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Wende überall? Von Vorreitern, Nachzüglern und Sitzenbleibern

Während um die „Energiewende“ rege und kontrovers debattiert wird, findet nichts Vergleichbares statt in den ebenfalls umweltrelevanten Bereichen Verkehr, Landwirtschaft, Ernährung, Wirtschaft und Wissenschaft. Doch in den Köpfen und Herzen vieler Menschen hat die Wende einen hohen Stellenwert erreicht. Das Jahrbuch Ökologie 2013 zeichnet die Wege auf, die zu einer umfassenden Wende führen können, benennt aber auch die Nachzügler und Sitzenbleiber auf diesem Weg. Vorwort von Professor Udo E. Simonis

Wende überall? Wir haben den Titel dieses Jahrbuchs mit einem Fragezeichen versehen, obwohl wir eigentlich ein Ausrufezeichen hatten setzen wollen. Wenn der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem jüngsten Gutachten sorgfältig begründet, dass angesichts der ungelösten Probleme auf dieser Welt ein „Generationenvertrag für eine Große Transformation“ ansteht, dann müssten doch überall Wende-Akteure am Werke sein. Und wenn der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) für Deutschland und die Deutschen mehr Verantwortung einfordert angesichts einer begrenzten Welt, dann müsste man diese größere Verantwortung doch irgendwo schon spüren – und vielleicht auch finden können.

Beispielhaft ist uns das gelungen. Bei unseren Recherchen zu diesem Jahrbuch fanden wir eine Reihe von Vorreitern; wir fanden aber auch viele Nachzügler und manche Sitzenbleiber. So ist denn eine Art Patchwork entstanden. Als Kunstwerk mag ein Patchwork schön aussehen, was aber die geforderte Transformation angeht, zeigt sich eher ein Stückwerk. Immerhin: Wir können den Leserinnen und Lesern ein spannendes Buch versprechen. Ob nach der Lektüre dann aus dem Fragezeichen im Titel ein Ausrufezeichen wird, das aber wollen und können wir nicht entscheiden.

Im Prozess der Wende befinden sich mehrere Sektoren. In Teil I wird nach Stand, Form und Wirkung dieser Wende gefragt in den Bereichen Energie, Verkehr, Landwirtschaft, Ernährung, Wirtschaft, Wissenschaft, sowie nach der Wende in unseren Köpfen und Herzen. Dabei zeigen sich gewisse Gemeinsamkeiten, vor allem aber große Unterschiede. Zum Themenbereich Energie ist in Deutschland nach der Dreifachkatastrophe von Fukushima eine rege, vielseitige, wenn auch hoch kontroverse Debatte im Gange, die ihre internationale Auswirkung darin findet, dass die New York Times den Begriff „Energiewende“ nicht mehr ins Englische übersetzt, sondern zu einem deutschen Spezifikum macht – ähnlich den Begriffen „Kindergarten“ und „Rucksack“.

Nichts Vergleichbares dagegen im Themenbereich Verkehr, der in diesem Jahrbuch zudem eine Wende anderer Art erfährt: Er wird zur Mobilitätswende umdefiniert und als notwendige Verschmelzung von Energie- und Verkehrswende postuliert. Der Themenbereich Landwirtschaft und Ernährung entpuppt sich trotz mancher Erfolge im Bio- und Fair Trade-Segment noch immer als stark wende-resistent, sodass der entsprechende Beitrag zu einem neuen, fordernden Plädoyer mutiert. Der Wirtschaft als Ganzes eine Wende zu konstatieren erwies sich als unmöglich, doch am Beispiel zweier Sektoren wird gezeigt, wie nachhaltigkeits-orientiertes Unternehmertum aussehen kann. Die Frage nach der Wende im Wissenschaftssystem führt zu einer Philippika, einer Kampfrede gegen verkrustete disziplinäre Strukturen und Interessen, die transformative Forschung und Bildung nicht gedeihen lassen.

Teil II sucht nach neuen aktiven Allianzbildnern für eine nachhaltige Wirtschaft und Gesellschaft und findet sie in ganz unterschiedlichen Formen und Ausprägungen: in der Lehrerschaft, in Think Tanks, bei Prosumenten, aber auch in einem dem Nachhaltigkeitsthema gegenüber durchaus offenen Unterhaltungssektor. Die faszinierendste Geschichte ließ sich jedoch über die „Solarbundesliga“ erzählen.

Den Wendeakteuren und Allianzbildnern stehen Strukturen und Themen gegenüber, bei denen eine Lösung noch nicht zu erkennen ist – das Vorfeld der Wende (Teil III). Es sind einerseits Themen, denen man im Ökodiskurs schlicht zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat (wie z. B. dem Schiffsverkehr); es sind andererseits Themen, denen die offizielle Statistik nicht nachgegangen ist (wie z. B. der Nahrungsmittelverschwendung) und Themen, bei denen die Suche nach einer Lösung unendlich viele Widerstände aktiviert (wie z. B. das Endlager für hochradioaktive Abfälle). Das Vorfeld der Wende ist aber auch durch hartnäckige Interessenstrukturen und Sackgassen der Evolution der Gesellschaft bestimmt.

Was ist sonst noch in diesem Buch zu finden? Nun, wir wollen auch diesmal Spurensicherung betreiben für Ereignisse, die nicht wieder schnell vergessen werden sollten (Teil IV). Und natürlich gibt es auch die Rubriken der Vordenker und Vorreiter (Teil V), der Umweltinstitutionen (Teil VI) sowie der Ökologie in Zahlen (Teil VII), diesmal zur Energieeinsparung und Energieeffizienz in Deutschland. Neu ist hingegen die Rubrik Das Umweltbuch des Jahres (Teil VIII), ein anderes Buch, das zur Lektüre empfohlen wird.

Das „Jahrbuch Ökologie“, das nunmehr zum 22. Mal erschienen ist, sollte auch mit dem Jahrgang 2013 wiederum viele aufmerksame und kritische Leserinnen und Leser finden.

Quelle

Udo E. Simonis 2012 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik amWissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Kurator der Deutschen Umweltstiftung

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