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Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben

Immer noch: Fremdeln zwischen Ost und West. Zu Erinnerungen von Marianne Birthler. Von Rupert Neudeck

Das Buch der Marianne Birthler macht uns auf etwas sehr Naheliegendes aufmerksam, das wir oft zu schnell, zu vorlaut und vorschnell als erledigt ansehen. Ein Volk, das fast dreigeteilt, dann zweigeteilt aus den Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkrieges hervorgegangen ist und sich in zwei verschiedenen Völkern mit verschiedenen Narrativen gegeneinander positionierte, und das über zwei ganze Generationen, fand fast über Nacht zusammen.

Als dieses dramatische Jahre begann, kam diese Vereinigung so überraschend, dass man fast sagen muss – über Nacht. Der entscheidende Tag, so sagt uns dieses Buch, war der 9. Oktober 1989 als erkennbar wurde, dass  die Volksarmee nicht marschieren würde gegen das Volk. Man liest, zum letzten Mal in unserer Zeitgeschichte „strömten Menschen in die Kirche“. In Leipzig und in Berlin. Alle fragten sich bang: wird die SED gegen das Volk mit Waffengewalt angehen? Der 9. Oktober 89 war ein Montag und an Montagen wurde seit einigen Wochen in Leipzig demonstriert. Es war eine Spannung zum die Luft zerschneiden. Gerüchte und Nachrichten liefen unvermischt nebeneinander: Die Krankenhäuser in Alarmbereitschaft. Blutkonserven seien aus anderen Städten angefordert und Ärzte auf die Behandlung von Schussverletzungen vorbereitet worden. Truppenbewegungen wurden beobachtet.

Eine Kundgebung in Berlin fand in der Gethsemane Kirche statt. Die Mahnwachen-Gruppe hatte einen Aufruf vorbereit, in dem es hieß: „Wir grenzen uns ab von gesamtdeutschen und rechtsradikalen Bestrebungen“. Das klinge heute komisch und befremdend, muss die Autorin zugeben, aus der Rückschau von 2014.

Aber damals stand jeder „gesamtdeutsche“ Gedanke in Verdacht, er sei ein „großdeutscher“. Und wer großdeutsch meinte, war potentiell ein Nazi. „so tief saß die DDR-Propaganda und so tief saß auch bei vielen Menschen im Westen die Überzeugung, dass die Teilung Deutschlands die verdiente Strafe für den Nationalsozialismus“ sei.

Heute sei es der 9. November, der weltweit als Befreiungstag gelte. Doch nicht der Mauerfall brachte den Menschen in der DDR die Freiheit – es sei umgekehrt gewesen. „Der Fall der Mauer war möglich, nach dem die Bürgerinnen und Bürger sich ihre Freiheit erkämpft hatten“.

Das Buch schildert die ersten Schritte in Richtung Demokratie, die erste Volkskammer Wahl, an der sie für Bündnis 90/Die Grünen aktiv mitwirkte und gewählt wurde. Dabei fand sie die CDU-Blockflöten fast lustig, wenn es nicht so ernst wäre. Die waren vor wenigen Monaten noch vor den SED Großkopfeten in die Knie gegangen, plötzlich waren sie leidenschaftliche Anhänger von Helmut Kohl und der freien Marktwirtschaft geworden.

„Wie mich die Versuche Gysis und seiner PDS Truppe anwiderten, sich mit uns in der Opposition zu verbünden  nicht ohne uns spüren zu lasen, dass sie dreimal so viel Wählerstimmen auf sich vereinigt hatten wie wir (Bündnis 90 kam nur auf 6,3 Prozent der Stimmen). Gysi habe es tatsächlich gewagt, „auch mich zu Seite zu nehmen und in vertraulichem Ton aussichtsreiche Plätze auf den Landeslisten für die ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen anzubieten.“ Petra Kelly und Bärbel Bohley erzählten später, dass er es auch bei ihnen versucht habe.

Das Buch ist wie ein Erinnerungsexerzitium aus östlicher Sicht. Da schaut jemand auf unsere gemeinsame Bundesrepublik und hat ein ganzes erstes Leben in der DDR als seinem Staat verbracht.

In Ihrem Bericht über das Leben in der DDR wird vieles sehr deutlich, gerade weil die Autorin so ausführlich ist. Wie die Kirchen wichtig wurden, in der Zionskirche die Umweltbibliothek entsteht, wie scheibchenweise Demonstrationen erlaubt werden nur zum Thema Abrüstung. Der Satz aus der Bibel (Prophet Micha) von den „Schwertern zu Pflugscharen“ wird plötzlich einer der beliebtesten und weit verbreiteten Slogans und Aufkleber in der DDR.

Sie beschreibt die wenigen ganz Mutigen, die sie auch herausstellt. Freya Klier, Bärbel Bohley, Gerd Poppe, genannt „Poppoff“. Es war alles Politik, es gab nichts, was nicht politisch ausgedeutet wurde. Aber sie ist auch kritisch, die Kirche war sicher auch unterwandert. Bei dem Pilgerweg zum Abrüstungsthema am 5. September 1987 stellt sich nachträglich ein zwiespältiges Gefühl ein: Sie hatte beobachtet, wie Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, der auf einmal zugegen war, sich am Rande mit Männern verständigte, die niemand von uns kannte“? Derselbe Stolpe, bei dem sie dann später Schulministerin in Brandenburg werden sollte.

Es fällt auf, wie total bürokratisch und durchorganisiert diese DDR war. Besuchen konnte man sich in Marianske Lazne (in der damaligen Sozialistischen Republik Tschechoslowakei), was wir auch noch Marienbad nennen, dorthin konnten Deutsche aus West und Ost gehen. Dort erlebt die Autorin auch das, für das Jahre später der Begriff „Jammer Ossis“ erfunden wurde. NSK, sie darf einmal zu einer Bildungsreise in das NSK, den nicht sozialistischen Westen ausreisen, manche sagten damals NNSW, den noch nicht sozialistischen Westen“.

Nicht einverstanden bin ich gegen die apodiktische Behauptung, in der katholischen Kirche habe es keine Opposition gegeben. Wolfgang Thierse ist ein leuchtendes Beispiel, der andauernd schon in der schlimmen Zeit gegen den Stachel löckte. Ein ähnliches Urteil über die Rolle der Protestanten in Polen wäre ähnlich töricht. Die „übersichtliche Weisungsstruktur in der Katholischen Kirche“ sei eine der Ursachen dafür gewesen, „dass sie bei der Bildung in der DDR Opposition so gut wie keine Rolle spielte“.

Es wärmt das Herz, noch mal in die Tage der Ausbürgerung von Wolf Biermann sich versetzen zu lassen, der bei einem Konzert in der Prenzlauer Nikolaikirche am 11. September das „Große Gebet der alten Kommunistin Oma Meume aus Hamburg“ singt:

„Mensch Gott, wär’ uns bloß der erspart geblieben

Der Stalin, meinetwegen durch ein Attentat

Gott, dieser Teufel hat es fast getrieben

– verzeih – wie ein Faschist im Sowjetstaat“

Es kommt die Wende, Parteien bilden sich, es gibt dann die Zusammenfügung von den Grünen mit den ostdeutschen Frauen und Männern von Bündnis 90.

Sie macht es in diesem sehr ausführlichen, manchmal zu redseligen Buch deutlich, auch bei den Flügelkämpfen in der Partei, die dann zu ihrer eigenen wurde, dem Bündnis 90/Die Grünen. Das, was die Ostler von denen im Westen trennte, „Fremdeln“. Auch heute, meint sie, stehe das Thema gelegentlich ganz unvermittelt zwischen ihnen, den Parteigenossen der Grünen, „obwohl wir seit vielen Jahren eng befreundet sind und europäische Städte von Tallinn bis Dublin bereist haben“.

Und sie benennt die emotionalen Fragen, die man sich stellt. Warum haben die damals Geld für den Befreiungskampf in Nicaragua gesammelt, aber die Menschenrechtsverletzungen im Osten Europas ignoriert? Und warum galten diejenigen, die einfach weiter die Deutsche Frage nicht vergaßen als Kalte Krieger. Sie sagt es noch schärfer, empfindet es fast als Kränkung. Im Osten habe man immer auf den Westen geschaut, aber die im Westen „haben uns nicht gesehen“. Das bleibt ein durchgängiges Motiv durch die 350 Seiten engbedruckte Memoiren.

Und die Westler wissen auch immer gleich alles und besser. So der Kollege Bundessprecher Ludger Volmer. Die Westgrünen hatten ja die Wahl 1990 verloren, nur Bündnis 90 war im Bundestag. Zur gleichen Zeit, als die Westgrünen wieder im Aufwind waren, ging es mit der grünen Partei im Osten bergab. Volmer wusste weshalb. Die Bündnis 90 Leute würden einfach nicht diejenigen erreichen, die im Westen die stärksten Wählergruppen der Grünen bilden: Die Lehrer, die an den Universitäten.

Was mir gefällt: Die Autorin beschreibt die Realität ihres Herkunftslandes nicht unrealistisch und blauäugig. Sie weiß, dass der Bodensatz rassistischer Gewalt größer ist in den Ost-Ländern, dass es „national befreite Zonen“ gibt, die man sich in Weststädten nicht vorstellen kann. „Im Osten war und ist die Gefahr für Menschen, Opfer rechtsradikaler Gewalt zu werden, um ein Mehrfaches größer“.

Dann kommen noch die beiden großen Kapitel über ihre Zeit als „Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen demokratischen Republik“, das sie noch Ende 2000 von Joachim Gauck übernimmt und das ihr, wie sie in den  Schlusskapiteln ihres Buches schreibt, viel Freude bereitet hat. Zwei Politiker kommen in diesen beiden Kapiteln schlecht weg. Otto Schily und Gerhard Schröder, zu dem sie am 10. Januar 2001zitiert wird, die beiden wollen von ihr ein Machtwort. Schily verlangt von Birthler, dass sie Helmut Kohls Akten unter Verschluss hält.

Doch gibt es da ein Problem: der Innenminister darf in der Frage, welche Akten der/die Bundesbeauftragte herausgibt, oder nicht, keine Weisungen erteilen. Sie hat eine sehr plastische Art der Beschreibung solcher Termine. So die Begegnung mit Schröder. Das Kanzleramt befindet sich noch beim Umzug nach Berlin im ehemaligen Staatsratsgebäude am Schlossplatz. Schröder öffnet eine Flasche Rotwein und zündet sich eine Zigarre an. Nach ein paar launigen Sätzen über Zigarrensorten, den richtigen Rotwein und das Fraktionsfest der SPD, zu dem er und Otto Schily anschließend aufbrechen wollen, kam der Kanzler gleich zur Sache. Er – der Kanzler soll die Argumentation von Otto Schily noch verstärken. Aber Birthler beharrt auf einem Kabinettsbeschluß und fügt als Grüne hinzu, dass die Grünen wegen dieser Sache bestimmt nicht die Koalitionsfrage stellen werden.

Sie hat einen unverfälschten Blick auf die Realität deutscher Vergangenheit. Sie spricht von „beiden deutschen Diktaturen“ und wird angepöbelt. „Die Nazis haben Berge von Leichen hinterlassen, die Kommunisten nur Berge von Akten“.

Der Satz sei falsch: Es gehe auf beiden Seiten um Millionen Tote in Europa: „um diejenigen, die dem Holocaust, und dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer fielen und um diejenigen, die in den Ländern des Ostblocks ermordet wurden oder im Gulag endeten.“ Sie sagt es mit großem Ernste, die vielen, die an den Kommunismus als einen Religionsersatz geglaubt hatten, hätten sich nach dem Ende der DDR und angesichts der Verbrechen, die öffentlich bekannt wurden, in einer tiefen Weltanschauungskrise befunden.

Eines am Ende möchte ich der Autorin nicht abnehmen; als zu Ende Ihrer Zeit man auch die Stasi Unterlagen Behörde in ihrer Weiterexistenz bestritt, schien es ihr ,manchmal, dass es einigen Männern aus dem Westen immer noch schwerfiel, eine Frau und dann noch eine aus dem Osten in einer so herausgehobenen Stellung zu akzeptieren“. Na ja, diesen Satz hätte ich nicht auf  S. 359 geschrieben, denn zwei Seiten weiter kommt die Kanzlerin zu Besuch in die Behörde und erklärt: Sie stehe dazu, dass die Unterlagenbehörde gerade jetzt im 20. Jahr des Mauerfalles „ihre Arbeit so weiterführt, wie sie das im Augenblick tut“.

Es ist ein sehr versöhnliches und prall informatives Buch über Politik im geteilten, dann wiedervereinigten Deutschland geworden. Die Autorin bekennt: „Meine Bewunderung für die Tradition und die Prinzipien eines Rechtsstaates wuchs, ebenso mein Respekt gegenüber Rechtswissenschaft und dem Erfahrungswissen derer, die mittlerweile seit mehr als zehn Jahren die Unterlagen des MfS nach strengen Regeln für die Medien und die Wissenschaft herausgaben.“

Quelle

Rupert Neudeck 2014Grünhelme 2014

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