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Willy Brandt

Der Kanzler der Visionen. Zu einer Biographie von Willy Brandt aus Anlass des 100jährigen Geburtstages. Von Rupert Neudeck

Das ist ein sehr ausgeruhtes Buch über den schwierigsten und zugleich berühmtesten, den verehrtesten und zugleich umstrittensten Kanzler, den wir je hatten. Er selbst ist im Bewusstsein der Menschen als jemand geblieben, der den Kniefall von Warschau gemacht hatte. Bis heute weiß nicht mal der, der sich damit brüstet sein einziger Freund gewesen zu sein (Egon Bahr), warum er das und ob spontan oder lange vorbereit gemacht hat.

Er hat in seiner Zeit als Außenminister in der Großen Koalition und dem Kanzler Kurt Georg Kiesinger wie auch in der Zeit, in der er für die SPD fast die absolute Mehrheit eingeheimst hatte, so viel Mist mitgetragen wie auch Leuchtfeuer entzündet, dass sein Charakterbild immer noch schwankt zwischen den Folianten der Geschichtsschreibung.

Er war ein Mensch, der durch Herkunft und die frühe Flucht aus Deutschland in hohe Verantwortungen getrieben wurde. Er hat dennoch nach dem Krieg alles das aufgebaut, was für das Leben von Menschen in verschiedenen Systemen wichtig und wertvoll war. Daneben hat er den schrecklichen „Radikalenerlass“ mitgetragen, keiner weiß auch heute – warum? Immer wieder war er depressiv oder auch richtig krank, so dass es schon auffiel, wenn er sich mal über etwas gefreut hatte.

Ich besinne mich zur Bestätigung des Interviews, d as ich für ein größere Sendung des Deutschlandfunks machen durfte. Es ging um die erste große Infragestellung der bisherigen Praxis der Entwicklungshilfe durch Gunnar Myrdal, den ich auch danach in Stockholm besuchte. Er kam herein, ich musste beginnen, er machte ein sensationell gutes Interview mit mir, aber nach 20 Minuten war alles vorbei und er ging heraus, es war eine Pflichtübung. Er ließ nicht eine Sekunde verlauten, dass er den Gunnar Myrdal kenne, der ihn ja am liebsten nach New York in die Position eines UNO-Mitarbeiters gebracht hätte.

Die Zeit von Willy Brandts Kanzlerschaft war durchzogen von wahnsinnigen weltpolitischen wie innenpolitischen Ereignissen. Die Baader Meinhof Bande wurde 1970 begründet, der Vietnam Krieg kam in seine schlimmstmögliche Phase, fünf mal besuchte Brandt die Schutzmacht USA, der damalige US-Außenminister Kissinger hatte keine hohe Meinung von ihm: „Er trinkt“. Nicht sehr helle sei er und ein bisschen dumm. Immerhin konnte der Kanzler sich benehmen. Und  er durfte sich sogar kritisch über die amerikanische Kriegführung in Vietnam äußern.

Schöllgen hat die Biographie Willy Brandt zum ersten Mal 2001 fast zeitgleich mit den weltumstürzenden Terroranschlägen auf die World Trade Türme in New York herausgebracht. Brandt war damals bereits sechs Jahre tot. Aber das Buch hat es jetzt zu einer richtiggehend neuen Form gebracht, denn alles, was jetzt neu wichtig geworden ist im Leben des nunmehr Hundertjährigen (geb 18.12. 1913), findet seine Berücksichtigung in dem Buch des Historikers.

Das Interessante an dieser Biographie wie auch an den Erinnerungen des (so Bahr über Bahr) einzigen wirklichen „Freundes von Brandt“, Egon Bahr, geben immer noch nicht zureichend Auskunft über das Spannungsverhältnis innerhalb der SPD und der Troika Wehner, Helmut Schmidt Willy Brandt. Ob Wehner nun wirklich auch am Ende ein „Verräter“ war, wie sogar Egon Bahr in seinem Buch insinuiert, oder welche Rolle er wirklich in d er neuen deutschen Demokratie anstrebte, ist nicht ganz klar. Auch ist je nach Nähe zu der überragend übermächtigen Figur des Altkanzlers Helmut Schmidt auch nicht deutlich, welche Rolle Schmidt im Verhältnis zu Brandt gespielt hat.

Es gibt das große  Kapitel über den Aufbruch der SPD bis 1933, die Zeit als Verfolgter draußen, in Norwegen und Schweden 1933 bis 1948, dann die Ansichten „am Rande der Welt“, womit der Autor den Aufstieg Willy Brandt benennt. Dann sind es die letzten Kapitel, die unser Interesse wecken. Brandt wirkte in der Zeit nach seiner Kanzlerschaft fast befreit. Er war in dieser Zeit, wie der Autor meint,: ständig auf der Flucht, hat die Welt, besonders die Trikont-Welt die Kontinente Lateinamerika, Afrika und Asien kennengelernt.

1972 am 19. November hatte er einen Sieg für seine Partei eingefahren, von dem heute SPD-Matadoren nicht mal träumen können  Brandt wäre, wenn er weiter nach 1974 im Amt geblieben wäre, der einzige gewesen, der den US-„Washingtoner Zumutungen“, die es ja seit Kriegsende immer und vielleicht in unseren Jahren verstärkt gegeben hatte, hätte begegnen können. Der Autor zitiert eine Nachricht Henry Kissingers an die europäischen Verbündeten, die als „Osterbotschaft“ bekannt worden ist. Darin hebt der frisch gebackene US-Außenminister die globalen Interessen der Amerikaner kurzerhand von den regionalen der Europäer ab und fordert diese auf, sich entsprechend in das amerikanische Weltmachtskonzept einzugliedern.

„Verwunden hat er die Niederlage nie“, weshalb Brandt ja auch fast erholter und aufgeräumter zu einer globalen Position in der Politik aufsteigt. Er wird Vizepräsident der Sozialistischen Internationale. Er schreibt Bücher und wird neben Olaf Palme Chef der Nord-Süd-Kommission, macht damit eine Politik, an die sich aber alle nationalegoistischen Entwicklungs- und Kooperationspolitikformen nie gehalten haben. Er wird der große Freund und Fürsprecher der beiden Sozialdemokraten, die nach dem Ende des Faschismus in Spanien (Felipe Gonzalez) und Portugal (Mario Soarez) die Macht übernehmen. Am 12. Februar 1980 überreichte Brandt den nach ihm benannten Report dem UN-Generalsekretär. Hätte die Welt die Folgerungen aus dem „Brandt-Report“ ernster genommen, dann sähe die Welt heute anders aus.

Er hatte den Zusammenhang von „Wettrüsten und Welthunger“ genau erkannt, weshalb er der eigentlich beste und charismatische Vertreter einer Politik der Abrüstung im Dienst einer Friedensdividende zum Abbau des Welthungers wurde. Das dreihundertseitige Dokument hat – wie der Autor schreibt – bis heute nichts von seiner Bedeutung eingebüßt.

Das Thema des NATO-Doppelbeschlusses ist nicht zureichend im Lichte dieser Friedens und Welt-Aufbau-Initiative diskutiert worden. Wobei man Schmidt und Brandt zugute halten muss, dass das alle noch in den Zeiten des Kalten Krieges stattfand. Ganz gewiss gehörte damals Helmut Schmidt nicht zu denen, die eine Vision von der Zukunft hatten, Schmidt selbst prägte ja den für ihn typischen Satz, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen.

Die „ökologisch-anarchistisch-pazifistische Grundhaltung“ habe auch in der Debatte um den NATO-Doppelbeschluss in der eigenen SPD an Boden gewonnen. Dabei waren Brandt und andere in der Welt sich sehr wohl darüber im klaren, dass es eine Verstärkung sowohl der Ökologie Bewegung wie des Anarcho-Syndikalismus wie des Pazifismus auf Dauer geben müsse, um die Welt auch nur annähernd wieder in Ordnung zu bringen, vor und nach dem Ende des Kalten Krieges.

Der Autor erinnert an eine Flugreise in letzter Not nach Bagdad, als Saddam Hussein nach der Okkupation von Kuweit am 2. August 1990 und der darauf folgenden Resolution des UN-Weltsicherheitsrats zum Rückzug aus den Gebiet Kuweits alle im Irak lebenden Ausländer als Geiseln nimmt, darunter auch 750 Deutsche. Saddam Hussein lässt erklären, dass er mit einem europäischen Vermittler namens Willy Brandt einverstanden sei. Brandt fliegt vom 5. bis 9. November 1990 nach Bagdad und erreicht nach vielen Gesprächen u.a. auch mit Saddam Hussein und dem Außenminister Aziz dass er 175 Geiseln aus elf Nationen mit nach hause nehmen kann. Er wollte auch die Möglichkeiten zur nicht militärischen Lösung ausloten. Davon spricht er im Bundestag.

„Im übrigen“, sagt der alte Mann, der zwei Jahre später (8. Oktober 1992) sterben wird, „muss mir in Sachen internationaler Solidarität niemand Nachhilfeunterricht erteilen, ich weiß seit meinen jungen Jahren, dass dazu allemal der persönliche Einsatz für Menschen in Bedrängnis gehört – im eigenen Land, in Europa und darüber hinaus“.

Das Buch von Gregor Schöllgen ist eine zeitgerechte Würdigung des Lebenswerks des neben Konrad Adenbauer bedeutendsten deutschen Staatsmannes nach 1945.

Quelle

Rupert Neudeck 2013Grünhelme 2013

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