Geschichte des Westens
Das Wagnis des Historikers – H.A. Winkler macht sich daran die Zeit von 1991 bis 2014 zu beschreiben. Von Rupert Neudeck
Man liest sich durch diesen wie immer zuverlässigen Wälzer hindurch, liest und liest und ist über achthundert Seiten voller Bewunderung für diese emsige Wühlarbeit in den zeitaktuellen Archiven und Zeitungen und Medien. Das sind unwahrscheinlich luzide Analysen der Zeit nach dem Mauerfall, des ersten Jugoslawien- Krieges, der Geschichte der immer noch nicht eindeutigen Europäischen Union, der Bewegungen im Machtbereich Moskaus und Chinas, alles ist in größter Dichte und Breite nicht nur ausgebreitet und aufgearbeitet, sondern auch flüssig und meisterhaft geschrieben. Dennoch hat der Leser auf Dauer, spätestens bei den Seiten nach 400 Seiten, also nach der Wahl von Nicolas Sarkozy und Hollande, dem Scheitern der schottischen Unabhängigkeitsreferendums eine leise, fast heimliche Kritik. Das Dumme ist für den Rezensenten, der Autor nimmt diesen Vorbehalt in einem Vorwort vorweg: Alle Urteile zu der Gegenwartsgeschichte stehen noch mehr als das für weiter zurückliegende Epochen gilt, „unter dem Vorbehalt des Vorläufigen und Subjektiven“.
Dennoch meint unser Gegenwartshistoriker: Einer Darstellung der jüngsten Vergangenheit auszuweichen, sei kein „überzeugender Ausweg aus diesem Dilemma“. Er zitiert zu seiner Verstärkung den 1933 verstorbenen deutschen Juristen Hermann Heller: „Ohne letztlich praktische Forschungsabsicht kann es in der Staatslehre weder fruchtbare Fragen noch wesentliche Antworten geben“. Und, Winkler verstärkt das: wenn er sagt, nach seiner Überzeugung sei es eine der letztlich praktischen Forschungsabsichten der Geschichtswissenschaft auch einen „Beitrag zur Ortsbestimmung der Gegenwart zu geben“. Und parallel zu der Lektüre des neuen Buches bekomme ich die Ausgabe der ZEIT vom 5. Februar und was sehen meine entzündeten Augen? Einen Leitartikel in der vornehm auf Niveau bedachten Wochenpostille von wem? Von H. A. Winkler: zu den verschiedenen Konfliktfeldern aktueller Politik mit einem verkaufsfördernden Verweis auf seinen Vierten Band „Geschichte des Westens, Zeit der Gegenwart“.
Es sind unglaublich solide und gut geschriebene Kapitel zu allen wichtigen Entwicklungen. Im ersten Teil geht der Autor von 1991 – also kurz nach der Wende bis zur World-Trade-Twin- Tower-Tragödie 2001. Er behandelt die Weiterentwicklung der Europäischen Union von Maastricht nach Schengen, die schreckliche Zeit des Bosnienkrieges über den Völkermord in Srebrenica bis zum Waffenstillstand und Friedensschluss in Dayton, den Zusammenbruch eines Staates, nämlich Italien 1993 bis 1995. Er wendet sich den Entwicklungen in Russland nach der UdSSR zu unter Boris Jelzin, den gleichen Entwicklungen in den USA unter Bill Clinton. Er behandelt das Ringen der EU um die eigene Reform und die allzu quicke Aufnahme neuer Beitrittskandidaten im Rausch der ungeteilten Welt und des Europa ohne Eisernen Vorhang.
Der Autor behandelt auf den nächsten 150 Seiten die Zeit vom 11. September 2001 bis zu Weltfinanzkrise 2008, um dann im dritten Teil unter dem Titel „Das Ende aller Sicherheit“ die Jahre 2008 bis 2014 zu resümieren. Es mindert nicht meine Bewunderung für die historiographische Leistung des Autors, wenn ich dennoch festhalte: Es wäre an mancher Stelle gut, einen geschichtsträchtigen Ausblick im Blick zurück und nach vorn zu lesen über das, was die EU geworden ist und wie arm sie dennoch dasteht, weil es keine mehr zu verwirklichende Vision mehr gibt. Diese 28 Mitglieder kämpfen sich durch einen Wust von Betrügereien (Griechenland), locker veranschlagten Staaten (Portugal, Spanien, Italien) und ernst und diszipliniert ausgerichteten wie Dänemark, Niederlande, Deutschland. Wenn sich Nicolas Sarkozy und David Cameron treffen und sich auf die stolzgeschwellte Brust der beiden Veto- und Großmächte schlagen, dann wäre doch ein Kapitel fällig über die nicht mehr einlösbaren Titel, die die UNO-Weltgemeinschaft schwächen, die weiter ächzt unter den Voraussetzungen des Endes des zweiten Weltkrieges und der fünf Vetomächte. Aber auch unter der Unfähigkeit der EU, längst schon die beiden sog. Großmächte zu Mittelmächten zu erklären, die wie alle anderen 28 Länder eben den Platz für das vereinigte Europa im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beanspruchen müssen. Bei den ganz ausführlichen Einblicken in die drei Staaten mit den Hauptstädten Berlin, Paris, London fällt auf, wie sich Geschichtsschreibung und Geschichtsunterricht seit meiner Schulzeit gewandelt haben. Damals auf dem Gymnasium hieß es scherzeshalber „333 Issus Keilerei“ um anzudeuten, wie sich Geschichte manchmal verdünnte in die auswendig gelernte Folge von Kriegen und Schlachten bis hin zum Völkerschlacht in Leipzig und der Schlacht von Sedan. Heute sind das ausführlich wiedergegebene Koalitionsverhandlungen, lange Bildung von Regierungen.
Die letzte Koalition in Berlin brauchte fünf Wochen ehe ein veritabler Staatsvertrag zwischen zwei Großparteien unterschrieben und eine neue große Koalition vereinbart wurde. Was mir auch in dem Buch als Kapitel fehlt: Die Krise der Demokratie. Die Demokratien leiden in den angestammten Ländern an Zustimmung durch das Königsrecht der Wahl zu einem frei gewählten Parlament. Das ist eine gravierende Schwäche der neuen modernen Demokratie, die bei jeder neuen Wahl von den Journalisten und jetzt auch von einem Gegenwartshistoriker unterschlagen wird. Dass es nur noch ca. 50 Prozent der Wahlbevölkerung sind, die den Parteien ihre Triumphe als Wahlsieger ermöglichen, würde eine Reflexion auch in diesem Buch verdienen. Zumal Winkler die Prozentzahl von 85 Prozent erwähnt, die beim schottischen Unabhängigkeitsreferendum zur Wahlurne gingen am 18. September 2014. Dass das Referendum zwischen Befürworter einer Unabhängigkeit und den Gegnern hauchdünn zugunsten der Gegner ausging, hat den Kontinent vor einer chaotischen Tollhauszeit bewahrt. Denn ein Sieg der schottischen Unabhängigkeit hätte eine ganze Serie von weiteren Referenden in Katalonien, Korsika, Baskenland, Südtirol, in dem norditalienischen Padanien ausgelöst.
Was mich auch stört: Wie der Autor ganz selbstverständlich von der Qualität der Merker der Ratingagenturen ausgeht, die dazu da sind, solide von weniger solide arbeitenden Regierungen und Volkswirtschaften zu unterscheiden. Ganz toll wird es, wenn Abkürzungssiglen sich selbst für eine neue Realität nehmen. So reduzierte sich in der von Winkler berichteten Zeit die EU auf den ESM, den Europäischen Stabilitätsmechanismus, der seine Arbeit im Juli 2012 aufnahm und den Fiskalpakt den EFSF. Die ESM war dabei das Zuckerbrot, während der Fiskalpakt als Peitsche agierte.
In Distanz zu manchem einhelligen Lob der zeitgeschichtlichen Entwicklung in China hält es der Autor nicht mit dem einförmigen Lob Chinas. China habe seit 1979 unglaubliche materielle Fortschritte erzielt, den Hunger abgeschafft, den USA den Rang als führende Wirtschaftsmacht der Welt streitig gemacht und einen Status als Großmacht errungen. „Eine werbende Wirkung aber ging vom politischen System und der Politik Chinas nicht aus“. Winkler beschreibt die elende Kleinkariertheit, einem Nobelpreisträger wie dem Verfasser der Charta 08 und Literaturkritiker Liu Xiaobo nicht die Reise nach Stockholm zu erlauben. China gehört wie Russland, Indien und Brasilien der neuen Weltmächtegruppe BRIC an (Brazil, Russia, India, China). Das sind starke Schwellenländer, auf dem Sprung zur Megamacht. In vielerlei Beziehung sind diese Mächte von unserem Verständnis einer menschenrechtsgemäßen Herrschaftsausübung noch weit entfernt. Im Dezember 2012 wurde wieder mal ein grauenhafter Überfall und Vergewaltigungsübergriff gegenüber einer jungen Frau in Indien bekannt. Das macht aufmerksam auf die traditionelle Missachtung der Frau. Das Buch macht mit den nur zehn Staaten in Afrika bekannt, die frei oder „teilweise frei“ genannt werden können. Darunter behandelt der Autor den Senegal, Ghana und Südafrika ausführlich. Die Schwellenländer befinden sich auf dem Weg zu einer mittleren Staatengruppe. Ob sie sich auf dem Weg zu der oberen Gruppe befinden ist fraglich. Denn dazu würde es eines hohen Maßes an Rechtssicherheit, Vertrauen in die Verwaltung und individuellen Entfaltungsspielraum bedürfen. Zurecht schreibt Winkler: „Bewältigen sie diese Herausforderung nicht, würden sie in dem gefangen bleiben, was Sozialwissenschaftler ‚the middle income trap‘ nennen“. In der Falle eines unzureichenden Fortschritts.
In allen BRIC-Staaten sind noch erhebliche Arbeiten und Herausforderungen zu leisten, ehe sie sich auf den Weg der Gemeinsamkeit und Konkurrenz zu westlichen Staaten machen können. Wobei auch deutlich wird, dass das Etikett westlich nicht immer zutrifft. Die unglaublich brutale Art, mit der der menschenleere Kontinent Australien mit den an seine Küsten anbrandenden Flüchtlingen umgeht, disqualifiziert den ‚weißen‘ Kontinent Australien und setzt ihn in eine untere Gruppe von Ländern, die die Menschenrechte noch nicht gelernt haben.
Man liest das ganz ausführliche vorletzte Kapitel und ahnt, dass man gleich in den ständig wiederholten Nachrichten des DLF sitzt: Das ganze Feld Ostmitteleuropas und des neuen russischen Staates sind nicht vorbereitet, jetzt kommt es mit der Ukraine auch schon zu einem latent schlummernden Krieg. Die westliche Welt wollte mit so etwas nichts zu tun haben. Nun aber hat sie es mit einem selbstbewussten Pokerface und Spieler namens Wladimir Putin zu tun, der immer in den Fernsehnachrichten durch die aufgestoßenen goldenen Flügeltüren des Kreml zu der nächsten Internationalen Konferenz hineinschreitet mit dem Selbstbewusstsein des Napoleon ohne Uniform. Man möchte die Zahl der Telefonkonferenzen zählen, die der Autor auflistet. Er bestätigt den unendlichen Eiertanz, den der Westen aufführt, der von der Profiterwartung seiner eigenen Firmen gehindert wird, wirkliche Sanktionen zu machen und militärisch schon gar nicht irgendetwas zum Schutz der Ukrainer unternehmen wird und will. Die Krim sei auf Ewigkeit Russland zugeeignet, meint Putin. Niemand würde wagen, möchte man Winklers Buch weiterführen, dem Kleinherrscher in Moskau zu sagen, dass es da eine Stadt in der EU gibt, die Kaliningrad heißt, ob er nicht auf die verzichten wolle, denn die wurde einfach aus Europa herausoperiert, Stalin einfach zur Schwächung von Polen zugeeignet. Die Annexion der Krim war ein klarer Völkerrechtsbruch. Moskau verstieß damit gegen alle Pakte und Dokumente bis hin zum Budapester Memorandum vom 5. 12 2004. Damals hatten die Siegermächte des Weltkriegs gegenüber der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan erklärt, im Gegenzug gegen den freiwilligen Verzicht auf die Nuklearwaffen ihre Souveränität und Integrität sowie ihre wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit zu achten.
Nun kommt der rück- und vorausblickende Historiker Winkler noch in einem fulminanten Rück- und Ausblick zu Wort. Er fasst in diesem Schlusswort noch einmal alles zusammen, was die vier Bände ausmachten: das normative Projekt, das zu einem normativen Prozess werden muss. Winkler beharrt darauf, dass der Gedanke der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz sich kaum so klar durchgesetzt hätte, „wäre ihm nicht der Glaube vorausgegangen, dass es nur einen Gott gibt, vor dem alle Menschen gleich sind“. Die Idee, so überrascht der Autor seine säkularen Leser, der unverwechselbaren Würde jedes einzelnen Menschen sei „angelegt in dem Glauben, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf“. Als Jesus – so Winkler weiter – das von den drei Evangelisten überlieferte Wort sprach „So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“, schloss dieses Wort ein „Nein zu jeder Art von Priesterherrschaft ein“.
Die Unterscheidung der beiden Sphären von Gott und Kaiser setzte sich nur in einem Teil Europas durch. Nur in dem Bereich der westlichen Kirche vollzog sich jene Trennung von „regnum“(säkulare Herrschaft) und „sacerdotium“ (Priesterherrschaft), nicht in Ostrom. In diesem Dualismus sieht Winkler die Gründungskonstellation des Westens. „Ohne Dualismus, kein Pluralismus, kein Individualismus, keine Zivilgesellschaft und auch nicht die alle Lebensbereiche erfassende okzidentale Rationalität“.
Sie geht aber als die Welt umfassende Form und Kraft zu Ende. Niemals war das Projekt zu Ende. Das Beispiel des Kampfes gegen die Sklaverei machte deutlich, welche Dynamik in den Menschenrechtserklärungen von Virginia von 1776 und 1789 grundgelegt war. Winkler: „Das normative Projekt des Westens wurde zum normativen Prozess. Weil es von Anfang an immer auch als Korrektiv zur jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Praxis wirkte.“
Winkler zitiert die Urkatastrophe („the great seminal catastrophe of this century“) in den Worten von George F. Kennan. In den Jahren des Ersten Weltkriegs hatten sich die Europäer mit den Methoden bekämpft, die sie sonst nur den Kolonialvölkern angedeihen ließen. Es gab 8,5 Mio. gefallene Soldaten und 5 Mio. Ziviltote. Die Welt wird nicht mehr durch die Vorherrschaft einer Supermacht geprägt. Aufstrebende regionale Großmächte wie Indien und Brasilien betonten demonstrativ ihre Ebenbürtigkeit mit den Weltmächten USA und China. Winkler weist am Ende seines gewaltigen Versuchs, die Geschichte des Westens zu resümieren, auf die Anziehungskraft der westlichen Menschenrechtsideen bis nach China hin, er zitiert die „Charta 08“ des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo. Nichts spreche für die Meinung, bestimmte Kulturen, etwa die konfuzianische seien für die Idee der Menschenrechte nicht empfänglich. In Anlehnung an eine wunderbare Fundstelle in „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ 1852 schreibt Winkler: Karl Marx haben damals betont, dass die Revolution auf subversiven Wegen ihr Ziel erreichen wird: „Brav gewühlt, alter Maulwurf!“ machte er sich Mut. Winkler macht sich und dem Projekt des Westens ebenfalls Beine: „Die Wühlarbeit des normativen Projekts des Westens, der Ideen der Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie ist noch lang nicht zu Ende!“
Heinrich August Winkler „Geschichte des Westens – Die Zeit der Gegenwart“
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