„Bei der Energiewende wird die Ressourcenknappheit noch nicht genug mitgedacht“
Nora Griefahn, geschäftsführende Vorständin der Cradle to Cradle NGO, gibt exklusive Einblicke in die entscheidende Rolle des Cradle to Cradle als ganzheitlichen Ansatz bei der Bewältigung von Klimakrise und Ressourcenknappheit.
Dabei unterstreicht sie dessen umfassende Wirkung auf Treibhausgasemissionen, erläutert finanzielle Vorteile für Unternehmen und spricht über die Notwendigkeit gesetzlicher Anpassungen.
Frau Griefahn, wie kann der Cradle-to-Cradle-Ansatz zur Reduzierung von
Treibhausgasemissionen im Vergleich zu herkömmlichen Produktionsmethoden
beitragen?
Nora Griefahn: Die Klimakrise und die Ressourcenkrise sind zwei Probleme unserer Zeit, die nur gemeinsam gedacht und adressiert werden können. Die Ellen MacArthur Foundation hat das in einem gemeinsamen Papier mit Material Economics sehr eindeutig dargestellt: Wir können durch den Umstieg auf erneuerbare Energien etwa 55 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen vermeiden. Aber um die aus unserer Sicht zu niedrig gesteckten UN-Klimaziele zu erreichen, müssen wir die restlichen 45 Prozent in Angriff nehmen. Diese Emissionen entstehen durch unseren linearen Umgang mit Ressourcen und durch die Art und Weise, wie wir heute Produkte herstellen. Um das zu ändern, brauchen wir eine echte Kreislaufwirtschaft nach Cradle to Cradle, für die wir grundlegend ändern müssen, wie wir Produkte designen, produzieren und auf den Markt bringen.
Cradle to Cradle ist also ein ganzheitlicher Ansatz, der nicht nur die Ressourcenkrise und das Thema Materialgesundheit adressiert, sondern auch die Klimakrise. Wenn Produkte und ihre Bestandteile nach ihrer Nutzung nicht zu Müll werden, der entsorgt oder verbrannt werden muss, sondern immer wieder Nährstoff für ein neues Produkt werden können, entfallen klimaschädliche Emissionen entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Zudem sieht das C2C-Designkonzept vor, dass die Produktion ausschließlich mit erneuerbaren Energien aus kreislauffähigen Anlagen stattfindet.
Die Umstellung auf ein Cradle-to-Cradle-Modell erfordert erhebliche
Anpassungen in Produktionsprozessen und Lieferketten. Dies kann für
Unternehmen teuer und logistisch anspruchsvoll sein. Was sagen Sie den
Unternehmen?
C2C bringt Unternehmen langfristig auch finanzielle Vorteile. Natürlich muss in die
Entwicklung von C2C-Produkten und neue Produktionsprozesse investiert werden. Aber
wenn Produkte und Geschäftsmodelle so designt sind, dass Herstellerunternehmen die
verwendeten Materialien nach der Nutzung in guter Qualität zurückerhalten, verringert
das ihre Rohstoffkosten. Zudem entfallen Entsorgungskosten und aufwändige
Umweltschutzmaßnahmen, wenn durch Produktion und Produkte kein giftiger Abfall
erzeugt wird.
Viele mittelständische Unternehmen arbeiten seit Jahren im Sinne von Cradle to Cradle,
und zwar finanziell erfolgreich. Das gleiche trifft auf große börsennotierte
C2C-Unternehmen zu oder C2C-Unternehmen mit großen Finanzinvestoren als
Stakeholder. Diesen Unternehmen ist klar, dass abgeleitet vom EU-Ziel einer Circular
Economy zunehmend Regulierung in diese Richtung erfolgen wird. Wer also jetzt schon
auf Cradle to Cradle umstellt, hat künftig einen Wettbewerbsvorteil.
Gibt es in Deutschland und der Europäischen Union Vorschriften und Gesetze, die im Sinne der
Kreislaufwirtschaft umgestaltet werden müssten?
Der Circular Economy Action Plan im Rahmen des European Green Deal geht in die
richtige Richtung. Diese Strategie betont, im Einklang mit Cradle to Cradle, dass beim
Design von Produkten angesetzt werden muss. Nun ist der nächste Schritt, die Strategie
zu operationalisieren und daraus sinnvolle Gesetze wie die Ökodesign-Verordnung
abzuleiten, die wirklich bei der Produktqualität und beim Design ansetzen und nicht nur
bei Recyclingquoten oder bei der Energieeffizienz. In Deutschland wird an der Nationalen
Kreislaufwirtschaftsstrategie gearbeitet, an der auch wir beteiligt sind. Auch hier ist es
wichtig, dass wir von der Strategie schnell hin zu neuen Gesetzen für eine echte
Kreislaufwirtschaft nach C2C kommen. Oder dass wir bestehende Rahmenwerke wie
das bislang unzureichende Kreislaufwirtschaftsgesetz oder die Abfallverordnung
dahingehend anpassen.
Die genaue Bewertung des ökologischen Fußabdrucks und der Auswirkungen
eines Produkts über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg kann komplex sein
und erfordert detaillierte Lebenszyklusanalysen. Gibt es denn eine Übersicht zu
bestimmten analysierten Produkten etc., wo sich Verbraucher*innen informieren
können?
Lebenszyklusanalysen, wie sie aktuell meistens durchgeführt werden, greifen aus
C2C-Sicht zu kurz. Wir müssten vielmehr Nutzungszyklen analysieren, da bei Cradle to
Cradle alle eingesetzten Rohstoffe ihren Wert erhalten und immer wieder neu eingesetzt
werden können. Das C2C-Zertifikat, das vom Products Innovation Institute (PII) vergeben
wird, nähert sich dem bei der Bewertung von Produkten an. Das Institut achtet darauf,
nicht nur einen Lebenszyklus zu betrachten, sondern die Möglichkeit mehrerer
Nutzungszyklen in die Auswertung einzubeziehen, indem neben der Materialgesundheit
auch die Kreislauffähigkeit der eingesetzten Materialien bewertet wird. Eine Übersicht
der zertifizierten Produkte können Verbraucher*innen auf der Website des PII finden.
Cradle2Cradle ist ein Konzept, das auf unsere gesamte Wirtschaft angewendet
werden sollte, um einen größtmöglichen Impact zu haben. Welche Rolle spielt in
diesem Zusammenhang die Finanzwelt mit ihren Finanzprodukten?
Finanzinstitute haben durch gezielte Investitionen und von C2C-Kriterien abgeleitete
Kreditkonditionen die Möglichkeit, großen Einfluss zu nehmen. Indem sie in die
Entwicklung innovativer Produkte in C2C-Qualität investieren, können C2C-Lösungen
schneller umgesetzt werden. Allerdings braucht es dafür Zirkularitätskennzahlen, die in
Kreditvergaben und andere Finanzierungsmodelle einfließen können. Was beispielsweise
bei Krediten für eine energetische Sanierung schon etabliert ist, fehlt für die
Kreislaufwirtschaft: Es existieren noch sehr wenig Kennziffern, über die ein
C2C-Unternehmen beispielsweise bessere Kreditkonditionen erreichen kann, wenn das
Fremdkapital für das Thema C2C verwendet wird.
Viele junge Unternehmen gründen heute zudem direkt zirkuläre Geschäftsmodelle mit an
C2C orientierten Produkten. Diese Unternehmen brauchen in der Konzeptphase
finanzielle Unterstützung, um Prototypen zu erstellen, um häufig sogar ganz neue
Materialien nach C2C zu entwickeln und um mit ihren Produkten auf den Markt zu
gehen. Auch für neue Geschäftsmodelle mit C2C-Produkten, beispielsweise
Produkt-Service-Modelle für in Gebäuden eingesetzte Baustoffe, brauchen wir neue
Finanzierungsformen. Wir sind zu diesen Themen im intensiven Austausch mit
C2C-Unternehmen, der Politik und mit unterschiedlichen Banken und sehen daher, dass
in diesem Bereich viel Bewegung ist und überall großes Interesse an zukunftsfähigen
Lösungen besteht.
Wie kann ein Umdenken hier das Klima schützen und auch die Erneuerbaren
voranbringen?
Die Taxonomie-Verordnung der EU hat das Ziel, Finanzierungsströme in Richtung
Nachhaltigkeit zu lenken. Das ist grundsätzlich auch der richtige Hebel, um eine
Finanzierungs- oder Investitionsentscheidung nicht von einer moralischen Bewertung
wirtschaftlichen Handelns abhängig zu machen, sondern von einer erzielbaren Rendite.
Denn die entscheidet eben in diesem Bereich. Im Bereich Klima und Energiewende zeigt
die EU-Taxonomie schon viele gute Ansätze, allerdings fehlen die Themen Zirkularität
und Materialgesundheit als Handlungsfelder für nachhaltige Investitionen noch
komplett. Das muss sich dringend ändern.
Wie kann die Implementierung von Cradle-to-Cradle-Prinzipien in der Produktion
dazu beitragen, den ökologischen Fußabdruck von erneuerbaren
Energiesystemen zu minimieren?
Cradle to Cradle zielt nicht darauf ab, unseren negativen ökologischen Fußabdruck zu
verringern, sondern darauf, durch unser Handeln einen möglichst großen positiven
Fußabdruck zu hinterlassen. Das gilt auch im Kontext erneuerbarer Energien, denn bei
der Energiewende wird die Ressourcenknappheit noch nicht genug mitgedacht. Eine
Solaranlage oder ein Windpark ist in der Betriebsphase an sich klimaneutral. Wenn wir
aber Windkraftwerke und Solarpanele produzieren, deren Materialien nach ihrer Nutzung
zu Sondermüll werden, weil sie nicht kreislauffähig designt sind, entstehen hier wieder
Emissionen. Die verbauten Materialien können nicht wiederverwendet werden, weil sie
zum Beispiel verklebt oder verschweißt und so nicht mehr sortenrein trennbar sind.
Dadurch gehen wertvolle Rohstoffe verloren und es entsteht sowohl eine Umwelt- als
auch eine Klimabelastung. Daher ist C2C-Design auch bei Energieerzeugungsanlagen
wichtig.
Beim Einsatz von Elektroauto-Batterien gibt es bereits Entwicklungen hin zu mehr
Kreislauf, wie unser Projekt Fluxlicon zeigt. Hier werden Batterien, die mit einer
Kapazität von 80 Prozent nicht mehr für E-Autos einsetzbar sind, ein zweites
Leben in einem Batteriespeicher erhalten – ganz gleich welcher Hersteller.
Kennen Sie bereits andere Entwicklungen im Bereich der Erneuerbaren Energien?
PV-Module oder auch Batterien, die heute designt und produziert werden, müssen
kreislauffähig sein. Das heißt, dass sie in ihre Einzelteile zerlegbar sein müssen und
keine Schadstoffe freisetzen, die etwa Wasser oder Boden kontaminieren. Die Energie
für die Produktion muss dabei aus erneuerbaren Quellen gewonnen werden. Momentan
gibt es drei Hersteller von Solaranlagen, die ihre Produktion auf Cradle to Cradle
ausrichten. Die Unternehmen zielen zum Beispiel darauf ab, die Module so zu designen,
dass sie nach einem Nutzungszyklus auseinandergebaut und sortenrein recycelt werden
können, Schadstoffe zu vermeiden und für die Produktion ihrer Anlagen erneuerbare
Energien zu nutzen.
Wo sehen Sie Deutschland im internationalen Vergleich, wenn es um
Kreislaufwirtschaft geht?
Ein direkter Vergleich zwischen Ländern ist schwierig. Es gibt in Deutschland viele Produkte und Unternehmen, die von Cradle to Cradle inspiriert oder zertifiziert sind. Doch auch
international sehen wir ein Bewusstsein für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft. Beim
Thema kommunale Entwicklung nach C2C sind beispielsweise Skandinavien und die
Niederlande sehr fortschrittlich. In den USA empfiehlt die Environmental Protection Agency,
sich bei der öffentlichen Beschaffung auch am Cradle to Cradle-Zertifikat zu orientieren. Eine
solche Empfehlung kann einer Verwaltung, die zur Kreislaufwirtschaft beitragen möchte,
helfen, sich für C2C-Produkte zu entscheiden.
Letztlich müssen alle Gesetzgebungen, die auf EU-Ebene beschlossen werden, auch in den
Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Und das ist auch gut so, denn eigentlich bräuchten wir
eine übergeordnete globale Strategie für eine echte Circular Economy nach C2C. Es reicht
nicht aus, dass sich ein Unternehmen, ein Land oder ein Kontinent mit diesem Thema
beschäftigt, dazu ist die Transformation von linear zu zirkulär viel zu wichtig und die Zeit viel
zu knapp. Wir müssen weg von Pilotprojekten kommen und die vielen Ideen und
Innovationen skalieren, die bereits existieren und von denen wir wissen, dass sie gut
funktionieren. Wenn die Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie in Deutschland genau dazu
beiträgt, dann sind wir schon einen großen Schritt weitergekommen.
Quelle
Agentur für Erneuerbare Energien e.V. 2024 | Anika Schwalbe | Mail: a.schwalbe@unendlich-viel-energie.de | Foto: Cradle to Cradle NGO / Max Arens