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IPPNW | Olympia 2021

© IPPNW | Olympia 2021

Olympischer Fackellauf entlang radioaktiver Hotspots

Am 25. März 2021 sollen zahlreiche Sportler und Sportlerinnen sowie auch Kinder mit der Olympischen Fackel vom J-Village quer durch die schwer kontaminierten Regionen rund um das havarierte AKW laufen.

Vollmundig kündigte der japanische Premierminister Shinzo Abe auf dem Treffen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) im September 2013 in Buenos Aires an, dass die Situation im havarierten Atomkraft Fukushima Dai-ichi unter Kontrolle sei. Gerade einmal zweieinhalb Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe im März 2011, war das eine mutige Feststellung, vor allem, weil Situation offensichtlich alles andere als unter Kontrolle war. Große Teile der japanischen Hauptinsel Honshu waren durch den radioaktiven Niederschlag des dreifachen Super-GAUs verstrahlt worden, rund 200.000 Menschen mussten ihre Heimat verlassen, ganze Dörfer und Landstriche waren evakuiert worden und täglich traten große Mengen an radioaktivem Wasser aus den zerstörten Reaktorgebäuden ins Grundwasser und ins Meer, während sich an Land Hunderttausende Müllsäcke mit radioaktivem Abfall häuften und rund um die Reaktoren Tanks für stark verstrahltes Kühlwasser.

An 39 Sportstätten rund um Tokio wurden damals erhöhte Strahlenwerte durch radioaktives Cäsium-137 gemessen.1 Abes Versprechen von Buenos Aires sicherte Japan die Olympischen Spiele 2020, aber es war zugleich ein Schlag ins Gesicht all derer, die unter der Atomkatastrophe litten.

© IPPNW / Dr. Alex Rosen / Zum Vergrößern anklicken!

Und heute, acht Jahre später – ist die Situation unter Kontrolle? Die Dekontaminationsarbeiten großer Teile von Fukushima und der umliegenden Präfekturen sind seitdem vorangeschritten, einige Nahrungsmittelrestriktionen konnten mittlerweile aufgehoben werden. Gleichzeitig tritt weiterhin täglich radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer, eine Lösung für die stetig steigende Zahl von Müllsäcken und Tanks mit radioaktivem Abfall wurde bislang noch nicht gefunden und jeder Sturm, jeder Waldbrand, jeder Pollenflug und jede Überflutung verteilen erneut radioaktive Isotope über die ehemals dekontaminierten Orte.

Zuletzt war es Taifun Hagibis vor der Küste Fukushimas, der radioaktive Partikel vom verstrahlten Meeresboden über ganze Küstenabschnitte verteilte und durch den Anstieg des Wasserpegels in zahlreichen Flüssen dazu führte, dass hunderte von Strahlenmüllsäcke mit den Wassermassen mitgerissen wurden. Zuvor waren es Waldbrände in den unwegsamen Bergen der Präfektur Fukushima, die erneut radioaktives Cäsium über die Region verteilte. Regen verteilt regelmäßig die Strahlung aus den höher gelegenen Regionen ins Flachland und selbst der alljährliche Pollenflug trägt dazu bei, radioaktives Cäsium aus den Wäldern zurück in die Städte zu transportieren. So kommt es selbst in minutiös dekontaminierten Gegenden immer wieder zu erhöhten Strahlendosen – so genannten „Hotspots“.

Ein, für die Organisatoren der Olympischen Spiele in Japan besonders peinliches Beispiel solcher Hotspots wurde Ende Oktober 2019 von Greenpeace aufgedeckt: ausgerechnet im J-Village, dem Sportzentrum, welches weniger als 20 km südlich des havarierten AKW Fukushima Dai-ichi liegt und von dem aus am 25. März 2021 der Olympische Fackellauf starten soll.

Während die normale Hintergrundstrahlung auf 1 Meter Höhe in Japan etwa 0,04 μSv/h (Mikrosievert pro Stunde) beträgt und die Zieldosis von Dekontaminationsmaßnahmen bei 0,23 μSv/h, lagen die von Greenpeace gemessenen Werte im J-Village bei etwa 1,7 μSv/h auf 1 Meter Höhe (etwa 42 Mal höher als der japanische Durchschnitt) und bis zu 71 μSv/h auf Bodenniveau. Greenpeace warnte, dass die Radioaktivität von diesen Hotspots durch Wind und Wetter auch auf umliegende Gebiete verteilt werden könnte.2

Zum Vergleich: Eine normale Thorax-Röntgenuntersuchung schlägt heutzutage mit etwa 20 μSv zu Buche. Ein zwölfstündiger Aufenthalt an dem Hotspot im J-Village würde einem Menschen also einer ähnlichen Strahlendosis aussetzen wie eine Röntgenuntersuchung – rechnet man nur mit der äußeren Strahlung und geht davon aus, das keine Partikel eingeatmet oder mit der Nahrung aufgenommen werden. Lässt jedoch ein Kind einen Apfel auf diesen Boden fallen, hebt ihn auf und isst ihn danach weiter, kann die aufgenommene innere Strahlung um mehrere Zehnerpotenzen höher sein.

Die internationale Kampagne „Tokyo 2020 – The Radioactive Olympics“ hatte das IOC bereits im Sommer auf die Möglichkeit solcher Hotspots hingewiesen und Ende November eine Antwort des Medizinisch-Wissenschaftlichen Direktors des IOC, Dr. Richard  Budgett erhalten, der schrieb: „Nach unserem Verständnis ist die Ortsdosisleistung an den Orten, wo sich die Wettkampfstätten befinden, vergleichbar mit denen in den Metropolen der Welt.“ („It is our understanding that the levels of air dose rates in cities where competition venues are located are equivalent to those found in major cities around the world.“)

Bewusst ging Budgett in seiner Antwort nicht auf die Frage der Hotspots ein und auch nicht auf die Möglichkeit der Rekontamination durch Pollenflug, Überschwemmungen, Stürme oder Waldbrände. Er nimmt keinen Bezug auf den Fackellauf, der quer durch die am höchsten verstrahlten Gebiete rund um das AKW führen soll, sondern spricht nur über die Wettkampfstätten. Zudem spricht er von Ortsdosisleistungen, also der Messung von Gamma-Strahlen, während an den Hotspots vor allem Beta-Strahlung durch radioaktive Partikel wie Cäsium-137 eine Rolle spielt.

Beta-Strahlung kann, wenn die strahlenden Partikel eingeatmet oder mit der Nahrung aufgenommen werden, die Organe des Körpers von innen heraus verstrahlen und zu massivem Zelltod oder zur Entwicklung u.a. von Krebserkrankungen führen. Wenn also die japanischen Behörden in einer Höhe von einem Meter über dem Boden Gammastrahlung messen, dann ignoriert dies die gesundheitlich schädlichen Folgen von Beta-Strahlung durch radioaktiven Staub, Blütenpollen oder Laub auf dem Boden. Zudem befinden sich viele Messstationen in Fukushima strategisch an Orten, die besonders gut dekontaminierbar waren und wo nicht mit einer Ansammlung an radioaktivem Material zu rechnen ist, während in den Straßengräben, in den Ecken von Innenhöfen oder an Feldrändern erhöhte Messwerte auffallen würden.

So betrugen die offiziellen Behörden-Messwerte im J-Village Ende Oktober zwischen 0,085 und 0,111 μSv/h, also etwa 15- bis 20-fach weniger als die zeitgleich gemessenen Greenpeace-Dosiswerte von 1,7 μSv/h, bzw. 1000-fach weniger als die von Greenpeace auf Bodenniveau gemessene Strahlung von 71 μSv/h.3

Mittlerweile hat das japanische Umweltministerium MEXT die Greenpeace-Werte bestätigt und die Hotspots durch die Betreiberfirma TEPCO entfernen lassen. Allerdings fand Greenpeace auch einige Tage nach den erneuten Dekontaminationsmaßnahmen nur wenige Meter entfernt weitere Hotspots mit Dosisraten von 0,4 bis 1 µSv/h auf einem Meter Höhe und entsprechend höheren Werten auf Bodenniveau. Offenbar war durch TEPCO nur etwa ein Quadratmeter rund um den initial gemessenen Hotspot oberflächliches Erdreich entfernt worden, wohingegen Dekontaminationsrichtlinien in Japan üblicherweise das Abtragen in einem Radius von 20 Meter vorsehen würden.4

© IPPNW / Ralf_Schlesener | Dr. Alex Rosen (2017)
© IPPNW / Ralf_Schlesener | Dr. Alex Rosen (2017)

Greenpeace, lokale Umweltaktivist*innen und die Kampagne „Tokyo 2020 – The Radioactive Olympics“ warnen daher weiterhin davor, olympische Veranstaltungen aus rein symbolischen Gründen in der Präfektur Fukushima stattfinden zu lassen und rufen das IOC und die japanischen Behörden dazu auf, den Fackellauf und die geplanten Wettkämpfe in Fukushima Stadt in andere, weniger gefährdete Regionen zu verlegen.

Dessen ungeachtet sollen am 25. März 2021 zahlreiche Sportler*innen und auch Kinder mit der Olympischen Fackel vom J-Village quer durch die schwer kontaminierten Regionen rund um das havarierte AKW laufen. Eine internationale Petition ruft die Verantwortlichen dazu auf, diese Pläne schleunigst umzuwerfen und die Gesundheit der Athlet*innen und Teilnehmer*innen über die Interessen der japanischen Atomindustrie zu stellen.

© IPPNW | Die Petition kann online hier unterschrieben werden.

Quellen:

1     Ryall J. „Elevated radiation claimed at Tokyo 2020 Olympic venues.“ South China Morning Post, 12.10.2013. https://www.scmp.com/news/asia/article/1329729/elevated-radiation-claimed-tokyo-2020-olympic-venues

2    Tarrant J. „Radiation hot spots found at Tokyo 2020 torch relay start: Greenpeace“. Reuters, 04.12.2019. https://www.reuters.com/article/us-olympics-2020-radiation/radiation-hot-spots-found-at-tokyo-2020-torch-relay-start-greenpeace-idUSKBN1Y80PP

3    AFP: „Radiation hotspots ‚found near Fukushima Olympic site‘“. The Guardian, 04.12.2019. https://www.theguardian.com/world/2019/dec/04/radiation-hotspots-found-near-fukushima-olympic-site-greenpeace

4    Greenpeace: „J-Village still contaminated – major uncertainties over decontamination and Olympic torch route“. Greenpeace International, 17.12.2019. https://www.greenpeace.org/international/press-release/28006/j-village-still-contaminated-major-uncertainties-over-decontamination-and-olympic-torch-route/


  • Hinweis: Dieser Bericht erschien ursprünglich im Januar 2020 und wurde aufgrund der pandemiebedingten Verschiebung der Olympischen Spiele im März 2021 aktualisiert.
  • Mehr zum Thema: „Olympia-Show in der Sperrzone“
Quelle

Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW) 2021 | Artikel von Dr. Alex Rosen

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