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Ich will, dass mein Land ein Rechtsstaat wird

Das ist das bisher beste Buch über die Ukraine-Krise, das alle Einseitigkeiten vermeidet und zugleich den Weg eines Autors und Familienvaters beschreibt, der als Autor ein Tagebuch führt bis zum 24. April 2014. Das Buch vereinigt das Lakonische mit dem Dramatischen. Es unterschlägt nicht, was es weiter an Alltag gibt und enthält doch die Tragödie, die eingetreten ist, weil die zeitgeschichtlichen Konflikte bisher nicht offen ausgetragen wurden. Von Rupert Neudeck.

Geschichtliche Kühlschrankzeiten rächen sich, das wissen wir Europäer aus den Jugoslawienkriegen. Auch zwischen der Ukraine und Russland liegen gewaltige Gebirge an Vergangenheit, die bisher nicht ausdrücklich beredet, besprochen, transparent gemacht wurden; man kann sagen, eher im Gegenteil. Und so wird die Ukraine-Krise nicht irgendwie vorbei sein. Die Reaktionen des Autors Kurkow sind prägnant, und sie sind ukrainisch, also nicht deutsch wie die immerwährenden Versuche der deutschen und europäischen Politiker noch mal auf den Wagen des Wahlkampfs mit der Ukraine aufzuspringen.

Am 22. April – kurz vor dem Redaktionsschluss für das Buch -, schreibt Andrej Kurkow, dass ihn bei der Fahrt der eigenen Söhne zur Schule Theo unterwegs fragte: „Papa, wer war eigentlich besser: Stalin oder Lenin? Kurkow antwortet: „Lenin. Weil er früher gestorben ist!“ Die Jungen nickten, die Antwort hatte sie zufriedengestellt. Aber in dieser Episode ist vieles drin. Die Geschichte mit Stalin ist noch nicht vorbei, die mit Lenin ist schon so lange vorbei, dass er doch der bessere ist, meint Kurkow. Der Mann, der keine Rolle mehr spielt, war Michail Gorbatschow, der das Sowjetreich mit unglaublichem Mut und Verve an das Ende gebracht hat. Er hätte vom Westen besser belohnt werden sollen, immerhin hat er der globalen Abrüstung den Vorzug gegeben.

Der Autor beschreibt die unglaubliche Leistung der Leute auf dem Majdan in Kiew, die trotz der wahnsinnigen Kälte im Winter 2013/14 eine wirkliche Volksrevolution durchgehalten haben. Es gab wie in jeder Revolution auch hier einige extreme Kräfte, die nicht bereit waren, die demokratischen Spielregeln zu respektieren. Am 1. März 2014 beschreibt der Autor den ersten Frühlingstag, aber keiner kann den genießen. Der aus Kiew geflohene Präsident hielt im russischen Rostow am Don eine Pressekonferenz. Das war Janukowytsch, der sich nicht schämte, sich im Nachbarland nach seiner Flucht zu präsentieren. Aber Putin macht daraus wieder für sich etwas. Indem er Janukowytsch als legitimen Präsidenten bezeichnet, kann sich Putin die Krim einverleiben, was er dann auch gleich schon getan hat. Es ist eine stille, aber harte Okkupation vor den Augen der Welt. Rußlands Außenminister Lawrow, der so naiv tut, fragt: „Wo soll da die Okkupation sein, welche Aggression??“

Die Krim ist annektiert, die Ukrainer warten immer noch darauf, wie die Staatengemeinschaft darauf reagiert. Vielleicht erinnern sich einige, wie die Weltgemeinschaft auf die Annexion des ölreichen Kuweits durch Saddam Hussein reagiert hat?

Immerhin gibt es die Krim-Tataren, die die neue Regierung der Autonomen Republik unter Aksjonow nicht anerkennen, die im besetzten Krim-Parlament besiegelt wurde. Am Abend sei man, schreibt der Autor zu dem Freund und Bekannten Majstrik zum Tee eingeladen gewesen. Sie sahen im TV die Sitzung des russischen Föderationsrates, der einstimmig für einen Truppeneinmarsch in der Ukraine stimmte: „Zur Normalisierung der politischen Lage“. Der Autor bittet die Majstriks, den Fernseh-Apparat auszumachen. „Sonst käme es zum Gehirnstillstand und anschließend zum Herzstillstand“. Der Freund schlug vor, mit einem Hut in der Ukraine herumzulaufen, um so viel Geld zu sammeln, wie nötig ist, um sich von Putin freizukaufen. Doch – der Autor meint – der Putin wird bei der Ukraine nicht Halt machen.

Der Autor ist als gebürtiger Russe – Ukrainer. Und er will es bleiben. Er sei ein ethnischer Russe, der seit seiner Kindheit in Kiew lebe. Es leben zwischen acht und 14 Millionen ethnischer Russen in der Ukraine. Das Wort „Russe“ rufe bei ethnischen Ukrainern nicht böse Blicke hervor. Als erster betrat sein Großvater 1943 ukrainischen Boden. Er fiel bei den Kämpfen um die Befreiung von Charkiw. Und dann schreibt Kurkow das, was man als Gründungsurkunde des neuen Staates lesen kann: Der Großvater fiel im Kampf gegen die Faschisten. Und nun höre und lese ich das Wort ‚Faschist‘ in Bezug auf mich, weil ich mich gegen eine Besetzung der Ukraine durch Putins Armee ausspreche, „weil ich mich gegen die Korruption aussprechen kann, weil ich will, dass das Land, in dem ich lebe, ein Rechtstaat ist“. Nein, er sei kein Politiker. „Ich bin einfach nur Bürger meines Staates“.

Immer bleibt der Autor als Zeitgenosse auch Schriftsteller. Am 22. Januar 2014 schreibt er: „Wie soll ich jetzt an meinem Roman über Litauen und die Litauer arbeiten, wenn fünf Minuten Fußweg entfernt von der Wohnung, in der ich arbeite, wo ich in diesem Moment am Computer sitze, die Miliz sich eine Schlacht mit der Bevölkerung liefert“? Was, so fasst er sich an den Kopf, ist denn normal? Ist es normal, „den Präsidenten des eigenen Landes zu hassen, der nicht fehlerfrei schreiben kann, der keinen blassen Schimmer hat von irgendetwas und der noch nie irgendwo und irgendwann etwas gelernt hat.“ Ein Präsident wie Janukowytsch, so entscheidet er sich im Tagebuch – kann nicht die „Norm“ sein. Dann sei es auch normal, ihn zu hassen, ihn nicht zu akzeptieren.

Am 17. März 14 verkündet der Gouverneur des Donezbeckens, Serhij Taruta, er habe mit seinem eigenen Geld entlang der Grenz zu Russland einen vier Meter breiten Graben ausheben lassen. Der Graben wurde entlang des Grenzabschnitts zwischen Donezk und Russland ausgehoben, 120 km lang. „Sollte ich diese Situation jemals in einem Roman schildern, werde ich den Graben auf jeden Fall mit Wasser auffüllen und Krokodile hineinsetzen, stark genug, um die Panzerung der russischen Kampffahrzeuge zu durchbeißen.“

Interessant in und mit dem Buch zu erleben, dass der Autor zwar zur Leipziger Buchmesse fliegt und auch nach Paris, aber die ganze Aufmerksamkeit auf dem Schicksal des eigenen Landes liegt. Und in diesem Land werden so blitzschnell Entscheidungen vom mächtigen Nachbarland gefällt, dass man andauernd ins Fernsehen schauen muss. Am 20. März 14 präsentieren „Ren_TV“ und andere russische Fernsehsender bei der Wettervorhersage eine Wetterkarte Russlands, die auch die Krim, das Donezbecken und Charkow umfasste. Diese Russlandkarte, so sinniert der Autor, sei wahrscheinlich Putins persönliche Karte, die illustriert, wie er das künftige Russland gern sähe. Oder, fragt der Autor, bereitet diese Wettervorhersage die russische Bevölkerung auf eine weitere Besetzung ukrainischer Gebiete vor?

Erschreckend, was man in einem Nebel von Gerüchten und Vorurteilen alles erzählen kann, ohne dass ein allgemeines Gelächter durch die Welt und das Land geht?! Am 5. Februar so meldet der Autor – habe ein Abgeordneter der Partei der Regionen, Oleh Zarjow, erklärt, in der Westukraine habe es eine US-Landungsoperation gegeben. Und er verlangte gleichzeitig zur Abwehr russische Panzer ins Land zu holen. Sehr anzüglich fragt sich der Autor Kurkow: Wenn man die russischen Panzer durch die gesamte Ukraine an die Westgrenze rollen und sich davon überzeugen würde, dass dort keine amerikanischen Soldaten zu finden sind, „würden sie dann einfach wieder zurückfahren und sich für den blinden Aufruhr entschuldigen?“ In den Tagen des Februar 2014 kennt der Ausdrucksreichtum des Autors keine Grenzen. Die Wut auf das herrschende Regime, das nicht in der Lage ist, zu begreifen, dass da eine Volkserhebung im Gange ist, bringt ihn zu dem Ausruf: „Janukowytsch bleibt bei seinem Schweigen. Das ARSCHLOCH!“ Der Hass steigere sich ins Unermessliche.

Was ursprünglich einer simplen Abneigung gegen die fremde Donezker Machtclique entsprang, ist allzu schnell in Hass ausgeartet, und wütet jetzt in der Westukraine. Und die Krim würde abermals Russland zurufen, es möge sie zu sich holen. Das waren, wie wir auch schon vergessen haben, die Tage der olympischen Spiele in Sotschi. Da hätte der Putin keinen Ärger über die Krim gebrauchen können. Doch ein bißchen vermasselt wurde die Olympia Show schon. Denn die Welt schaute mehr auf Kiew als auf Sotschi. „Die ukrainischen Skifahrerinnen sind heute nicht an den Start gegangen – aus Protest gegen das Blutvergießen auf dem Majdan“.

Das Buch wird ergänzt von einem ganz ausführlichen Glossar für den deutschsprachigen Leser. Man erfährt, dass Majdan das ukrainische Wort für Platz ist, und dass das Wort erst 2013/14 zum Synonym für die ukrainische Protestbewegung geworden ist. Und man erfährt, dass die Währung Hrywnja ist (50 Hrywnja sind 3-4 Euro). Und man erfährt viel über Personen der unglaublich tragischen Geschichte des zeitgenössischen Landes Ukraine. Und über Julia Tymoschenko erfährt man einiges wie über Pawel Tschitschikow, der eine Figur aus Gogols „Die toten Seelen“ ist.

Quelle

Rupert Neudeck 2014Grünhelme 2014

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