Kriegssplitter: Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert
Das Fluide und das Feste. Kann man die neuen Kriege politologisch be-schwören? Von Rupert Neudeck
Der Krieg ist (leider) nicht verschwunden, er hat neue Gestalten angenommen. Das ist der Inhalt des neuen Buches eines der produktivsten und wegweisenden Politikwissenschaftlers und Historikers in Deutschland. Das Bereichernde und Erkenntnisträchtige an dem Buch: Münkler kann immer wieder in den Schacht der griechischen Mythologie, der zweitausendjährigen Geschichte Europas hinabsteigen und ist aber immer auch gleich bei der Applikation auf die Phänomene unserer Jahre. Es gab zum Entsetzen aller, die nach dem 2. Weltkrieg mit den Kriegen abgeschlossen hatten, die Jugoslawischen Zerfallskriege, es gab die Kriege im Kaukasus von Tschetschenien bis Georgien und es gibt den immer noch weiter wabernden Krieg in und um die Ostukraine. Diese Kriege fanden/finden alle in einem postimperialen Raum statt, der sich aus dem Zerfall der Großreiche ergeben hat, des Habsburgerreiches und der imperialen unzerstörbaren, wie wir meinten, Sowjetunion. Es kam in diesen Staaten noch nicht zu einer unbezweifelten Nationalstaatsbildung.
Es ist wie so oft bei diesem unglaublich fleißigen Autors, der schneller schreibt als der Leser lesen kann. Vieles hat man schon erfahren und mitbekommen in den Kompendien-gleichen Büchern des Berliners Professors: Zumal in seinem großen Buch, „Die neuen Kriege“. Münkler ist geradezu der Erfinder des „asymmetrischen Krieges“, auf den sich Politiker und Journalisten immer, aber nicht immer zu Recht berufen. Das Theater der unbeschreiblichen und bis dahin nicht für möglich gehaltenen Gewaltorgien hat er noch mal im Ersten Teil beschrieben, die Mächte sind zwar nicht in den Ersten Weltkrieg „hineingeschlittert“, aber sie haben allesamt nicht geahnt, dass es danach für alle Beteiligten Angreifer und Angegriffene, Sieger und Besiegte am Ende in der Weise schlechter wurde. Die sog. Völkergefängnisse waren, wie man sehr schnell erkannte, kaum welche, denn die Verhältnisse mit den nationalistischen Gruppen und ihren Durchsetzungsallüren wirkten sich alle schlimmer aus als man es hatte ahnen können. Das Habsburgerreich ging unter, das Osmanische Reich segnete das Zeitliche, das Zaristische imperiale Russland wurde auch von der bolschewistischen Revolution gekillt.
Die wichtigste Erkenntnis: Der erste Weltkrieg beendete die „Bürgerliche Deutungshoheit“ und er stellte den politischen Gestaltungsanspruch des Bürgertums fundamental in Frage. Die Vorstellungen, die sich eine Gesellschaft von den Kriegszielen machte und die Vergleiche, die man damals zu den Kriegen des Perikles und zu den punischen Kriegen führte, sind heute nicht mehr nachvollziehbar. Manche Fragen bleiben rhetorisch. Warum sich die bürgerlichen Schichten auf diesen Krieg als ihren eingelassen und ihn gefeiert haben, ist völlig unbegreiflich. Das Gute in unserer Zeit in Europa: Es kann niemand mehr in Kriegen einen „Sinn“ sehen. Was damals versaubeutelt wurde insbesondere von Theologen und Professoren, ist heute ganz unverstehbar. „Gott habe Großes und Gewaltiges mit seinen Deutschen vor und habe ihnen dafür den Sieg verheißen. Je größer die Opferbereitschaft, desto gewisser sei der Sieg.“
Dann behandelt Münkler das Phänomen des Verschwindens der Helden in den Zeiten symmetrischer und asymmetrischer Kriege. Der Erste Weltkrieg hat die dominierende Gestalt des Waffen erfindenden Ingenieurs geboren. „Nicht mehr der geschicktere und versiertere Umgang mit den Waffen entschied über den Ausgang des Kampfes, sondern die Fähigkeit der Ingenieure und der Industrie, mehr und bessere Waffen zu liefern als die Gegenseite sie hatte“. Durch diese Entheroisierung des Kampfes, so Münkler, wurde der Erste Weltkrieg zu einer „tiefen Zäsur der Kriegsgeschichte“. Nur hat der konventionelle Staatenkrieg wohl ganz aufgehört, der noch mal gekennzeichnet ist durch Kapitulationsurkunden der Kriegsführenden Mächte im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg. Jetzt spielen substaatliche Terrornetzwerke, Brigaden der Dschihadisten ganz neue Gefahren hervor, die sich oft durch den Anbau illegaler Güter wie Heroin und Opium finanzieren.
Dann kommt noch eine neue Waffe, die ganz ohne den ‚tapferen‘ Soldaten auskommt, die Kampfdrohnen. Sie sind die Waffen postheroischer Gesellschaften: sie ersparen eigene Verluste, sie verhindern unter den Kämpfern jede Form gegenseitiger Anerkennung. Nüchtern konstatiert der Autor, dass wir wahrscheinlich nicht nie so wenig Kollateraltote und Opfer hatten wie bei der Verwendung der Kampfdrohne. Noch im Kosovokrieg war das ja die Hauptproblematik. Es wurden Plätze getroffen wie die chinesische Botschaft in Belgrad, für die die Koalition zu Recht Prügel bekam, dass so etwas ‚zugelassen wurde‘. Münkler geht noch weiter: die Drohnen können diese kognitiven Defizite vermindern, indem sie die Zeit der Zielbeobachtung verlängern und den Entscheidungsstress in der Angriffssituation minimieren. Gerade wenn der Operateur der Drohne so weit vom Einsatzort entfernt ist – meist in Tampa Florida – kann er seine Entscheidungen überlegter treffen. Aber da lässt sich natürlich fragen, wie weit der Operateur Entscheidungen zu fällen hat und nicht der oberste Kriegsherr.
Der Autor gewinnt einige durch die Nazizeit verächtlich gehandelte Kategorien zurück, wie z.B. die Geopolitik. Die war ja seit Carl Schmitt und den Nazis auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet, erlebt aber in diesen Jahren noch mal eine ungewollte Rehabilitierung. Geopolitisch erklären muss man einige Konflikte heute und der Satz von Waldimir Putin von der größten „geopolitischen Katastrophe“, die Russland erleben musste, muss nicht bedeuten, dass er sich des Attributs genau bewusst war, aber in der Sache ist es das. Im Zweifel kann es für ein Land und Reich wichtiger sein, seine alte Weltgeltung zurückzuerobern als sich um die Wiedergeburt von Rechtstaatlichkeit und die Aufarbeitung von Tonnagen an furchtbaren Menschenrechtsverletzungen im Holodomor und im Gulag zu kümmern. Aber er gesteht auch ein, dass geopolitische Theorien auch zum Ersten Weltkrieg beigetragen haben. Er ist also bedingt vorsichtig mit der Neuentdeckung der Geopolitik. Diese Begriffe seien auch von so vielen Warn und Verbotsschildern umgeben, weil die Überlegungen im Zusammenhang mit geopolitischen Entwürfen immer ein Eigenleben entwickeln können und dann nicht mehr unter der Kontrolle der Theoretiker zu halten sind. Münkler pointiert: „Geopolitisches Denken ist folgenreich, und mitunter ist es auch gefährlich“.
Münkler geht durch bis zu der aktuellen Krisenlage in der Ost-Ukraine und des syrischen Krieges. Die Kosten für die Krimannexion werden für Russland spürbar sein, und das Prestige, das Putin damit im Innern erworben hat, wird teuer bezahlt werden müssen, „wenn die Europäer die Zeit haben, die Wirtschaftssanktionen gegen Russland über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten“.
Fast hinderlich wirkt es für mich, der ich den Münkler immer so gern lese, weil er sprachlich nicht akademisch verseucht ist, wenn ich seine zwei neuen Modewörter lese, die er mehrmals in den Schlusskapiteln einstreut. Der Weltordnungskrieg wird ja von den technologisch gut entwickelten Mächten in Form des Cyberkriegs ausgetragen. Solche Kriege werden wesentlich in nichtlethaler Form ausgetragen. Wo die Ausübung der Macht sich in die Kontrolle des „Fluiden“ verwandelt hat, zielt der Krieg nicht mehr auf die Tötung von Soldaten, „sondern auf die Lahmlegung der Nervenbahnen des Gegners als systemischer Voraussetzung seiner Fähigkeit, einen Willen zu entwickeln“. Von da an geht es vom Festen zum Fluiden und umgekehrt. Ich kann sie nicht als erkenntnisleitend verstehen an den wenigen Stellen, da der Autor sie benutzt.
Man kann das Buch in seiner Fülle nicht resümieren. So wie Eric Hobshawn davon überzeugt war, dass das 19. Jahrhundert das lange war, denn es begann im Jahre 1789 mit der Französischen Revolution und endete mit dem Jahr 1914. Aber Münkler spricht dagegen. Dann wäre es doch nahegelegen, das Ende auf das Jahr der ersten erfolgreichen sozialistischen Revolution in Russland zu legen. Es gab grässliche Gewaltverherrlicher unter den führenden Intellektuellen, auch solche, die später davon nichts mehr wissen wollten. Sorel warb vehement für den großen Krieg. Schon jetzt sei zu beobachten, dass „die Ideologie einer eingeschüchterten und von Humanitätsideen erfüllten Bürgerklasse“ den Sozialismus in eine seichte Fortschrittserwartung verwandelt habe. Noch furchtbarer der große Schriftsteller der Neuzeit, Thomas Mann bei Kriegsausbruch im August 1914. „Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden und eine ungeheure Hoffnung“; Reinigung und Befreiung wovon? Von der Welt des Friedens. Im nächsten Kapitel resümiert der Autor all die faszinierenden ethnographischen Entdeckungen von Franz Boas, von Bronislaw Malinowski, von Werner Sombart und von den Franzosen Caillois und Bataille.
Dass Grenzen etwas Sakrosanktes sind, die nur in den höchsten Ausnahmefällen zu verändern erlaubt sein werden, das ist eine moderne Erfahrung. Als Napoleon über den Kontinent raste, hatte er wenig Schwierigkeiten, neue Grenzen zu ziehen und neues Recht einzusetzen. Der Flickenteppich des alten Rechts genügte den Anforderungen der neuen Raumordnung nicht mehr. Napoleon – das muss auch immer neu gesagt werden – wurde von den Massen Europas als Befreier und Modernisierer wahrgenommen. „Der Große Rechtslehrer sitzt in Paris“, so zitiert er wie auch an anderen Stellen mit Vorliebe den großen Hegel.
Münkler ist – wie verschiedene in das Buch verstreute Bemerkungen ergeben, tief pessimistisch gegenüber dem Pazifismus wie gegenüber den kollektiven Regelungsmechanismen, die mit der UNO Charta und dem Sicherheitsrat als große Hoffnung der Menschheit etabliert waren. Die sieht er schwer geschrumpft. Die Drohne könnte ja das Ende dieser Art von Kriegsführung sein, wie wir sie im Laufe der letzten drei Jahrtausende entwickelt haben. Die Drohne gehöre in eine Art der „Verpolizeilichung“ der Konflikte, weshalb es nicht verwunderlich sei, dass die Mehrheit der Drohneneinsätze nicht von der US-Armee sondern vom Geheimdienst CIA durchgeführt werden. Die Ideale des Heroischen würden bis heute in den Köpfen von Menschen, die sich für Pazifisten halten, dominant sein.
Das zeige die Kritik am Einsatz der Drohnengerade seitens des Pazifismus: „Der Kämpfer sei zum Spieler geworden, und das verstoße gegen die Ethik des Krieges“. Auch in der Entwicklung der Waffensysteme bleibt der Autor pessimistisch: Die Waffensysteme seien uns über den Kopf gewachsen, „wir fürchten sie mehr als dass wir sie schätzen“. Also hätten wir versucht, sie unter Kontrolle zu bringen. Die Erfolge sind aber sehr überschaubar. Es würde auch weiter gelten: was technisch möglich war, ist schlicht auch entwickelt und zur Einsatzreife gebracht worden“. Dabei vergisst (?) der Autor, dass es auf Grund einiger geradezu durchtrieben verbissener Politik-Akteure 1998 zu einem wirklichen Anfang des „Endes einer ganzen Waffengattung“ kam, im Ottawa Prozess, den aber gerade die Parteien in Deutschland, die sich pazifistisch drapieren, nicht weiter getrieben haben, als sie an der Regierung waren (Joschka Fischer).
Der Autor macht auf die Gefahren deutlich, die mit dem digitalen Double von uns allen entstanden sind. Es gibt durch die häufigen Arbeitsplatzwechsel mehr Freiheitsgewinne. Die Kehrseite sei aber ein Gefühl wabernder Unsicherheit, das in steigende Erwartungen an die Sicherheitsvorsorge des Staates mündet. Es seien deshalb auch immer seltener Familien, Nachbarschaftskreise und Freundeskreise, bei denen die Nachforschungen der staatlichen Ermittler einsetzen, sondern an diese Stelle sind die digitalen Spuren getreten. „So entsteht das digitale Double eines jeden von uns, das im permanenten Strom der Daten und Informationenidentifiziert und lokalisiert wird. Digitale Transparenz wird die Kapazität sein, sich überall mit seinem digitalen Double zu zeigen. Eine Macht, so Münkler, die dazu nicht in der Lage ist, sei bei der Raumbeherrschung im 21. Jahrhundert ausgeschieden. Sie habe sich dann als Macht ent-machtet.
Doch alles beginnt mit der Urkatastrophe, dem Ersten Weltkrieg. Münkler verweist darauf, dass es bei der Versöhnung mit Frankreich und den großen geschichtsbildenden Gesten eben auch um die Begegnung Adenauer und de Gaulle in Reims ging und später zwischen Mitterand und Kohl an den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, in Verdun. Die einseitige These des Buches von Historiker Fritz Fischer: „Der Griff nach der Weltmacht“ habe ein australischer Historiker Christopher Clark gut abgewehrt. Er habe auch die Rolle Serbiens und Österreich Ungarns bei der Entstehung des Ersten Weltkriegs zurückgelenkt.
So wie auf Hegel, so geht auch Münkler immer zurück auf „Vom Kriege“ von Clausewitz. Der hatte schon erklärt, die Defensive sei die stärkere Form mit dem schwächeren Zweck und die Offensive sei die schwächere Form mit dem stärkeren Zweck. Deutschland entschied sich 1905 für die Offensive. Der Kandidat für den Generalstabschef Colmar von der Goltz wurde nicht genommen, er galt als ernsthafte Alternative zu Helmuth von Moltke d.J.
Wahr bleibt nach der Ukraine, Syrien, dem IS, Libyen, was Münkler im Ersten Satz schreibt: „Die Angst vor einem großen Krieg ist nach Europa zurückgekehrt“. Ursache sei das aggressive Agieren Rußlands gegen die Ukraine, nachdem diese sich durch einen Umsturz aus dem Gefolgschaftsverhältnis zu Moskau gelöst hatte.
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