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Politische Zeiten: Beobachtungen von der Seitenlinie

Was waren das für Politische Zeiten! Zu einem Erinnerungsbuch von Claus Leggewie. Von Rupert Neudeck

Es ist ein erstaunlich informatives, offenes und selbstkritisches Buch und deshalb bereit die Lektüre Erkenntnisgewinn, auch wenn das Ganze aus einer subjektiven Position des Beobachters und Agenten der Zeitgeschichte hervorgeht. Claus Leggewie war immer mehr als die eine Zuschreibung es erlaubt, die man kennt: Er ist in den letzten beiden Jahrzehnten einer der bekannten Soziologie- Professoren im Nachgang zu Ralf Dahrendorf und in freundlicher Konkurrenz zu Ulrich Beck gewesen. Er hat den Professor immer anders verstanden als im akademischen Elfenbeinturm und so wirkt die sehr detailfreudige Nachlese aus fünf Jahrzehnten Bundesrepublik auch mehr wie die distanzierte Sicht des akademischen Forschers und Lehrers auf die Niederungen der Republik.

Die Begründung für das Buch ist ganz einfach. Claus Leggewie nähert sich der Pensionsgrenze, 65 Jahre, und er hat eine Menge unter einen oder mehrere Hüte gebracht. Der junge Claus Leggewie hat sehr viel direkt erlebt, als – wie man heute bombastisch sagt – investigativer Journalist (als ob ein Journalist anders denn investigativ sich verstehen dürfte?!) wie auch als neugieriger Zeitgenosse, der die Chaos und Anarcho-Wellen der jungen Republik in den 68er Zeiten hautnah und immer auch kritisch miterlebt hat. Das Buch erreicht seinen Höhepunkt in den ausführlichen Kapiteln über die reichhaltige linke Szene in der damaligen westdeutschen Bundesrepublik. Leggewie hatte immer eine Neigung, sich in französischen intellektuellen Verhältnissen zu tummeln. Deshalb sind die Geschichten über die Kofferträger – die französischen Intellektuellen, die zu Kofferträgern der algerischen FLN und von Ben Bella wurden.

Zu denen gehörte auch ein Liebhaber arabischer Menschen und Kulturen, wie wir ihn in Deutschland weder vorher noch nachher hatten: Hans-Jürgen Wischnewski, der mit beteiligt war, das aber verschmitzt nur verdeckt tun konnte. Listig, wie Leggewie die Geschichte erzählt, wie er dann endlich doch den späteren Kanzleramtsminister Ben Wisch interviewen konnte, einer der vorausschauenden Politiker aus Instinkt, den das Nachkriegs- Deutschland je gehabt hat. Er hatte sich nie gemein gemacht mit der Gewaltorgie, die die Linke in Deutschland weit über die RAF hinaus entfaltete. „Das ambivalente Verhältnis zur Gewalt ist eine Leiche im Keller der APO, der laxe Umgang mit Pädophilie die andere. Daniel Cohn-Bendit war vom zotigen Baader-Meinhof-Sprech angeekelt, erschien aber im Oktober 1968 zum Kaufhaus Prozess gegen „Baader, Ensslin und Proll“. Er beschreibt für die Nachgeborenen das Pfingstwunder des „Sozialistischen Büros“ (SB) und auch die Episode, in der gegen den polnischen Staat mit einer Apotheose auf die Solidarnosc gearbeitet wurde. Aber der Autor erwähnt auch die leere Offenbacher Stadthalle, in die das SB die polnischen Solidarnosc Helden eingeladen hatte: „gähnende Leere, die Polen blieben unter sich“.

Leggewie beschreibt, wie man sich im linken Milieu bekämpfte und beneidete. Er versucht, Oskar Negt gerecht zu werden, was aber nicht einfach ist, denn der Hannoveraner Guru war manchmal schlicht unfair. Interessant ist die Auseinandersetzung mit der alten Akademiker-Elfenbeinrolle, die früher dazu führte, dass jemand bei der Berufungsverhandlung durchfiel, weil er mal einen Leserbrief in einer Frankfurter Zeitung geschrieben hatte. Oder, wie Goethe missachtend sagte: „Gar mancher kommt vom Lesen der Journale“.

Das Ganze hat in unseren Lebensjahrzehnten ja noch eine beträchtliche Aufmerksamkeitssteigerung durch das Fernsehen gefunden. Man behauptet, dass man als Prof im akademischen Milieu nicht zu TV-Einladungen gehen dürfe, aber wenn man eingeladen wird, geht man eben doch hin. Und wird dann auch beneidet auf akademische Weise, denn nicht jeder wird eingeladen, sondern nur die, die sich im Stande sehen, an einer solchen Hackordnung in solchen Shows sich zu beteiligen.

Das Buch bietet sich, wie der Autor anweist, als Leselust an, in dem Sinne, dass man es nicht durchlesen muss. Es bietet Bruchstücke aus dem Steinbruch eines reichen Zeitgenossen-Lebens an. Immer mit einem neuen Kapitel eine neue zeitaktuelle Geschichte. Durchaus kurzweilig, weil es schon spannend ist zu erleben, wie sich jemand aus dem Kölner katholischen Klüngel verabschiedet und ihm (irgendwie säkularisiert) doch vertraut und verhaftet bleibt. Die Anfangsjahre der Republik gespiegelt in dem Nacherleben des Sohnes eines Schuldirektors, ist spannend zu erleben. Später sind es dann auch manchmal etwas zu eitle Selbstbespiegelungen des Reporters, Buchautors, Dozenten und dann eben auch Professors, die eigenen Bücher sind ganze Kapitel.

Aber er behält die kritische Warte immer bei, bemerkt, wie schwer sich die universitäre Landschaft mit unangepassten Professoren verhält wie mit jenem Harald Welzer, mit dem Leggewie einige Publikationen zusammen macht.  Die Schneiderschwerte Geschichte ist unglaublich: also die Geschichte des SS-Intellektuellen, im Krieg im „germanischen Wissenschaftseinsatz“ mit Namen Hans Schneider tauchte nach April 1945 auf der Flucht zwischen Berlin und Lübeck unter. Er nahm den Namen Schwerte an, heiratete als angeblicher Vetter Schneiders seine Frau noch einmal, nahm seine älteste Tochter an Kindes statt  an und hat als Herr Schwerte noch einmal zwei weitere Kinder gezeugt. Als Hans Schwerte bekam er den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Rheinisch-Westfälischen technischen Hochschule. Das zu lesen allein ist schon eine massive Herausforderung für die Nachgeborenen: Wie es SS-Intellektuelle geschafft haben, sogar durch Änderung Ihrer Identität eine neue universitäre Existenz aufzubauen und durchzuhalten bis zur Emeritierung. Das, was das Buch auszeichnet, ist  natürlich das Eigen-artige des kaum angepassten Professors. Leggewie machte sich immer wieder auch an den Rändern der Gesellschaft wie auf ihren Straßen zu schaffen. Er gab sich nicht mit dem Betrieb und der Inzucht des Uni-Bereiches zufrieden.

Das Buch bietet einem alten Klassenkämpfer natürlich auch merkwürdige Einblicke. Wann muss der Globetrotter Claus Leggewie eigentlich an der Uni in Gießen oder Essen arbeiten, Vorlesungen halten, Seminare führen und Doktorarbeiten betreuen? Er hat natürlich immer das Alibi der gut zahlenden Wochenzeitung DIE ZEIT im Köcher, die ihm für seine Artikel in dem deutschen Intelligenzblatt immer so viel gibt, dass er davon ganze Weltreisen bezahlen kann. Im Kapitel Geopolitik eines gewöhnlichen Menschen erreicht diese Lust und Sucht zu weltumspannenden Reisen seine  Höhepunkte. Er führt das auch so ein: Im Juni 1993 klingelte das Telefon und gleichzeitig rauschte ein Fax aus seinem Gerät. Ohne Kenntnis voneinander luden die Goethe Institute von Buenos Aires und Melbourne zu unterschiedlichen Themen ein. Natürlich ist ein Professor, der sich damit als reiselustiger UNI-Lehrer Weltreisen genehmigen kann, ein Freund der Goethe Institute, wie soll es auch anders sein.

„Ich war mit ‚Goethe um die Welt‘ gereist und habe mich der Anforderungen vor Ort hoffentlich als würdig erwiesen“. Die beiden Einladungen von zwei verschiedenen Enden der Welt verbinden sich für den Autor zu einer „Reise um die Welt in achtzig Tagen“, die er sich als Kind schon erträumt hatte. Er erwähnt aber ein anstehendes Forschungsfreisemester, das ihm das neben dem Ticket der Casa Goethe erlaubte. Die Route erwähnt er sehr stolz: „Frankfurt, Bombay, Kalkutta, Taipeh, Hongkong, Melbourne, Sydney, Buenos Aires, Montevideo, Santa Cruz, Rosario, Santiago de Chile, Lima, Miami, Frankfurt.“ Da wird man als normal lebender Zeitgenosse und Leser ganz schön neidisch. Er geht dann noch mal in das benachbarte Österreich in der Zeit der EU-Sanktionen gegen Österreich, weil sich dort ein Bundeskanzler Schüssel mit dem Jörg Haider verbunden hatte. Der letzte Teil ist der Kontinentalflucht Amerika gewidmet, um dann zu einer Art fliegenden und umherschweifenden Fazit zu kommen: Immer noch Apo? Dr. h.c. Edgar Snowdon, Fröhliche Wissenschaft – zurück ins Revier. Agnostiker wie Du. Dieses letzte Kapitel bringt  noch die vage Enthüllung, die man schon am Anfang für möglich hielt. Der Autor gehörte als 8jähriger zu der Millionenschar von Messdienern, von denen wir ja jüngst in einem Buche erfuhren, dass fast alle begnadeten Show-Entertainer des Fernsehens das auch gewesen sind. Aber er wehrt sich dagegen ein Ungläubiger zu sein, obwohl er mit allem, was eine Zugehörigkeit zu irgendeiner Glaubensgemeinschaft und Kirche bedeuten würde, kategorisch ablehnt, ja ihm physischen Widerwillen einflößt. Da war wahrscheinlich auch zu viel Druck auf ihn in der eigenen Kindheit.  

Man darf das Mäkeln an dem Buch aber nicht zu weit treiben, es enthält ausführliche glänzende Kabinettstücke an Reportagen, die im besten Fall zu einer Land-, einer Stadt-, einer Zustandsbeschreibung gerinnen, die man nach der Lektüre kaum vergisst. Der Autor war, eben auch und gerade als Professor, ein aufmerksamer und neugieriger Zeitgenosse. Ein solcher Länderessay ist eben das 50. Kapitel: „Mali. Ein Traum“. Er hat die Kultur- und Filmszene Malis schon vor seiner Reise kennengelernt, erwähnt die Filme des Geheimtips Soulaymane Cisse (z.B. „Cinq Jours d’ete“. Er kennt die ganz reiche und überschäumende Musikszene, die jetzt unter dem Diktat der fanatischen Salafisten aus dem Norden alle schweigen oder schnell ins Ausland, am besten nach Paris verduften müssen. Malis Problem, einen legitimen Staat zu erhalten, sei auch ein europäisches Problem, schreibt Leggewie. Denn es sei nie gelungen, „dem donor darling in Westafrika jene nachhaltige Zusammenarbeit angedeihen zu lassen, die Armut, Ungleichheit und ethnische Spannungen verringern und den Jungen eine Zukunft jenseits von Scharia und Schmuggel bieten“.

Die Herrschenden in Bamako werden im ganzen Land als korrupte Clique wahrgenommen, die ihre Macht missbraucht und die Demokratie als Herrschaftsform in Verruf gebracht hat. Demütigend sei es, sich nicht selber zur Wehr setzen zu können, sondern jetzt tausende von ausländischen Soldaten auf dem eigenen Boden zu haben. Auch ein Hochschulprofessor möchte in einer solchen Situation wenigstens etwas tun. Seine Familie nimmt Fatou als vierjähriges Patentkind an. „Hoffentlich wird meine Tochter ja mal unser Patenkind besuchen können“. Dann kommt noch der Teil, bei dem Leggewie sich mit linken Freunden auch noch mal anlegt, denn er gibt freimütig zu erkennen, dass er die ideologischen US-Hasser nur von ferne bewundern kann. In vier Jahren USA-Tätigkeit hat er die Schwächen, aber mindestens zugleich auch die vitalen Stärken des US-Kontinents erleben können.

Er bekennt sich zu John F. Kennedy und seinem Satz: Frage nicht, was dein Land für dich tut usw. Kennedy wurde später der Auslöser des Vietnamkriegs, der fast eine ganze Generation zu US-kritikern und Amerikahassern gemacht hat. „Mich nicht“, bekennt der Autor. Zwar habe auch er „Ho – Ho-Ho Chi Minh“ gebrüllt, aber die „Grundsympathie für Amerika ging nie verloren“.  Sein „Handorakel“ in den USA sei nicht Max Webers Protestantische Ethik gewesen, sondern das wuchtige Buch von Hannah Arendt On Revolution. Sie verband die beiden großen Revolutionen der Menschheit, die amerikanische mit der französischen. Unter Freiheit verstand die Autorin weniger die Befreiung von Not, Elend oder Furcht, als die Möglichkeit, frei zu handeln und Neues zu beginnen. Es habe den 68ern geschmeichelt, dass die große jüdisch-amerikanische Autorin eine solche Möglichkeit erblickt hatte. Es sollte eben – das ist fast ein Fazit für Leggewie, nicht heißen Frankreich oder Amerika, sondern Frankreich UND Amerika. In Paris hätten sich dies Anhänger der Fusion La Gauche Americaine genannt.

Der Autor besticht durch eine gehörige Portion Non-Konformismus, darin ist er ein guter Schüler von Albert Camus, den er oft zitiert, der zu seinen Lebzeiten von der konformistischen Moskau-hörigen Linken ständig ins Abseits manövriert wurde. Die Kapitel über den Besuch in Rom beim Papst Johannes Paul II zeigen den Autor bewegt, der ja von seinen katholischen Wurzeln ganz entfernt ist: „So wenig ich die Katholische Kirche noch schätzte…, hier war mir klar, dass ich der bedeutendsten Figur der Zeitgeschichte in meinem Leben persönlich begegnet war.“ Durch sein körperliches Leiden (1996) habe die wache Schalkhaftigkeit durchgeblitzt. Er ist gegen die Amerikahasser, die nur die Intoleranz gegen Schwarze, Schwule, Muslime aufspießt, er ist gegen die Russland-Versteher, die nicht sehen wollen, wie bedroht sich die Menschen in Russland und den Anrainerstaaten fühlen. Er weiß immer zu unterscheiden zwischen dem Regime und den Russen und beobachtet einen älteren Russen, der während einer langen Rotphase an der Ampel ganze Passagen aus Heinrich Heines Wintermärchen zitierte. Deshalb – das Buch springt an manchen Stellen voraus in unsere Aktualität – kann er nur den Gerhard Schröder von ferne bewundern, der da bei einer wissenschaftlichen Veranstaltung in Sankt Petersburg erklärt: „Jetzt erst recht: Putin ist mein Freund“, während den Tag über vor dem Hotel Astoria – in dem der Gazprom Deutsche residierte – Homosexuelle zusammengeschlagen wurden. Leggewie: Russland Verstehen würde für ihn eher bedeuten, „die Wut der Leidtragenden und Hilflosen zu verstehen, wenn Opponenten nach Sibirien verbannt und Journalisten exekutiert werden“.  

Am Schluss geht er noch mal auf ganz aktuelle Themen im Rahmen seiner Lebensreise ein. Geboren in Wanne Eickel muss er sich gestehen, dass es diese Stadt nicht mehr gibt, obwohl ganz Deutschland noch das „Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne Eickel“ kennt, ein Schlager von Friedel Hensch und den Cyprys von 1962. Als er damals dort geboren wurde, lag „millimeterdick schwarzer Staub auf den Fensterbänken, weiße Hemdkragen wurden rasch dreckig. Essen war damals das industrielle Herz Westdeutschlands. Heute wartet man, bis 2018 die letzten beiden Zechen Prosper Haniel und Auguste Victoria ihre Tore zu machen. Und würden sie nicht aus Kostengründen stillgelegt, müsste man sie der Treibhausgase wegen schließen. Leggewie: „Inzwischen weiß doch jedes kleine Kind: Fossile Energieträger sind kohlenstoffhaltig. Bei ihrer Verbrennung entsteht Kohlendioxid, das großenteils in der Atmosphäre deponiert wird. Um eine gefährliche Erderwärmung und den Anstieg des Meeresspiegels zu vermeiden, muss der Einsatz kohlenstoffhaltiger Energieträger bis 2070 auf null gefahren werden“.

Wie sagte Napoleons Mutter zu ihrem Sohn bei derartigen hochgemuten Plänen: „Pourvu que ca dure“, Rheinisch übersetzt: „Wenn dat man anhält“!

Claus Leggewie „Politische Zeiten – Beobachtungen von der Seitenlinie“

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Quelle

Rupert Neudeck 2015Grünhelme 2015

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