Vermächtnis des Hans-Dietrich Genscher
Die Stationen des Lebens sind schnell an dem festzumachen, was das Urgestein deutscher Politik erlebt hat. Von Rupert Neudeck
Das ist im Wortsinn ein Vermächtnis, welches der nunmehr über achtzigjährige Hans-Dietrich Genscher hier im Gespräch mit seinem Biographen ausbreitet. Und der Autor hat es so gewinnend und ausführlich formuliert, dass die Fragen oft nur die Stichworte sind, an denen der achtzehn Jahre amtierende Außenminister der Deutschen entlanggeht, um seine Vorstellung von der Vergangenheit und Zukunft zu formulieren. Es ist ein sehr wertvolles Buch geworden. Man kann es dem Autor auch nicht verdenken, dass er seine FDP, seine Freidemokratische Partei gebührend hervorhebt, wird sich aber kaum wundern, dass er den Namen eines seiner Nachfolger als Parteivorsitzender und Außenminister füglich mit Schweigen übergeht (Guido Westerwelle). Sogar Jürgen Möllemann kommt vor, Christian Lindner wird mit großem Lob bedacht, wie auch Genschers unmittelbarer Nachfolger Kinkel.
Die Stationen des Lebens sind schnell an dem festzumachen, was das Urgestein deutscher Politik erlebt hat. Er bringt einige Geschichten heraus, die wir bisher noch nicht wußten, die aber für die Kunst der Diplomatie bestechend wirken. So macht Genscher klar, dass man niemals die Schwäche eines Gegners ausnutzen darf, wenn man mit ihm einmal bessere Beziehungen erstreben will. So wurden Helmut Schmidt und Genscher einmal vom ewigen sowjetischen Außenminister Gromyko gebeten, aus dem Raum herauszugehen, in dem der plötzliche Schwächeanfall des Generalsekretärs der KPdSU Breshnjew erkennbar wurde. Sie haben das sofort getan, es war in der sowjetischen Botschaft 1975 in Helsinki. Schmidt und Genscher wurden von Gromyko gebeten, sich vorzeitig zu verabschieden, „damit Breshnjew seine Schwäche nicht bekennen muss“. Auch wollten die beiden nicht gleich zum Hotel zurückfahren, weil dann ja einiges aufgefallen wäre, also sind sie in ein in der Nähe liegendes Waldstück gefahren, um dort einen Spaziergang zu machen. Das Manöver gelang.
Ähnliches berichtet Genscher von einer Situation 1978 in New York bei den Vereinten Nationen, als Gromyko sich mit den Händen am Rednerpult festhalten und von der Rednertribüne weggeführt werden musste. Danach war ein Gespräch mit ihm in der Deutschen Vertretung angemeldet. Genscher begab sich mit Gromyko in sein Arbeitszimmer und schlug ihm vor, sich für eine Stunde auf der Liege des Botschafters niederzulegen und sich zu erholen. Er würde derweil Akten bearbeiten und dann würde man weitersehen. Es war ein Essen für Gromyko angesagt und nach einer Stunde begaben sich beide zu den Delegierten, die bereits gegessen hatten und nahmen mit denen das Dessert ein.
Gromyko habe ihm später gesagt, dass er beide Ereignisse und die Art, wie die Deutschen damit umgegangen seien, nie vergessen werde. „Wer den Starken schwach erlebt, sollte darüber schweigen, auf jeden Fall nicht triumphieren“.
Das, meint Genscher, sei auch eine Maxime einer vernünftigen deutschen und westlichen Außenpolitik. Deshalb kritisiert er mehrmals heftig auch den US-Präsidenten, der die Macht Rußlands unnötig beleidigt hat, indem er sie zu einer „Regionalmacht“ herunterstufen wollte.
Das Buch wirkt um Längen besser als der damals erschienene dickleibige Erinnerungsband, der durch zu viel Detailbeflissenheit streckenweise langweilig wirkte. Hier ist auch durch die disziplinierende Frage-Antwort-Vorgehensweise ein Kompendium an außen- und globalpolitischen Weisheiten zustande gekommen, die ihresgleichen sucht. Das Buch hat auch den schönen Beiklang, dass es nicht auf dem Klavier des Aktualitätsterrorismus herumklimpert. Der Autor weiß, dass er nicht mehr in der Politik mitmischt, aber er geht immer mit wichtigen Einsichten durch die lange Reihe großer Themen der unmittelbaren Vergangenheit. Besonders beachtlich erscheint mir die zurückhaltende Art, mit der Genscher die Entwicklung der neuen Militärhaushalte und Importe-Exporte im Rüstungsgewerbe kritisch sieht. Zu den Leopard Lieferungen an Saudi Arabien enthüllt er geradezu, dass er als Außenminister bei Kohl und bei Schmidt dagegen war. Helmut Schmidt wie Helmut Kohl hätten trotz seiner Vorwarnungen die Lieferung von Leopard 2 Panzern an die Führung Saudi Arabiens zugesagt. Am Ende habe er sich mit der „Ablehnung dieser Waffenlieferungen durchgesetzt, weil ich darin nicht nur eine Erhöhung der Kriegsgefahr sah, sondern auch die Möglichkeit, diese Waffen nicht gegen einen äußeren Feind, sondern gegen innenpolitische Gegner einzusetzen“. So sei ein Wort entstanden, dass er damals gesagt habe: „Alles was schwimmt, geht!“ Sollte meinen: U-Boote können nicht gegen politische Gegner eingesetzt werden.
Seine ständig weltanwesende diplomatische Vermittlung führte fast zum Ende der Geiselkrise mit dem Iran. Es saß einmal ein hochrangiger Gast aus dem Iran während der Geiselkrise auf dem Sofa von Genscher, der den Draht zu den USA suchte. Genscher rief sofort seinen Kollegen Edmund Muskie an. Es dauerte nur 20 Minuten, da rief nicht Muskie, sondern Jimmy Carter persönlich an, der Warren Christopher für das Gespräch mit dem iranischen Politiker auf deutschem Boden benannte. Man hatte erst als Unterkunft für die Kleine US-Delegation das Schloss Gymnich ausgeguckt, Aber es wurde über irgendeinen Journalisten ruchbar, dass da Amerikaner anwesend waren. Also wurde alle in das Gästehaus auf dem, Bonner Venusberg verlegt, wo die Amerikaner auch übernachten konnten. Die Geiselnahme war eine schwere Demütigung unserer US-Freunde. Schließlich sollten die Geiseln am 2. Oktober 1980 mit einer deutschen Militärmaschine aus Teheran herausgeflogen werden. Das Unternehmen wurde kurz vor Beginn abgesagt. Chomeiny war zu der Überzeugung gelangt, dass hinter dem inzwischen ausgebrochenen Krieg von Saddam Hussein gegen den Iran der „Teufel Carter“ stehe. Am Tag der Amtseinführung des neuen Präsidenten sollte die Freilassung erfolgen. Ronald Reagan gewann die Wahl und sandte seinen Vorgänger nach Frankfurt, der dann die Geiseln dort begrüsste.
An wenigen Stellen äußert sich Genscher zu den aktuellen Fragen. So lobt er im Zusammenhang mit der Ukrainekrise die beiden Hauptmatadore des Kabinetts, die Bundeskanzlerin Merkel und den Außenminister Steinmeier für ihre geradezu bis zur Erschöpfung gehende Anstrengung mit dem unentbehrlichen Rußland immer eine Gesprächsebene aufrechtzuerhalten. Die Flüchtlingsbewegung aus Afrika sieht er als eine der größten Aufgabe für die Europäische Union. Man habe die Länder am Südrand Europas viel zu lange allein gelassen mit der Flüchtlingsproblematik und sie nur unter dem Dach der Seenotrettung gesehen. „Es wird darüber geredet, wie man verhindern kann, dass zuviele kommen, aber nicht darüber, wie erreicht werden kann, dass die Menschen nicht wegwollen, sondern dass sie bessere Perspektiven zu Hause haben“.
Im Endkapitel des ersten Teils („Welt im Umbruch“) ist Genscher um die Korrektur einer Historiker-Zeitjournalisten-Lüge bemüht. Bis heute hängt ihm die Legende an, er habe die Jugoslawienkriege eröffnet durch die einseitige Anerkennung Kroatiens, ausgerechnet des ex-Ustascha Staates. Dazu sagt er jetzt: Als die europäischen Außenminister im Dezember 1991 einstimmig – „ich betone: einstimmig – die Anerkennung der Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens beschlossen, bestand Jugoslawien längst nur noch auf dem Papier“. Es sei damit nur eine Entwicklung nachvollzogen, die längst unumkehrbar war. Eine besondere Rolle Deutschlands und Genschers habe es dabei nicht gegeben.
Dann beginnt der zweite Teil: „Der Weg zur Deutschen Einheit“ mit dem Kapitel über die „Größte Menschenrechtsinitiative der Geschichte“, der KSZE. Sehr klug und geschickt, auch manchmal raffiniert beschreibt der alte Fuchs Genscher seine Rolle zwischen CDU und SPD, zwischen Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Für Genscher war die Einheit wichtig, wahrscheinlich mehr als für die meisten damaligen Real-Politiker. In der allgemeinen Stimmung war die staatliche Einheit fast abgeschrieben, sie war nicht zu erreichen, was regen wir uns auf. Die Helsinki Schlußakte, die Genscher zu recht so heraushebt, wurde am 1. August 1975 unterzeichnet. Die entscheidende Frage war die der Unveränderbarkeit der Grenzen. Wir Deutschen, so Genscher wollten die „friedliche Veränderbarkeit der Innerdeutschen Grenze“. Er betont auch immer, wie gut er über sachkundige Berater informiert war. So in der Frage der Nachfolge von Tschernenko als Generalsekretär der KPdSU durch Wolfgang Leonhard und den Ex-Botschafter Andreas Meyer-Landruth: Nachfolger wurde Michail. Gorbatschow. Das Buch durchzieht auch ein unverbrüchlicher Wille und eine Mahnung zu mehr Europa. Der Weg zur Einigung Deutschlands ging seit Helsinki 1975 bis 1989. Es lohnt, schreibt Genscher, sich auch den Geduld erfordernden Prozeß der Europäischen Einigung anzusehen. Es würde heute die Meinung vertreten, die Zukunft der EU läge in „Weniger Europa“. Genscher: „Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die europäische Einigung wird nur mit der Devise Mehr Europa verwirklicht.
Eine zweite legende, die Genscher endgültig beendet, ist die vermeintliche Erklärung Gorbatschows über die Nichtausdehnung der NATO. Genscher zitiert sich an manchen Stellen aus seinen Gesprächen, jetzt mit Eduard Schewardnadse. Dem damaligen Außenminister sagte Genscher: Er verstehe gar nicht, warum Moskau uns nicht in der Nato haben wolle. „Die Warschauer Pakt Partner wollen uns in der NATO sehen, weil ihnen das lieber ist, als wenn wir frei agieren könnten.“ Dann kommt der Teil III: Vermächtnisse Das beginnt mit einer auch für den nächsten Wahlkampf mitgeschriebenen nicht unsympathischen Apotheose auf die FDP: „Kleine Partei- Große Wirkung“. Genscher beschreibt die Abwendung von der SPD damals 1982 nicht jubelnd. Es gab für Helmut Schmidt keine Mehrheit in der Frage des NATO-Doppelbeschlusses Für Genscher war der Bruch keine Wunsch-Sache, weil er sich mit Schmidt sehr gut verstand, wie er schreibt. Die Fraktion war damals gegen Helmut Schmidt, so dass Genscher noch einmal pathetisch sagt: Die FDP habe sich damals aus staatspolitischer Verantwortung für den Wechsel der Koalitionen entschieden.
Wenn es ein Schlußwort in dem Vermächtnis gibt, dann betrifft es die Einheit Europas und vielleicht noch dringlicher die Abrüstung. Man muss die Agenda Weltfrieden, und das heißt die Rüstungskontrolle und die Abrüstung endlich zum weltweiten Durchbruch verhelfen. „Insbesondere müssen die Atommächte 70 Jahre nach dem Abwurf der ersten Atombombe endlich ihre atomare Abrüstungsverpflichtung erfüllen. Sie sollten jedes Jahr am 6. August für die Menschheit den „Tag der globalen Atomwaffenabrüstung“ einführen.
Das wäre ein Ziel, dass seine Partei durchsetzen sollte, wenn sie wieder in den Bundestag kommt.
Den Beginn der Rüstungskontrolle könnte man bei der nuklearen Abrüstung machen. Die Zahl der Atomwaffenbesitzer ist noch immer gering, „wenngleich jeder Einzelne zuviel ist.“ Bei einer über schaubaren Zahl von Atomwaffenbesitzern wäre die Ermutigung einer Politik des guten Beispiels besonders leicht überprüfbar.
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