Lesebuch „Fukushima“
Ein neues Buch über Fukushima und die Folgen. Ein Buch ganz anderer Art, eines zum besseren Verstehen dessen, was in Japan vor sich geht – und was nicht. Eine Rezension von Udo E. Simonis
Keine Katastrophe ist vom Moment ihres Eintretens an („3/11“) so umfassend dokumentiert worden wie die Dreifach-Katastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Kernschmelze in der japanischen Region Tohoku. Nun gibt es dazu sogar ein „Lesebuch“ in Deutsch – ein umfangreiches Buch mit Übersetzungen, Kommentaren und eigenständigen Essays.
Es ist eines der Ergebnisse eines gemeinsamen Forschungs- und Lehrprojekts der Japanologien an den Universitäten von Frankfurt am Main und Leipzig. Zwei Professorinnen haben es konzipiert, 13 junge Wissenschaftler und 16 (!) Wissenschaftlerinnen haben sich im Rahmen des Internetprojekts „Textinitiative Fukushima“ fast zwei Jahre lang mit japanischen Quellen befasst, wichtige Zeitzeugendokumente übersetzt, Interviews mit Aktivisten und Künstlern geführt und Analysen der Debatte um die Folgen der Dreifach-Katastrophe und das „System Japan“ vorgenommen.
Was hat „Fukushima“ über die menschlichen Tragödien hinaus in Japan bewirkt? Ist die These einer durchgreifenden Zäsur verifizierbar? Haben sich Chancen eines grundlegenden Wandels ergeben – und wurden sie genutzt? In vier Teilen will das „Lesebuch“ Antworten auf diese Fragen geben.
Teil I ist der Einführung der Atomenergie in Japan gewidmet, insbesondere der Rolle der USA hierbei, wie aber auch den Arbeitsverhältnissen in den Atomkraftwerken.
In Teil II wird die Repräsentation des Themas „Fukushima“ in Literatur, Film und Theater, in der Fotografie wie aber auch im Manga betrachtet.
Der Medienmanipulation wie der medialen Aufklärung ist der Teil III gewidmet.
Der abschließende Teil IV gilt den politischen Diskussionen in Japan, den Protesten der Bevölkerung und der neuen kritischen Öffentlichkeit.
Die Bilanz der Dreifach-Katastrophe und ihrer Folgen ist aus Sicht der Herausgeberinnen verheerend. Ja, sie meinen gar, dass es „…vielleicht kein ‚davor‘ und ‚danach‘ (gibt), sondern nur ein Kontinuum der an der Plutokratie ausgerichteten Strukturen und Verhaltensweisen“ (S. 10). Doch das „Lesebuch“ soll zwei Jahre nach „3/11“ der intellektuellen Isolierung Japans entgegenwirken. Man will die Japaner nicht allein lassen mit ihren ungelösten gesellschaftlichen Problemen, mit den vielfältigen politischen Widersprüchen. Und hierzu präsentiert das Buch eine Fülle an detaillierten Einblicken.
Es beginnt mit der Übersetzung von Berichten von Takeshi Kawakami, eines Schweißers, der im Rahmen von Inspektionsarbeiten in einer Vielzahl von japanischen Atomkraftwerken gearbeitet hat. Mir ist inhaltlich wie politisch kein vergleichbarer Bericht eines deutschen Kraftwerkarbeiters je zur Kenntnis gekommen. Ausgehend von der Grundidee des Buches, japanische Quellen dem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen, werden sodann zwei grundlegende Dokumente (von Yuichi Funakoshi und Shun’ya Yoshimi) über die Entwicklung der Atomenergie in Japan kommentiert, einschließlich der Geschichte des Atomkraftwerks Fukushima.
Dieser Beitrag, der die Verschiebung in der Wahrnehmung der Atomkraft von der alles bedrohenden Bombe hin zur friedlichen und vermeintlich sauberen Energie nachvollzieht, liest sich wie ein politischer Krimi. Wer waren die Akteure, was ihre Interessen – und welche (raffinierten) Methoden wurden eingesetzt zur allgemeinen Erhöhung der Akzeptanz dieser Technik?
Einer der vielbeachteten Folgen von Fukushima war die Wiederentdeckung eines Textes von Norio Hirai aus dem Jahre 1996: „Ich möchte, dass die Leute erfahren, was Atomkraftwerke wirklich sind.“ In diesem Text verwies Hirai, ein früher ‚whistle-blower‘, unter anderem auf die entscheidende Hürde, die es der japanischen Regierung erschwere, ja unmöglich mache, einen Atomausstieg zu befürworten: „Der Grund, warum Japan nicht aussteigt, ist der, dass es nicht den Mut hat, bei einer einmal entschiedenen Sache auf halbem Weg umzukehren“ (S. 68).
„Kunst und Katastrophe“ heißt der Titel des zweiten Teils, in dem die Rolle der Theater- und Performanceszene, der Fotografie (sehr beeindruckende Bilder von Kazuma Obara) und des Films betrachtet werden – und natürlich auch die der japanischen Comics (Mangas). Im dritten Teil fand ich die Analyse der Medienstrategien der japanischen Atom-Lobby besonders erhellend.
Die beiden Herausgeberinnen sind mit eigenen Analysen im vierten Teil des Buchs vertreten, die eine (Lisette Gebhardt) mit einer Skizze der kritischen japanischen Öffentlichkeit, die andere (Steffi Richter) mit einem Bericht über die Situation „vor Ort“ – in der Stadt Fukushima.
Das Buch endet mit einem Namens- und einem ausführlichen Sachregister. Das Sachregister belegt, worauf im Buch besonders intensiv Bezug genommen wurde: auf das „Atom-Dorf“ und die japanische Atom-Lobby, auf die Anti-Atom-Bewegung, auf Demonstrationen, auf die Dreifach-Katstrophe selbst, auf die Radioaktivität und die Verflechtung von Politik, Medien und Wirtschaft.
Dieses Register zeigt aber auch, was dagegen vernachlässigt wurde, was man sich in einem umfassenden „Lesebuch“ über Fukushima auch gewünscht hätte: So taucht der Begriff „Energiewende“ nirgendwo auf, auch nicht das Exit aus der Atomtechnik – womit die vielfältigen Möglichkeiten der erneuerbaren Energien (von Sonne, Wind, Biomasse, Geothermie, Wellenenergie) in einem sehr technikaffinen Land unterbelichtet bleiben.
Der Ökologie- und Umweltbewegung Japans hätte man sich stärker widmen können und den Texten, die es dazu gegeben hat, wie beispielsweise die „Fukushima Deklaration“ des Forum für Nachhaltiges Management oder die Internetaktivitäten eines der weltweit besten Newsletter – des „Japan for Sustainability (JFS) Newsletter“.
Doch in der Annahme, dass das gemeinsame Forschungs- und Lehrprojekt der Japanologien von Frankfurt und Leipzig fortgeführt wird – ja, unbedingt fortgeführt werden sollte – wird es dazu in Zukunft gewiss auch ein Buch – ein weiteres „Lesebuch“ – geben.
Quelle
Udo E. Simonis 2012 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik amWissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Kurator der Deutschen Umweltstiftung