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Tagebuch einer Flucht

Mein Traum war es, nach Europa zu kommen. Zu einer Zeitgeschichte der Afrika Migration. Von Rupert Neudeck.

Das ist eines der besten Bücher, die wir bisher deutschsprachig über die afrikanische Migration haben. Nach der ersten großen Geschichte des Spiegel Reporters Klaus Brinkbäumer („Der Traum vom Leben“, 2006) und der mit Herzblut geschriebene Erfahrungen der österreichischen Autorin Corinna Milborn („Gestürmte Festung Europa. Einwanderung zwischen Stacheldraht und Ghetto“, 2006)  und der ganz großen Geschichte des Fabrizio Gatti, der ebenfalls die jungen Afrikaner bis in sein Italien begleitete („Bilal“, 2010) vermittelt das Buch noch eine zusätzliche Haltung, die vielleicht den einzigen Schlüssel zur Lösung finden lässt: Miriam Faßbender ist sich immer der beschämenden Tatsache bewusst, dass sie als Weiße und Europäerin und Trägerin des Passes der Bundesrepublik immer wertvoller, wichtiger, teurer ist als die Habenichtse, mit denen sie auf Afrikas Bazaren und Wegen und Straßen und Zollmauern zu tun hat. Afrika sei zwar gebeutelt, aber keineswegs arm.

Die Geschichten, die sie unterwegs erlebt und gehört habe und die sie in diesem Buch unterzubringen versucht hat, seien der beste Beweis dafür, „den Kontinent dank seiner Menschen im anderen Licht zu sehen. Auf seine Einwohner, die es bis zu uns schaffen, zuzugehen und ihre Erfahrungen als Bereicherung zu sehen“, so fasst die Autorin ihre zum Teil anstrengenden, aber auch einfühlsamen Erlebnisse zusammen.

Sie ist nach Mali, nach Algerien und nach Marokko  gereist, um einen Dokumentarfilm zu machen, über den Fremden und die Geflüchteten. Sie weiß, dass es nicht immer klar ist, ob diejenigen, die sie für den Film zum Mitmachen animiert, davon einen Nutzen haben können. „Als Europäerin, die alleine mit ihrer Kamera unterwegs ist, bestätige ich jegliches Klischee über die Freiheit, die man als Individuum in Europa hat.“ Das zeige, wie ungerecht der Unterschied zwischen Norden und Süden ist. „Die Flüchtlinge müssen nur verdienen oder versuchen, die Gelegenheit zu nutzen“.

Wie die Migranten behandelt werden, findet die Autorin beschämend. Ihre Hauptperson Mohammed war in El Matorral auf Fuerteventura und wollte um Asyl bitten. Das wurde ihm verweigert, weil er illegal versucht habe, diesen Kontinent Europa zu erreichen. Unter Sirenengeheul wurde eine Gruppe von Gambiern, Senegalesen und Maliern zum Flughafen eskortiert. Ihnen wurde versprochen, dass man sie nach Madrid fliegen würde, In dem Flugzeug wurde das Vertrauen nach „gefühlten Stunden des Flugs“ größer, dass es Madrid sein könnte. Aber sie landeten in Bamako, 3115 Kilometer von Madrid entfernt. Mohammed konnte seiner Mutter nicht unter die Augen treten, denn er war die Garantie für den Kredit, den seine Mutter genommen hatte. Und jetzt kam er zurück und hatte die Hälfte des Geldes schon verbraucht.

Der Mindestlohn für einen Migranten ist meist 1 Euro am Tag. Für zwei Stunden Schrott verladen und entsorgen von Altmetall und Aluminiumresten bekommt der Migrant  3030 CFA, das sind 50 Eurocent. Das nehmen sie gerne, um sich etwas für die Vorbereitung der Flucht zu sparen.

1100 Euro brauchen sie für die Überfahrt auf einer Pirogge, einem selbstfabrizierten Holzboot. 1400 Euro für den Transfer mit dem Zodiac, einem Schlauchboot. 3000 Euro koste derzeit die Passage im doppelten Boden eines alten Mercedes.

Es sind drei wichtige Teile, die die Autorin mit dem Leser teilt. In Mali erlebt sie das Tor zur Wüste, das diese Menschen überwinden und durchgehen müssen, koste es was es wolle. Dann kommt sie nach Algerien, nach dem Sudan und dem Kongo das drittgrößte Flächenland Afrikas. Dort gibt es manchmal und manchen Orts auch schon mal Arbeit. Sie erlebt algerische Gastfreundschaft, wenigstens für uns Europäer.

Um dann in dem Eldorado Marokko zu landen, von wo der Weg in viele Teile des Schengen Europas führt, einmal auf die Kanarischen Inseln, zum anderen aber auch nach Europa durch diejenigen, die dort ihre Schule machen. Die Autorin nimmt sich nicht aus, und versucht zu beschreiben, wie es ihr selbst erging an den Orten, an denen die Geflüchteten teilweise jahrelang feststecken, „an denen sie durch die Politik der zunehmenden Militarisierung und Exterritorialisierung der europäischen Außengrenzen all ihrer Rechte und Privilegien beraubt werden.“

Sie habe lange gezögert, das Angebot des Verlages anzunehmen, etwas über ihre Reisen zu schreiben. Das wäre dann eine weitere Geschichten einer weißen Europäerin, ausgestattet mit fragwürdigen Privilegien, im Zusammenleben mit den Geflüchteten, aber immer mit der Gewissheit, bestimmte Situationen in kurzer Zeit mit dem Flugzeug dank des Passes und einer Geldzahlung wieder verlassen zu können.

Und sie verschärft das mit einer Frage, die auch an die Verlage gerichtet ist: Warum wieder eine Geschichte von ihr, der Europäerin und nicht eine der Geflüchteten selbst, die ihre Geschichte am eindrucksvollsten erzählen und damit endlich ein Gleichgewicht der Geschichten zu schaffen vermögen?

Als sie nach mehreren Versuchen dann doch als Touristin nach Adrar in Süd-Algerien durchgelassen wird, erlebt sie weitere dramatische Geschichten. Sie wird erst einmal im Taxi collectif, dann in einem Linienbus  mitgenommen, wird aber aus dem Bus herausgeholt und bedroht. Darauf ist sie dann geflogen und hat den Partner für ihr Filmunternehmen in der Nähe von Tamanrasset gefunden. Sie berichtet von Gesprächen, die der Rezensent auch in Mauretanien führen konnte. Diese jungen Afrikaner sind auf Grund von Mobiltelefonen, Fernsehen und Internet mittlerweile sehr gut über Europa informiert. Sie fragen, ob es derzeit besser ist, sich nach Belgien, Großbritannien oder nach Skandinavien aufzumachen.

Die Autorin ist erstaunt wie hervorragend die jungen Leute über einzelne europäische Länder informiert seien. Und sie sei beschämt, „wie schlecht ich die Situation einzelner afrikanischer Staaten kenne, mal abgesehen von denen, die ich bisher bereist habe oder aus denen ich Menschen kenne“. Wenn sie an ihre Freunde denkt, empfinde sie Schmerz über das europäische Desinteresse gegenüber der afrikanischen Neugier und Aufgeschlossenheit.

Es sind unglaublich eindrucksvolle Szenen, die sie nur deshalb berichten kann, weil sie, die Autorin, sich immer auf der gleichen Höhe der Unannehmlichkeiten aufgehalten hat, in einem Raum mit mehreren Personen nur mit  Matratzen oder Matten auf dem Boden um zu schlafen. Das Buch ist in einer bewegend direkten, unmittelbaren, ohne Taktik und Diplomatie auch den Emotionen freien Lauf lassenden unmittelbar anrührenden Sprache geschrieben. Man muss der Autorin, lesend, nur dankbar sein für eine solche Anstrengung und dass sie uns Europäer daran teilnehmen und vielleicht auch bei dem mitmachen lässt, was man aus dem Buch und den Texten als Aufforderungen herauslesen kann.

Quelle

Rupert Neudeck 2014Grünhelme 2014

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