Zukunftsfähige Industriepolitik: Wohlstand, Sicherheit und Klimaschutz vereinen
Zehn Kriterien als Gestaltungshilfe für die neue Bundesregierung.
Forschende des Wuppertal Instituts und der Bertelsmann Stiftung haben zehn Kriterien entwickelt, um industriepolitische Maßnahmen auf ihre Zukunftsfähigkeit hin zu überprüfen. Damit legen sie erstmals einen wissenschaftlich fundierten Rahmen zur Bewertung deutscher Industriepolitik vor: Die Kriterien ermöglichen es, industriepolitische Interventionen passgenau auf übergeordnete Ziele wie Wettbewerbsfähigkeit, Klimaneutralität und Sicherheit zuzuschneiden, ihr komplexes Zusammenspiel auf regionaler, nationaler und EU-Ebene zu analysieren sowie Zielkonflikte transparent zu machen. Die Studie wurde gestern, am 20. Mai, bei einer Diskussionsveranstaltung in Berlin von den Autor*innen vorgestellt.
Der stotternde deutsche Wirtschaftsmotor, schwelende Handelskriege, die Bedrohung durch Russland und nicht zuletzt die Transformation hin zur Klimaneutralität: Die neue Bundesregierung steht vor komplexen Herausforderungen – und muss darauf mit einer kohärenten, zielgerichteten Industriepolitik antworten. Mit dem Clean Industrial Deal hat die Europäische Kommission bereits eine große industriepolitische Strategie für Europa auf den Weg gebracht. In Deutschland ist die industriepolitische Debatte jedoch häufig ideologisch aufgeladen und durch scheinbar unüberbrückbare Gegensätze gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund legen die Bertelsmann Stiftung und das Wuppertal Institut mit der Studie „Zukunftsfähige Industriepolitik: Wohlstand, Sicherheit und Klimaschutz vereinen“ nun einen Rahmen zur strukturierten Bewertung von Industriepolitik-Instrumenten vor, der die Arbeit der neuen Bundesregierung unterstützen soll.
Zehn Kriterien für eine zukunftsfähige Industriepolitik
Kern der Studie sind zehn Kriterien für eine zukunftsfähige Industriepolitik. Sie sollen politischen Entscheidungsträger*innen helfen, die Diskussion über industriepolitische Instrumente zu strukturieren, die zugrundeliegenden Ziele transparent zu machen sowie Zielkonflikte zu erkennen und zu entschärfen. Auf dieser Basis lassen sich politische Interventionen so gestalten, dass sie im komplexen politischen Mehrebenensystem funktionieren und die gewünschte Wirkung erzielen. „In Zeiten geopolitischer Umbrüche, verschärften globalen Wettbewerbs und den Herausforderungen des Klimawandels können Deutschland und die EU nicht auf gezielte Industriepolitik verzichten. Industriepolitische Maßnahmen – und damit Eingriffe in den Markt – bergen aber immer auch Risiken und können zu Zielkonflikten führen, die adressiert werden müssen. Genau für dieses Spannungsfeld haben wir nun einen Bewertungsrahmen entwickelt, mit dem sich Industriepolitik gestalten, überprüfen und gegebenenfalls korrigieren lässt“, erläutert Dr. Anna Leipprand, Co-Leiterin des Forschungsbereichs Transformative Industriepolitik am Wuppertal Institut und Erstautorin der Studie.
Reality Check anhand drei konkreter Fallstudien in Deutschland
Um die aus der Theorie heraus entwickelten Kriterien zu testen und zu validieren, haben die Forschenden sie auf drei konkrete Fallstudien angewandt. Dazu haben sie vielversprechende Projekte für eine zukunftsfähige Transformation der Industrie ausgewählt, die sowohl regional als auch sektoral eine große Bandbreite abdecken:
- die Förderung des europäischen Batterieökosystems am Beispiel der Kathodenfabrik von BASF in Schwarzheide in der Lausitz
- den Aufbau des Wasserstoffmarkts in Niedersachen und Nordrhein-Westfalen am Beispiel von GET H2
- die Transformation der Stahlproduktion am Beispiel des Projekts „SALCOS“ der Salzgitter AG in Salzgitter
Für die Erstellung der Fallstudien haben die Forschenden die bestehende Literatur ausgewertet und Interviews mit Vertreter*innen der betrachteten Projekte, der Wissenschaft und der Politik geführt. „Die Ergebnisse der Fallstudien zeigen, dass die entwickelten Kriterien weit über eine akademische Fingerübung hinausgehen: Durch ihre Anwendung lassen sich konkrete Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen für die Politik ableiten“, sagt Daniel Posch, Wirtschaftsexperte bei der Bertelsmann Stiftung und Mitautor der Studie.
Industriepolitik gestaltet die Wirtschaftsstruktur, um gesellschaftliche Ziele zu erreichen
Industriepolitik steht heute vor einer besonderen Herausforderung: Sie muss verschiedene Ziele – Klimaneutralität, internationale Wettbewerbsfähigkeit, Innovationsfähigkeit, Resilienz und Versorgungssicherheit, sozialen Zusammenhalt sowie nicht zuletzt die Sicherung von Wertschöpfung und Beschäftigung – gleichzeitig verfolgen und dabei mit Zielkonflikten umgehen. In der nun veröffentlichten Studie erläutern die Autor*innen, unter welchen Bedingungen industriepolitische Maßnahmen sinnvoll und legitim sind. Dabei stellen sie klassische, oft protektionistische Industriepolitik – etwa Zölle oder Subventionen für einzelne Branchen oder Unternehmen – ebenso zur Diskussion wie die Förderung sogenannter Infant Industries und strategischer Schlüsseltechnologien, die Finanzierung von Infrastruktur und öffentlichen Gütern, Maßnahmen für Klimaschutz und Resilienz sowie das Steuern und Abfedern von Strukturwandel-Prozessen. Die Studie „Zukunftsfähige Industriepolitik: Wohlstand, Sicherheit und Klimaschutz vereinen“ und das Impulspapier „Zukunftsfähige Industriepolitik: Leitlinien für die nächste Bundesregierung“, das die Kriterien auf sieben Seiten zusammenfasst, stehen über die nachfolgenden Links kostenfrei zum Download bereit.
- Studie: Zukunftsfähige Industriepolitik – Wohlstand, Sicherheit und Klimaschutz vereinen
- Impulspapier: Zukunftsfähige Industriepolitik – Leitlinien für die nächste Bundesregierung
- Projekt: ZIP – Zukunftsfähige Industriepolitik