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Völlig utopisch

Völlig unpraktikabel? Zu der Sammlung von 17 Beispielen einer besseren Welt. Von Rupert Neudeck

Wie gern greift man zu einem Buch, das uns auf dem Titelblatt „17 Beispiele einer besseren Welt“ verspricht! Es ist eine Gemeinschaftsarbeit der von Marc Engelhardt geleiteten informellen Gruppe „Weltreporter“.  Ilja Trojanow macht in seinem Vorwort deutlich, wie heilsam für unser Zusammenleben solche eigenwilligen Vorbilder alternativen Zusammenlebens sein können. Wer kenne nicht den Einwand, das sei ja alles gut und schön, aber eigne sich nicht für die Praxis.

„Dieses ist das Mantra der herrschenden Verhältnisse und ein Mantra bezieht seine Kraft nicht aus dem Sinn, sondern aus seiner Wiederholung“. Die Beiträge sind sehr unterschiedlich. Einmal entwickeln sich die berichteten Alternativ-Utopien aus der wirtschaftlich-sozialen Lage des eigenen Landes. Dann sind es wirkliche Realutopien auf Grund der Herkunft der Betroffenen. Dann gibt es ökologische Anstrengungen, ein ganz anderes Leben zu organisieren im Einklang zwischen Mensch und Natur.

So zum Beispiel in Griechenland. Die Reporterin berichtet, dass die Arbeitslosenrate in ihrem Land 2013 bei 27 Prozent lag. Sechs von zehn Jugendlichen finden keinen Job. Da hat jemand eine Kommune aufgebaut. Panagiotis Kantas ist so jemand, der nicht unterzukriegen ist. Die Wirtschaftskrise ließ die Bewegung wieder in umgekehrte Richtung schlagen: Aus den Städten heraus wieder auf das Land. Die lange verpönte Schollenoption scheint für manche wieder die beste Lösung. Nach einer Umfrage des griechischen Landwirtschaftsministeriums träumen zwei von drei Griechen 2012 davon, zurück aufs Land zu ziehen. Diese griechische Kommune hat sich auf der Thessalischen Hochebene auf Holzwirtschaft spezialisiert. Man macht Workshops und Seminare.

Die Seminarmannschaft wird auf den Berg gehen, dort werden sie einen Teil des Grundstückes nach den Grundsätzen der Permakultur anlegen, einer Wirtschaftsweise, die sich eng an den Kreisläufen der Natur orientiert. Als erstes legen sie erhöhte Beete an, deren Unterbau aus abgebrochenen Ästen besteht. In dem Zerfallsprozess kann das Holz die nährstoffarme Erde anreichern. Dann werden Steinwälle gegen die Erosion aufgebaut. Was gedeiht auf welchem Boden am besten. Man praktiziert Basisdemokratie. Was, so wird gefragt, machen die Kommunarden, wenn es nicht klappt? Das sei – sagt Panagiotis – keine Frage, die man sich stelle. Die fünf jungen Griechen haben das Projekt als Antwort auf die Krise gemacht. Man hofft, dass „diese Utopie eines Tages auch die Wirklichkeit beeinflusst“. Dass sich in Griechenland das ‚WIR’ gegen das ‚Ich’ durchsetzen kann. Der Essay schließt mit der schönen Bemerkung: „Wieso eines Tages. Wir leben unsere Utopie schon längst“.

Es sind unterschiedliche Versuche, manche leben aus sich selbst, andere sind Ökoutopien, wieder andere meinen, sie könnten die eigene Regierung beeinflussen. Das Projekt der russischen Kosaken im westlichen Sibirien ist markant für den ersten Fall. Die Kosaken waren immer freie Krieger, Kasaky nannten sie sich, das Wort kommt aus dem Turktartarischen, also aus der Sprache der Feinde. In dem 20.000 Seelenstädtchen Sredneuralsk im Gebiet von Swerdlowsk, leben jetzt 21000 Kosaken, die in vielen Verbänden organisiert sind. Besonders clevere haben sich als „Registerkosaken“ einschreiben lassen, um staatliche Subventionsgelder zu kassieren.

Manche wollen eine staatlich finanzierte Armee für Russland werden, nach dem Vorbild der US-amerikanischen Nationalgarde. Aber ein Haufen dieser Kosaken hat eine längst bankrotte Sowchose besetzt und in Staniza Derschgawnaja umbenannt. Aus dieser Staniza wollen sie einen rentabeln Landwirtschaftsbetrieb organisieren, was angesichts der wenig guten Böden im nördlichen Ural und dem Fehlen von Agrarsubventionen schwierig ist. Die Staniza soll mit Landstreichern und Exhäftlingen besiedelt werden. Wenn es nach Ponomarenkos Kosaken geht, soll der Ural und ganz Russland mit einem Netz solcher Reichskosakensiedlungen überzogen werden.

Ganz anders und ähnlich überzeugend die Unternehmung in Kishorit im Norden Israels, nur 16 km Luftlinie entfernt von der libanesischen Grenze. Die nächste Stadt ist Karmiel, wo es alles gibt zum Einkaufen. Und von dort eine halbe Stunde bis zur Mittelmeerküste. In Kishorit leben 155 Menschen mit Behinderungen oder „mit besonderen Bedürfnissen“, so heißt es auf Hebräisch. Am Beginn der Gründung Israels am 14. Mai 1948 hing alles von der Waffentauglichkeit der Kibbuznikim ab. Heute ist das nicht mehr so, aber der Kriterienkatalog für die Kibbuzbewohner ist immer noch in Kraft. Nach dem Regelwerk der Jewish Agency. Menschen mit Behinderungen haben demnach kein Recht auf Ansiedlung in Israel. Das wollten Yael und Shuki nicht glauben. Und setzten dann alles daran, dass es diesen Kibbuz für Menschen mit besonderen Bedürfnissen gibt. Sie wollen die Zukunft des Kibbuz natürlich mit stabilen Einnahmequellen sichern. Denn bisher geht das nicht ohne die vielen großzügigen Spenden aus Israel und der Welt. Deshalb gründeten sie das Projekt Alfanara. Das ist arabisch und heißt Leuchtturm.

Die Bewohner von Alfanara ist die arabische Schwester von Kishorit. Sie geben den Bewohnern die gleiche Unterstützung, aber es gibt arabisches Essen, arabische Musik und arabische Feste. Der Staatspräsident von Israel Shimon Peres sagte bei der Grundsteinlegung von Alfanara im Oktober 2010: Kishorit sei ein kleines Dorf mit einer großen Botschaft: „Wenn kranke Juden sich in die Hände von arabischen Ärzten begeben und kranke Araber sich jüdischen Ärzten anvertrauen, frage ich mich, ob wir das nicht auch unter den Gesunden hinbekommen wollen?!“

Das Einengende neben dem Bemerkenswerten: Diese utopischen Ideen, die hier in aller Welt zu Projekten werden, sind meist auf Landwirtschaft und nur auf Subsistenz dabei bezogen, strahlen aber nicht ökonomisch aus und machen wenig bis keinen Gewinn. Nun kann man sagen, das wollen die Bewohner solcher alternativer Lebensentwürfe, aber es wäre gut, wie bei Sekem in Nord-Ägypten, wenn es eine Palette von Aktivitäten gäbe bis hin auch zu industriellen alternativen Werkstätten.

In Javolik in Serbien gibt es eine weitere Kommune, die jetzt nach den Grundsätzen der biologisch-dynamischen Landwirtschaft nach Rudolf Steiner arbeitet. Die Gründer sind Bou und Viv. Viv ist Vivienne aus Luckenwalde, Bou ist aus Amsterdam. Mathieu aus Poitiers, Sneza und Danilo aus Belgrad und Oguz, ein Türke aus Amsterdam. Solche Leute finden sich bei solchen Projekten zusammen. Viv und Bou wollen nach strengen Regeln der Biodynamik den Hof in Jalovik bearbeiten. Sie wollen aus ihrer Farm eine Einheit, einen Organismus entstehen lassen, zu dem auch wild wachsende Pflanzen und frei lebende Tiere gehören.

Selbstversorgung und Verzicht auf Chemikalien sind das oberste Gebot. Die Felder liegen seit Jahren brach, die ehemaligen Besitzer haben mit chemischen Pflanzenschutzmitteln nicht gespart, das Gift hat sich im Boden eingenistet. Kiloweise besorgt Viv Regenwürmer, die sich durch die Scholle schlängeln und so auf natürliche Weise die Erde atmen lässt. In dieser Kommune werden jedes Jahr bis zu 15 serbische Studenten in Seminaren ausgebildet, im dörflichen DOM KULTURE.

Ein wenig sehen die utopischen Entwürfe und die biographischen Veränderungen, denen die Ideengeber und Realisatoren unterliegen, wie säkulare Ordensgründer aus. Sie waren einmal Unternehmer oder gehörten zu den oberen Klassen wie der Franziskus von Assisi, aber dann haben sie eine Wende gemacht. Bei dem Brasilienprojekt des Buches war es der Österreicher Peter, der in Portugal im Finanzbereich in einer Eventagentur arbeitete. Er stand so unter Stress, dass er sich nicht einmal mit Freunden treffen konnte. „Für Sinnsuche hatte Peter keine Zeit“. Nun lebt er in der Inkiri Gemeinschaft in Picaranga im Süden von Bahia /Brasilien. Wer nach Picaranga kommt landet in einem Paradies. Der türkisblaue Atlantik trifft auf goldgelben Sandstrand.

Die Grundlage der Inkiri Gemeinschaft ist schon etwas religiös: Jeder Mensch ist auf der Welt, um seinen von Gott gewollten Traum zu verwirklichen. Die meisten von uns kennen diesen Traum aber nicht. Die Inkiri wollen den Besuchern in Piracanga bei der Suche helfen. Dabei versuchen sie, die Natur zu respektieren, wie Menschen auch Erd-Rechte zu achten. Je mehr Menschen auf der Welt es gelingt, ihren Traum zu leben, desto friedlicher wird das menschliche Zusammenleben.

An dieser Stelle ist – selten in dem Buch – auch von kritischen Seiten des Gemeinschaftslebens die Rede. Kandidaten für das Leben in der Inkiri Gemeinschaft bekamen heraus, dass es unter der Oberfläche Reibungen gibt. Etwa, dass die Privatfinanzen der Gründer mit denen der Firma vermischt seien, welche das Zentrum betreibt. Es gibt in Piracanga auch ein Haus für natürliche Geburt und eine sog. Freie Universität, in der junge Leute bis 28 Jahre in neun Monaten alle Tätigkeiten in Piracanga und durch spirituelle Praktiken sich selbst und ihren Traum kennenlernen.

Eine bunte Mischung vieler kleiner Initiativen, die uns aber überzeugen, dass große Dinge nur so beginnen, in dem wir sie selbst anpacken.

Quelle

Rupert Neudeck 2014Grünhelme 2014

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