Kapitel „Lust auf Joint“ kann man mitbekommen, wie leicht es für einen 16jährigen ist, sich das Zeug zu besorgen. Koks und Ecstasy hat er auch schon ausprobiert.

Ich frage mich als Leser immer, woher diese jungen Leute das Geld haben. Ecstasy sei eine klassische Partydroge, die oft bei Techno-Events genommen werden. „Chrystal Meth würde ich z.B. nie im Leben nehmen“. Es wird, wie das Buch beschreibt, exzessiv gesoffen, aber nicht nur getrunken. Auch da wurde von den Medien schnell die Generation „Komasaufen“ erfunden, die z.T. erschreckend jung war. Das Erstaunlichste, was das Buch durch den Doppeltakt der Berichte der Jugendlichen und der Texte der Autorin, die das alles einordnen kann, ist die ganz neue Sprache der Jugendlichen, die viele Erwachsene nicht verstehen. Z.B. Azzlack: Mit Azzlack meinen die jungen Leute einen bestimmten Typ von Jungen: Respektlos, Jogginghose auch assi Redensweise.

„Azzlacks gibt es in allen sozialen Schichten, mit und ohne Migrationshintergrund“. Beinahe jeden Satz sagen sie mit „Digga“, auch „gönn Dir“, das war der vom Langenscheidt gekürte Satz 2014. Die häufigsten Abkürzungen heißen sturmi (Sturmfrei), Hausi (Hausparty), kd (Kein Ding), ka (keine Ahnung). EMO ist emotional hardcore, auch so ein Wort aus der neuen Sprache. Ob das denn hält, was sich diese neue Generation zumutet, der Kult um die beste Freundin. Mädchen küssen sich auf Profilfotos und nennen sich nicht nur Schatz, Maus und Engel, sondern auch Seelenverwandte und Ehefrau.“ Es gibt die trügerische Abkürzungen wie ABFFIUE, das heißt, „Aller Beste Freundin für Immer und Ewig“. Mädchen träumten, so die Autorin auch früher von einer besten Freundin, bevor sie von einem Jungen träumten.

Die Generation Porno ist sie nicht. Vor 30 Jahren war es die Angst vor Drogen („Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“). Die Angst vor Pädophilie und Drogenkonsum ist geblieben. Eindeutig und schlimm genug kann man heute sagen: „Noch nie war Pornographie so leicht und so schnell zugänglich wie heute. Man muss im Netzt heute nicht nach pornographischen Seiten suchen, man gelangt beim Surfen oft zufällig dorthin!“ Ganz selten, aber dann mit Verve zitiert die Autorin die Studie Jugendsexualität im Internetzeitalter der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Die halten fest, die Internetpornographie habe die früher beliebten Masturbationsvorlagen ersetzt.

Aber auch hier ist die Autorin nicht bereit, neben den vielen Gefahren für diese Generation alles in einen Topf zu rühren. Sie zitiert einige Gewährsleute: Man fühle sich, was Sexualität betrifft, oft abgestempelt. Z.B. der Skikurs: „Dass wir nicht auf die Zimmer der Jungs dürfen, ist sinnlos, als würden wir mit allen Sex haben in der 8.Klasse! Man nimmt sich ja nicht vor, auf der Klassenfahrt zu ficken, wir haben doch auch unseren Stolz“. Da möchte man mit der Generation Lehrer einen gut Teil mehr Verständnis haben.

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„Frau Mühl, woher wissen Sie, wie Jugendliche ticken?“ – „Ich habe sie gefragt!“ | Interview

Carl Hanser Verlag
Quelle

Rupert Neudeck 2016Grünhelme 2016

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