Nachhaltige Stadt – Urbane Transformation zur Nachhaltigkeit
Gibt es bereits die „nachhaltige Stadt“ und „nachhaltige Urbanisierung“? Wenn nicht, wie könnten sie entstehen? Zwei Bücher zum Thema – und eine Einschätzung dazu von Professor Udo E. Simonis
Zwei Bücher über die Stadt der Zukunft und die zukünftige Urbanisierung, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Das eine ein Zufallsprodukt eines Fachkolloquiums der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU), das andere ein Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Die Autoren des ersten Buches, 17 Stipendiaten völlig unterschiedlicher Fachgebiete; die Autoren des zweiten Buches, 9 namhafte Professoren verschiedener Fakultäten, unterstützt von insgesamt 22 Assistenten und anderen Zuarbeitern. Im Duktus ähnlich die Titel der Bücher: Hier der apodiktische Titel „Die nachhaltige Stadt“ (deren Nichtexistenz man sogleich konstatiert), dort der provokatorische Titel „Der Umzug der Menschheit“ (womit man die erwartete hohe Urbanisierungsrate der Zukunft ins Licht rücken will). Seltsam ähnlich die jeweilige Autorenschaft. Wer an Stadtentwicklung und Urbanisierung denkt, wird zuerst an Stadtplaner denken. Diese Fachkompetenz aber findet sich nicht; nur ein Architekt beim ersten, eine Geographin beim zweiten Buch. Eine solche Autorenschaft lässt einiges an Defiziten und Kontroversen erwarten. Doch nun erst mal der Reihe nach …
Das erste Buch besteht aus 9 Kapiteln. In Kapitel 1 soll es um die „nachhaltige Stadt“ als Herausforderung für das Verständnis des menschlichen Handelns gehen. Was eine nachhaltige Stadt ist oder sein könnte, wird darin aber in keiner Weise angesprochen, sodass auch nicht ansatzweise klar wird, worin ihre besondere Herausforderung an menschliches Handeln liegen sollte. Kapitel 2 bringt das selbstgestellte Thema auf andere Weise auf den Nullpunkt: Dem Titel nach soll es um die unterschiedliche Deutung des Begriffs „nachhaltige Stadt“ gehen. Doch dann ist da von ganz andersartigen Modellvorstellungen die Rede, von energieautarker, technokratischer, wachsender, europäischer Stadt, lernender Stadt und Postwachstumsstadt. Ob es irgendwo bereits eine „nachhaltige Stadt“ gibt oder worum es dabei nach Ansicht der Autoren gehen sollte, wenn es sie noch nicht gibt – die conclusio also – bleibt offen.
Kapitel 3 soll die Behandlung der „nachhaltigen Stadt“ in den Medien nachzeichnen, doch in Wirklichkeit geht es nur um die Erwähnung der betreffenden Worte in FAZ, Spiegel, SZ, taz und Welt. Ob und wie Zeitungen ein so wichtiges Thema promoten könnten, hätte ein wichtiger Beitrag werden können, wenn nur klar wäre, was die Autoren des Kapitels (wie auch des Buches insgesamt) an konzeptueller Grundlegung anbieten oder präferieren würden. Immerhin, in den folgenden vier Kapiteln werden einige praktische Handlungsfelder betrachtet, die für eine nachhaltige(re) Stadt bedeutsam sein könnten: nachwachsende Rohstoffe; Energieeffizienz; Mobilität; Grünflächenmanagement.
In Kapitel 8 geht es um Bildung für nachhaltige Entwicklung, doch es beschränkt sich auf das Einkaufen in der Stadt, den privaten Konsum also, nicht auf die nachhaltige Stadtentwicklung und den städtischen Umbau, was nahe gelegen hätte, weil ja gerade dafür gelernt werden muss. Beim abschließenden 9. Kapitel geht es um Städte als „Postwachstumsökonomien“ , ein Thema, das bei stagnierender Bevölkerungszahl relevant sein mag, ganz gewiss aber nicht in Regionen der weiteren raschen Urbanisierung und der erwarteten hochurbanen Welt der Zukunft.
Das genau ist der expansive globale Trend, der zur Konzeption des zweiten Buches, des Hauptgutachtens des WBGU von 2016 führte, dem zwar ein plakativer, Aufmerksamkeit erheischender Titel gegeben wurde, das aber eine reale Wachstumsgeschichte der besonderen Art beschreibt.
Das 21. Jahrhundert werde ein „Jahrhundert der Städte“ sein. Urbane Räume würden zur zentralen Organisationsform nahezu aller menschlichen Gesellschaften. Die globale Stadtbevölkerung könne sich, so wird unterstellt, bis zum Jahr 2050 von heute knapp 4 Milliarden auf dann 6,5 Milliarden Menschen vergrößern. Dieser „Umzug der Menschheit“ gestalte sich als massives demographisches Wachstum innerhalb von Städten, durch Zuzug von Menschen vom Land in die Stadt, aus Klein- und Mittelstädten in die Metropolen, durch Migration zwischen armen sowie armen und reichen Ländern, und durch sozialen Aufstieg aus Armutssiedlungen in die Quartiere der Mittelschichten – so die Problemskizze. Dieser Umzug solle möglichst nachhaltig gestaltet werden – so die normative Lösungsperspektive. Doch wegen der höchst unterschiedlichen Gegebenheiten in den Städten – so eine Einschränkung – sei es unmöglich, dafür Blaupausen zu entwickeln, die in allen Städten umgesetzt werden könnten.
„Die“ nachhaltige Stadt gibt es also nicht – so die Hypothese des WBGU, implizit interpretiert. Sehr wohl aber hat sich in den letzten Jahrzehnten „nachhaltige Urbanisierung“ international als Thema etabliert. Die Zahl globaler, teilweise regelmäßiger Berichte und Studien zum Thema ist gewachsen, deren Problembeschreibungen trotz wechselnder Ansätze und Schwerpunkte in weiten Teilen auch ähnlich sind. Deutliche Unterschiede zeigten sich hingegen in der Problemlösungssicht: Viele Untersuchungen konzentrieren sich auf technisch-infrastrukturelle Analysen und thematisieren daran ansetzende Investitionserfordernisse; andere dagegen konzentrieren sich auf das Thema urbane Governance oder widmen sich der speziellen Kombination mit einem sektoralen Thema.
Zur Vorbereitung auf die eigene Position werden in Kapitel 1 des WBGU-Gutachtens zunächst die allgemeinen Urbanisierungstendenzen aber auch die ausgeprägte Diversität der Städte aufgezeigt und in Kapitel 2 die Anforderungen an die urbane Transformation zur Nachhaltigkeit (die politische Botschaft) formuliert. Mit einem „normativen Kompass“ positioniert sich der WBGU dann in Kapitel 3 in seinem Grundverständnis der nachhaltigen Entwicklung – um sagen zu können, was eine nachhaltige Stadt und was nachhaltige Urbanisierung ist oder sein könnte (die methodische Absicherung).
Aus Sicht des WBGU fehlt bisher (so die programmatische Perspektive) vor allem die kohärente Einbettung des Themas in ein langfristig und strategisch angelegtes urbanes Transformationskonzept, das Größenordnungen und Dringlichkeiten des Wandels verdeutlicht, sowie die systematische Ableitung von konkreten Handlungsempfehlungen mit transformativer Zielsetzung. Vor diesem Hintergrund entwickelt der WBGU seinen Ansatz der urbanen Transformation in Form einer Doppelstrategie – mit (a) konkreten transformativen Handlungsfeldern und (b) transformativer urbaner Governance.
In Kapitel 4 werden dazu zunächst fünf Bereiche der Stadtentwicklung (die Handlungsfelder) identifiziert, in denen die größten potenziellen Hebelwirkungen für die urbane Transformation zur Nachhaltigkeit gesehen beziehungsweise vermutet werden: Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft (= Nullemissionen); Überwindung der Dominanz des motorisierten Individualverkehrs; Verbesserung der baulich-räumlichen Gestalt der Städte; Anpassung der Stadtentwicklung an den Klimawandel; Abbau von Armut und sozioökonomischer Disparitäten in den Städten. Zusätzlich werden Empfehlungen zu drei weiteren Handlungsfeldern gegeben, die aus Sicht des WBGU bisher zu wenig Beachtung finden: Gemeinwohlorientierte Gestaltung der Flächennutzung; Nachhaltiger Umgang mit Materialien und Stoffströmen (= vollständige Kreislaufwirtschaft); Förderung des gesunden Lebens in Städten.
Das vom WBGU propagierte Konzept der transformativen urbanen Governance (zweites Element der Strategie) umfasst vor allem eine neue Verantwortungsverteilung: Die Nationalstaaten sollten die Städte als Träger von Rechten und Pflichten anerkennen, ihre Eigenart fördern und nicht nivellieren, die Selbstverwaltung stärken und die Bewohner zu substanzieller Teilhabe befähigen. Weil all dies auch Geld kostet, werden ergänzend auch Empfehlungen zur Finanzierung der nachhaltigen Entwicklung formuliert.
Wie das neue gesellschaftlich-politische Grundverständnis der urbanen Transformation zur Nachhaltigkeit international verankert werden könnte, ist das Thema von Kapitel 5. Im Vorausblick auf die Habitat-Konferenz 2016 und in Anlehnung an das Hauptgutachten zur Großen Transformation von 2011 wird hierzu die Idee des Gesellschaftsvertrages wieder aufgegriffen und mit Hinweisen auf die „Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ von 2007 als realisierbar eingestuft.
In Kapitel 6 des Buches werden die Empfehlungen zu den präferierten Handlungsfeldern und zur zukünftigen urbanen Governance ausführlich und zugleich übersichtlich dargestellt – woraus sich ein eigenständiges Handbuch zur Gesamtthematik der urbanen Transformation (beziehungsweise der nachhaltigen Stadt) entwickeln ließe.
Die urbane Transformation zur Nachhaltigkeit (der Weg zur nachhaltigen Stadt) ist, so betont der WBGU zum Abschluss (Kapitel 7) ein Suchprozess. Deshalb kommt der weiteren Forschung eine besondere Rolle zu. Um diese Rolle näher bestimmen zu können, greift der WBGU auf die Unterscheidung zwischen „Transformationsforschung“ und „transformativer Forschung“ zurück, die er bereits in seinem Gutachten von 2011 geprägt hatte, benennt relevante Schlüsselthemen, Anforderungen an die Art der betreffenden Forschung und Empfehlungen für deren weitere Entwicklung – auch und besonders mit Blick auf den bis 2050 erwarteten großen globalen Urbanisierungsschub .
Vieles was in diesem Forschungskapitel angesprochen wird, ist auch dem Rezensenten wichtig. Doch hat der WBGU darin auch einiges vergessen. So wird zwar das Thema Urbaner Metabolismus angesprochen, doch die Notwendigkeiten und Chancen des „Urban mining“ wurden vergessen – was angesichts der globalen Ressourcenverknappung ein wichtiges Handlungsfeld werden wird. Vergessen wurden aber auch – und zwar in beiden Büchern – was schon in den 1980er Jahren in Deutschland konzeptionell und inhaltlich zu den Themen „Ökologischer Stadtumbau“ und „Ökologische Stadtentwicklung“ erarbeitet worden war – und gewiss dauerhaft relevant bleibt.
Fazit: Nicht alles, was in den beiden Büchern zum Thema nachhaltige(re) Stadt und urbane Transformation zur Nachhaltigkeit gedacht wird, ist miteinander kompatibel oder baut aufeinander auf. Vieles wird diskutiert, was neu und innovativ ist; anderes wird vergessen, was sehr wohl noch relevant und wichtig wäre. Erfreulich ist, dass nicht nur staatlich berufene Gutachter an diesen komplexen Themen dran sind, sondern auch junge, lernbegierige Leute. Dass man aber auf die Expertise und Erfahrung von Städteplanern verzichtet hat, ist misslich; dass Physiker sich um die Anpassung der Städte an den Klimawandel kümmern, ist dagegen sehr erfreulich – und dass das voluminöse und anspruchsvolle Gutachten des WGBU kostenlos erhältlich wie auch online abrufbar ist, natürlich auch.
- Matthias Stier & Lars Berger (Hrsg.) „Die nachhaltige Stadt“ – online bestellen!
- Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU): „Der Umzug der Menschheit – Die transformative Kraft der Städte“ | WBGU 2016 – kostenlos
- download des Gutachtens als pdf (12 MB, 545 Seiten)
- download des Gutachtens als pdf (20 MB, 545 Seiten) hochaufgelöst
- download der Zusammenfassung als pdf (724 KB, 43 Seiten)
Quelle
Udo E. Simonis 2016 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Redakteur des Jahrbuch Ökologie