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Steigende Netzkosten: Blindflug durch das Entgeltsystem beenden, Reformen anpacken

Agora Energiewende kritisiert Fehlentwicklungen bei einem der größten Posten auf der Stromrechnung und empfiehlt eine grundlegende Neuordnung des Systems der Stromnetzentgelte.

Das System der Stromnetzentgelte steuert auf immer gravierendere Fehlentwicklungen zu: Zum einen steigen die Netzkosten und könnten schon bald der größte Einzelposten auf der Stromrechnung sein. Zum anderen behindern die aktuellen Regeln für die Netzentgelte den Umbau des Stromsystems im Zuge der Energiewende – sie wirken ihm zum Teil sogar entgegen. Hierbei können Politik und Wissenschaft aber nicht nachzuvollziehen, wofür die Netzentgelte in der Höhe von bundesweit jährlich rund 24 Milliarden Euro genau ausgegeben werden und wie sie auf die unterschiedlichen Gruppen von Stromverbraucherinnen und Stromverbrauchern umgelegt werden. Die Netzausgaben werden daher de facto im Blindflug gesteuert. Damit die Politik die Steuerbarkeit wiedererlangt, empfiehlt Agora Energiewende in einem heute veröffentlichten Papier dringend eine umfassende Reform der Netzentgelte.

Hintergrund ist, dass die Netzkosten im Jahr 2019 um 1,5 bis 2 Milliarden Euro steigen werden – die genaue Zahl ist aufgrund mangelnder Datentransparenz nicht bezifferbar. Gleichzeitig werden seit diesem Jahr die Netzausbaukosten für Offshore-Windparks in Höhe von 1,7 Milliarden Euro nicht mehr über die Netzentgelte, sondern über eine neu geschaffene Wind-Offshore-Umlage erhoben. Daher bleiben die Netzentgelte auf den Preisblättern der Netzbetreiber zwar oft konstant, die Netzkosten für die Verbraucher steigen aber 2019 trotzdem um etwa 6 bis 8 Prozent – kaschiert mit der neuen Umlage. „Wir brauchen neue Netze“, schlussfolgert Dr. Patrick Graichen, Direktor von Agora Energiewende und einer der Autoren der Studie. „Aber die Netzkosten und die Netzentgelt-Struktur sind derzeit so intransparent, dass es de facto unmöglich ist, Netzausbau und Netzkosten effizient zu regulieren. Dabei wird das bald der größte Kostenpunkt des Stromsystems werden.“   

Die Autoren schlagen in dem Papier einen Grün- und Weißbuchprozess vor, in dem die Probleme der Netzentgelte zunächst analysiert, anschließend systematisch bearbeitet und schließlich aufgelöst werden. Die Empfehlungen konkretisieren damit einen Beschluss der Bundesregierung, die im Koalitionsvertrag eine Reform der Netzentgelte vereinbart hatte, ohne dass es jedoch in diesem Bereich bisher Aktivitäten gegeben hätte.

„Die Regeln über die Netzentgelte sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten aufgrund vieler einzelner Änderungen immer verworrener geworden, von einem in sich schlüssigen Konzept sind sie weit entfernt“, analysiert Thorsten Lenck, Projektleiter von Agora Energiewende und einer der Autoren der Studie. „Wir sehen zahlreiche Ausnahmen, uneinheitliche Regelungen und große Transparenzdefizite, die aktuell sogar verhindern, dass Wissenschaft und Forschung ein durchdachtes Modell erarbeiten können. Dabei wäre genau das dringend nötig, um sowohl die zunehmenden Mengen von Strom aus Erneuerbaren Energien zu möglichst geringen Kosten ins Netz zu integrieren als auch die zusätzliche Stromnachfrage von Elektroautos und von Wärmepumpen zu befriedigen, ohne dafür die Netze mehr als nötig auszubauen“, sagt Lenck. „Es ist daher notwendig, die Kriterien entlang derer die Netzentgelte erhoben werden, von Grund auf neu zu definieren.“

Oberste Priorität habe dabei die Beantwortung der Frage, welchem Ziel die Netzentgelte prioritär dienen sollten: einem effizienten Stromsystem, einer möglichst gerechten Verteilung der Netzkosten auf die Netznutzer oder einer möglichst gerechten Zahlung der Netzkosten durch die Verursacher von neuen Netzausbaumaßahmen. Wichtig sei gleichfalls, Transparenz über die Kosten der Stromnetze bei den rund 900 Netzbetreibern in Deutschland und den von Ihnen erhobenen Netzentgelten herzustellen. Das könnte beispielsweise die Kosten für den Netzbetrieb einerseits und die Investition in Netzausbau für Wissenschaft und Politik unterscheidbar machen. Auch die Beteiligung von Stromerzeugern an Netzkosten sowie ein bundesweiter Ausgleich der regionalen Verteilnetzkosten, die sich durch die Energiewende sehr unterschiedlich entwickeln, stehen – neben weiteren Punkten – auf der Diskussionsliste.

„Klar ist: Die Netzentgeltreform muss die Finanzierung der Netzkosten bei gleichzeitig volkwirtschaftlicher und klimaökonomischer Effizienz gewährleisten“, betont Andreas Jahn, Senior Associate beim Regulatory Assistance Project und dritter Autor der Studie. „Dabei sind Verteilungsgerechtigkeit sowie Umsetzbarkeit, Transparenz, Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit der Maßnahmen zu gewährleisten.“

Allerdings wird der von Agora Energiewende vorgeschlagene Grün – und Weißbuchprozess angesichts der Komplexität der Herausforderungen einige Jahre dauern und daher erst Anfang der 2020er-Jahre gesetzliche Wirkung entfalten können. Die Autoren des Papiers schlagen daher zusätzlich eine Reihe schnell umsetzbarer Erste-Hilfe-Maßnahmen vor. Dazu zählen unter anderem:

  • die Herstellung vollständiger Transparenz über Aufkommen und Verwendung der Netzentgelte,
  • das Abschaffen von Anreizen für einen möglichst gleichmäßigen Stromverbrauch, die aktuell verhindern, dass große Stromverbraucher ihre Nachfrage nach Angebot und Preis an der Strombörse richten,
  • die Sicherung niedriger Grundpreise für Kleinverbraucher, um dem Trend zu immer höheren Grundpreisen für die Netznutzung entgegenzuwirken. Dieser benachteiligt Geringverbraucher derzeit in etlichen Regionen Deutschlands gegenüber Haushalten mit höherem Stromverbrauch und macht Stromsparen unattraktiver,
  • die Einführung von flexiblen Netzentgelten für neue Verbraucher wie Elektroautos und Wärmepumpen, damit sich der Stromverbrauch flexibel an die aktuelle Belastung der Stromnetze anpasst.

„Es ist dringend geboten, bei den Netzentgelten aufzuräumen – das lässt sich nicht oft genug betonen. Das lässt sich beispielsweise an den für 2019 festgesetzten Netzentgelten illustrieren: Diese sind bislang alle vorläufig, weil eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes aussteht. Die Bürgerinnen und Bürger werden aber nie erfahren, wie genau das Urteil auf die Netzentgelte wirkt, weil das im Jahr 2020 über Verrechnungen geregelt wird – allerdings ohne, dass die Netzbetreiber verpflichtet sind, diese offenzulegen“, sagt Graichen.

Quelle

Agora Energiewende 2019

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