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Energiesparen als Schlüssel zur Energiesicherheit – Suffizienz als Strategie

Aktuell überschlagen sich Vorschläge, wie auf den Krieg in der Ukraine energiepolitisch zu reagieren ist. Ein Schlüsselprinzip rückt dabei erst langsam ins öffentliche Bewusstsein: Energiesuffizienz.

Das bedeutet, den Bedarf an Energie zu senken. Energiesuffizienz senkt Kosten, reduziert den Bedarf an Zukäufen, macht energiepolitisch unabhängiger und ist klimapolitisch hilfreich. Sie muss jetzt zu einem zentralen Prinzip politischen Handelns werden.


Insgesamt rund vierzig ausgewiesene Expertinnen und Experten der Energie- und Nachhaltigkeitsforschung sowie Personen aus der Zivilgesellschaft haben an der Entwicklung des Thesenpapiers mitgearbeitet, darunter auch Wissenschaftler*innen des ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung: Flurina Schneider, Jutta Deffner, Konrad Götz und Immanuel Stieß. Der Appell, den das ISOE ausdrücklich unterstützt, ist hier in der vollständigen Fassung zu lesen.


Als Personen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft richten wir uns mit diesen Thesen an Politik, Unternehmen und an alle Bürgerinnen und Bürger.

Krieg in der Ukraine: Energiepolitik als Sicherheitspolitik

Der Krieg in der Ukraine verändert in rasender Geschwindigkeit die Koordinaten der Politik. Drängende Fragen lauten: Ist ein Öl-, Gas- oder Kohleembargo gegen Russland möglich, ohne die Gesellschaft zu destabilisieren? Was passiert, wenn Russland von sich aus die Lieferungen stoppt? Wie soll auf die rapide steigende Energiepreise reagiert werden?

Die öffentlich diskutierten (Teil-)Antworten sind vielstimmig. Im Mittelpunkt standen lange die kurzfristige Abfederung sozialer Härten, Verträge mit zusätzlichen Lieferländern und eine größere Vielfalt der Energiequellen: Schnellerer Ausbau erneuerbarer Energien, aber auch Atomkraft, Kohle oder Fracking-Gas. Erst langsam rückt ins Bewusstsein, was wir als Gesellschaft tun können, um weniger Energie zu verbrauchen – und überhaupt zu benötigen.

Energiesuffizienz – den Energiebedarf senken

Der Fachbegriff dafür lautet Energiesuffizienz. Kurzfristig gelingt sie durch Verhaltensänderungen, einfache technische Maßnahmen oder Ordnungsrecht. Mittelfristig braucht sie Investitionen in Technik und Infrastrukturen, die das Energiesparen ermöglichen. Dazu eine Abkehr von energieintensiven Lebensstilen. Die Potenziale dafür sind bei weitem nicht ausgeschöpft.

Einige Beispiele sind:
  • Verkehr: Kurzfristig kann vor allem Treibstoff im Pkw-Verkehr gespart werden. Privat können wir das Auto möglichst oft stehen lassen, Fahrgemeinschaften bilden, das Fahrrad und den öffentlichen Verkehr nutzen oder im Homeoffice arbeiten. Politisch sind kurzfristig ein Tempolimit oder autofreie Sonntage möglich. Mittelfristig benötigen wir den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und mehr Fahrradwege. So können Städte autoarm oder gar autofrei werden.
  • Wärme: Kurzfristig kann Gas und Öl gespart werden, indem die Raumtemperatur und der Warmwasserverbrauch gesenkt, intelligente Thermostate angebracht, kontrolliert gelüftet und ggf. Heizungsanlagen hydraulisch abgeglichen werden. Mittelfristig geht es neben beschleunigter energetischer Sanierung darum, das Wachstum der Wohnfläche pro Kopf zu bremsen.
  • Öffentliche Gebäude, Gewerbe, Dienstleistungen und Handel: Hier schlummern riesige, kurzfristig zu hebende Einsparpotenziale für Strom, Gas und Öl. In Schulen, Büros und Supermärkten laufen Heizung oder Klimatisierung teils rund um die Uhr – auch wenn Räume nicht genutzt werden. Nachts können Beleuchtung und digitale Werbung reduziert werden.
  • Industrie: Bereits kurzfristig sparen Betriebsoptimierungen und Mitarbeiter*innen-Schulungen Energie. Mittelfristig vermeiden ein effektives Energiemanagement und Energiespar-Contracting viel Leerlauf und Energieverluste. Neue Geschäftsmodelle sollten auf weniger, aber langlebigere Produkte, auf Reparieren, Teilen und Weiternutzen setzen. Hand in Hand mit einem Wandel der Konsumgewohnheiten und Lebensweisen kann die Produktion bestimmter energieintensiver Produkte reduziert werden – zum Beispiel von Pestiziden oder Kunststoffen.
  • Landwirtschaft: Eine stärker pflanzliche Ernährung benötigt weniger Fläche: So entsteht mittelfristig Platz für eine naturverträgliche Landwirtschaft, die mit weniger (energieintensivem) Mineraldünger auskommt, das Grundwasser weniger belastet und Raum für eine Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten lässt. Die Vorteile für das Klima sind zudem hoch.
  • Digitalisierung: Kurzfristig spart eine sparsamere Datennutzung Strom auf Serverfarmen und in Übertragungsnetzen: Download statt Streaming, WLAN statt mobiler Daten; Nachschlagen statt googeln. Mittelfristig geht es u.a. darum, die in der Herstellung energieintensiven IT-Geräte länger zu nutzen. Dafür sind auch die Hersteller gefragt, Reparatur und Updates zu ermöglichen.
Energiesuffizienz hat viele Stärken
  • Sie macht unabhängiger, widerstandsfähiger gegen Lieferausfälle, und politisch handlungsfähiger, weil man weniger erpressbar ist. Unabhängiger ist nicht nur eine Gesellschaft, die mehr hat, sondern vor allem eine, die weniger braucht.
  • Viele Energiesuffizienz-Maßnahmen benötigen keine oder nur sehr geringe Investitionen und Infrastrukturen. Damit sind sie sofort umsetzbar und unschlagbar kostengünstig. Sie setzen damit dringend benötigte Mittel für Investitionen in die Energiewende frei.
  • Viele Bürgerinnen und Bürger sind entsetzt über den sinnlosen und grausamen Krieg in der Ukraine und möchten etwas dagegen tun. Diesen Impuls gilt es aufzugreifen. Energiesuffizienz eröffnet einen Ausweg aus der Ohnmacht und ist ein Akt praktischer Solidarität.
  • Energiesuffizienz schafft keine neuen Abhängigkeiten von klimaschädlichen Technologien. Und sie erfordert keine Kompromisse mit Staaten, die Menschenrechte missachten.
  • Viele Energiesuffizienzmaßnahmen haben positive Nebeneffekte. Fahrradfahren oder mehr pflanzliche Produkte essen ist gesund, langsamer fahren fördert die Verkehrssicherheit.
Es braucht eine Energiesuffizienzpolitik

Mehr denn je benötigen wir energiesparendes Handeln der Bürgerinnen und Bürger, Organisationen und Unternehmen. Sie brauchen dafür jedoch Unterstützung. Energiesparendes Handeln zu ermöglichen und zu fördern, ist eine politische Aufgabe. Sie betrifft alle Sektoren und alle Anwendungen für Energie(träger).

Energiesuffizienz als politische Strategie ernst nehmen, bedeutet:

  • Energiesuffizienz zu einem Leitprinzip machen: Jede Kilowattstunde, die nicht gebraucht wird, muss nicht beschafft werden. Was nicht vermieden werden kann, muss effizient eingesetzt („Effizienz“) oder erneuerbar erzeugt werden („Konsistenz“). Fossile Energie aus alternativen Quellen ist eine Überbrückungslösung, die so sparsam und kurz wie möglich eingesetzt werden sollte.
  • Vorhandenes Wissen nutzen und Lernprozesse einleiten. Energiesuffizienz kann auf einen breiten Erfahrungsschatz aufbauen: Möglichkeiten zum Energiesparen sind seit langem erforscht. Eine Reihe von Quellen ist diesem Thesenpapier beigefügt. Jetzt ist vor allem ein gesellschaftlicher Lernprozess nötig, der anerkennt, dass Energie nicht unbegrenzt zur Verfügung steht.
  • Die Verletzlichsten schützen und Knappheit gerecht verteilen. Eine Grundversorgung mit Wärme, Strom, Mobilitätsdienstleistungen und Lebensmitteln muss für alle Menschen sichergestellt werden. Organisationen und Personen mit besonders hohen Verbräuchen müssen dazu in besonderer Weise beitragen – durch eigene Einsparungen oder finanzielle Beiträge.
  • Bedarfe reflektieren. Es braucht es eine offene Debatte darüber, welche Bedürfnisse und Wünsche befriedigt werden müssen und was eventuell verzichtbar ist. Z.B. herrscht in Wohngebäuden durchschnittlich eine Temperatur von 22 Grad. Sie könnte ohne größere Einbußen an Lebensqualität um 2 Grad gesenkt werden.
  • Zeitlich gestaffelte und für alle nachvollziehbare Konzepte entwickeln. Aufbauend auf diese Debatte sollte die Politik Antworten zu den Fragen entwickeln: Bei welchen Energieträgern, Sektoren und Anwendungen kann gespart werden? Was davon ist kurzfristig umsetzbar? Was mittelfristig? Welchen Voraussetzungen braucht es dafür?
  • Überzeugend politisch kommunizieren. Die Politik sollte die klare Botschaft senden, dass Energiesuffizienz eine gemeinsame Aufgabe und ein wichtiger Baustein einer energiepolitischen Strategie ist. Zielgruppengerechte Aktivierungskampagnen und konzertierte Aktionen („wir sparen gemeinsam“) tragen dazu bei. Dafür sollte eine breite Stakeholderallianz auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene gebildet werden.
  • Mit Ordnungsrecht und Preissignalen steuern. Um Trittbrettfahren auf Kosten der Mehrheit zu vermeiden, müssen diese Botschaften durch verbindliche Vorgaben verstärkt werden. Dazu gehören z.B. ein Tempolimit oder anspruchsvolle Produktstandards, die auch zur Wahl kleinerer Modelle motivieren. Für Energieversorger und Netzbetreiber könnten Energiesparquoten eingeführt werden. Auch müssen klare Preissignale für Energieverbrauch erhalten bleiben. Öffentliche Mittel sollten nicht den Verbrauch subventionieren, sondern die Schwächsten entlasten und Hilfen zum Energiesparen bereitstellen – etwa Beratung oder Investitionszuschüsse für Spartechnik.
  • Rasch handeln. Damit erste Maßnahmen bis zum nächsten Winter greifen, muss nicht nur mit den Planungen, sondern auch mit ersten Umsetzungen sofort begonnen werden.

Auf einen Blick
  • Energiesuffizienz muss zu einem Leitprinzip der Politik werden – gefolgt von Effizienz und erneuerbaren Energien. Alternative fossile Energiequellen sind nur eine Überbrückungsmaßnahme.
  • Finanzielle Mittel sollten nicht den Verbrauch subventionieren. Sie müssen einerseits auf Suffzienzmaßnahmen konzentriert werden, die eine große Wirkung haben. Andererseits sollen sie benachteiligte und verletzliche Gruppen finanziell und beim Energiesparen unterstützen.
  • Energiesuffizienzpolitik braucht einen Mix aus überzeugender zielgruppengerechter Kommunikation, Ordnungsrecht und klaren Preissignalen.
  • Die politisch Verantwortlichen müssen jetzt damit beginnen, Deutschland und Europa durch Energiesuffizienz krisenfester zu machen.


Erstunterzeichnende
  • Anja Bierwirth, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie
  • Almut Bonhage, Stefan Scheuer Consulting, Brüssel
  • Dr. Benjamin Best, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie
  • Prof. Harald Bradke, Fraunhofer Institut für System und Innovationsforschung ISI
  • Klaus Breil, MdB (17. WP), Oberland Consulting, Mitglied Beirat der DENEFF, Bernried a. S.
  • Dr. Lars-Arvid Brischke, ifeu – Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg gGmbH
  • Dr. Jutta Deffner, ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung, Frankfurt am Main
  • Dr. Elisabeth Dütschke, Fraunhofer Institut für System und Innovationsforschung ISI
  • Dr. Hartmut Ehmler, Scientists for Future
  • Prof. Wolfgang Eichhammer, Fraunhofer Institut für System und Innovationsforschung ISI
  • Prof. Dr. Manfred Fischedick, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie
  • Dr. Corinna Fischer, Öko-Institut e.V.
  • Prof. Dr. Doris Fuchs, Ph.D., Westfälische Wilhelms-Universität Münster
  • Carl-Otto Gensch, Öko-Institut e.V.
  • Dr. Konrad Götz, ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung, Frankfurt am Main
  • Dr. Christoph Gran, ZOE-Institut für zukunftsfähige Ökonomien
  • Prof. Dr. Rainer Grießhammer, Universität Freiburg
  • Prof. Dr. Stefan Heiland, TU Berlin
  • Prof. Dr. Peter Hennicke, Wuppertal
  • Prof. Dr. Martin Jänicke, Environmental Policy Research Centre, FU Berlin
  • Leon Leuser, Jacques Delors Institut Paris
  • Dr. Sylvia Lorek, Sustainable Europe Research Institut, Deutschland e.V.
  • Prof. Dr. Kai Nagel, TU Berlin
  • Christian Noll, Deutsche Unternehmensinitiative Energieffizienz e.V. (DENEFF)
  • Prof. Dr. Pao-Yu Oei, Europa-Universität Flensburg
  • Prof. Dr. Flurina Schneider, ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung, Frankfurt am Main
  • Prof. Dr. Ulf Schrader, TU Berlin
  • Dr. Joachim H. Spangenberg, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland
  • Dr. Immanuel Stieß, ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung, Frankfurt am Main
  • Dr. Stefan Thomas, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie
  • Prof. Dr. Christian Thorun, ConPolicy – Institut für Verbraucherpolitik
  • Josephine Tröger, Fraunhofer Institut für System und Innovationsforschung ISI
  • Prof. Dr. Frauke Wiese, Europa-Universität Flensburg
  • Franziska Wolff, Öko-Institut e.V.
  • Prof. Dr. Angelika Zahrnt, Ehrenvorsitzende, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND)
  • Carina Zell-Ziegler, Öko-Institut e.V. Dr. Hans-Joachim Ziesing
Quelle

Institut für sozial-ökologische Forschung / Soziale Ökologie / Flurina Schneider, Jutta Deffner, Konrad Götz, Immanuel Stieß 2022

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