Umweltgeschichte Deutschlands
Es gibt unendlich viele Bücher über deutsche Geschichte. Ein umfängliches Buch zur Umweltgeschichte Deutschlands gab es bisher nicht. Nun aber ist es endlich da. Eine ausführliche Präsentation und eine erste Bewertung von Professor Udo E. Simonis
Ab und zu ergibt es sich, dass auch Wissenschaftler sich in unserer schnelllebigen Zeit genügend Zeit nehmen – drei oder auch fünf Jahre für ein Opus magnum. Über einen solchen Fall gilt es hier zu berichten. Hans-Rudolf Bork ist Professor für Ökosystemforschung mit einem breiten fachlichen Hintergrund: er ist ausgebildeter Geograph, Bodenkundler und Geoökologe. In Kooperation mit Verena Winiwarter erschien 2014 der wunderschöne Text-Bildband „Geschichte unserer Umwelt“ über die komplexen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur – anhand von 60 exemplarischen Reisen durch die Zeit und die ganze Welt. Diesmal nun – im Alleingang, aber mit Danksagung an mehr als 50 Kolleginnen und Kollegen, sowie die Teilnehmer seiner Vorlesungen für ältere Erwachsene – ein Buch über die „Umweltgeschichte Deutschlands“.
Es kommt schlank daher, ist in Wirklichkeit aber höchst schwergewichtig: Es hat nur 418 Seiten Text, aber solche im DIN A-4- Format mit kleiner Schrifttype; es bringt 179 aufwändig recherchierte und nachbehandelte Bilder, hat 1.427 Endnoten und ein Stichwortverzeichnis mit mehr als 2.000 Stichworten (von A, wie A/HINI Influenza bis Z, wie Zyklon B).
Die Leserin/der Leser sollte all dies wissen, bevor sie/er ans Werk geht. Das Lesen selbst aber wird ihr/ihm relativ leicht gemacht. Man kann das Buch nämlich in ganz unterschiedlicher Weise lesen: systematisch und zeitlich geordnet, von der römischen Zeit Deutschlands bis heute, oder nach fachlichen Kategorien wie Klima, Biodiversität, Landwirtschaft, Industrie, Verkehr, Energie, Umweltwirkungen von Macht und Krieg oder Umweltpolitik und Umweltschutz. Man kann aber auch entlang bewusst ausgewählter Umweltgeschichten vorgehen – denn deren gibt es viele, nämlich 260. Davon entfallen, auf die zweitausend Jahre deutscher Geschichte verteilt, 78 (etwa 30 %) in die Zeit von der 2. Dekade v. Chr. bis ins 18. Jh., 71 (27 %) in die Jahre 1800 bis 1948 und 111 (knapp 43 %) in die Jahre 1949 bis 2019.
Teil I: Einführung
In Teil I des Buches, der Einführung, begründet der Autor seine Methodik und seine Absicht. Eine zeitlich umfängliche Umweltgeschichte schreiben zu wollen führt zur Entdeckung zahlreicher umweltrelevanter Ereignisse. Sie zu betrachten und zu bewerten erfordert notwendigerweise kompakte Darstellungen, die oft nur eine oder zwei Seiten für Text und Bild erlauben. Da wir es bei dem Autor aber mit einem sorgfältigen Wissenschaftler zu tun haben, weist er für eine Vertiefung des jeweiligen Themas immer auch auf die Endnoten und das Literaturverzeichnis des Buches hin. Die vorgestellten Umweltgeschichten sind eine subjektive Auswahl des Verfassers; es sind die aus seiner Sicht wichtigsten, interessantesten und spannendsten Umweltereignisse der vergangenen zweitausend Jahre auf dem heutigen Gebiet der Bundesrepublik Deutschland.
Die inhaltliche Reichweite des Buches ist breit angelegt: Es untersucht die Eingriffe und Einflüsse der Menschen, die in Deutschland lebten, auf ihre natürliche Umwelt; und es beleuchtet die Wirkungen der Umwelt auf die in Deutschland lebenden Menschen. Da die Verflechtungen der Menschen mit ihrer Umwelt höchst vielfältig sind, würde eine stark verallgemeinernde Umweltgeschichte unspezifisch, ungenau und spekulativ bleiben. Aus diesen methodischen Gründen bilden 260 (!) konkrete, in vielen Fällen lokale oder regionale Umweltereignisse den Kern des Buches. Der Autor will wissen und zeigen, wie sich die Kenntnisse über die natürliche Umwelt, zu unseren Wirkungen auf die Umwelt und zu den Wirkungen der Umwelt auf uns im Laufe der Zeit wandelten – und wie Menschen und Institutionen mit dem sich ändernden Wissen umgingen.
Teil II: Die Umweltgeschichte in Schlüsseldaten
In Teil II des Buches werden die Schlüsseldaten der Umweltgeschichte in acht zeitlich aufeinander folgenden Kapiteln vorgestellt. Bei der jeweiligen Darstellung und Bewertung schwingt bei dem Autor ein begleitendes Wort des Philosophen Konfuzius mit: „Der Mensch hat dreierlei Wege, klug zu handeln: durch Nachdenken, das ist der edelste; durch Nachahmen, das ist der leichteste; durch Erfahrung, das ist der bitterste Grund“. Von den im Buch präsentierten 260 individuellen Umweltgeschichten kann im Folgenden nur eine kleine, aber abwechslungsreiche Anzahl in jeweils knappster Wortwahl referiert werden – der Rezensent bittet um Verständnis.
In Kapitel 1 geht es primär um die Frage, ob von der Römerzeit bis ins 15. Jh. die Natur noch das Handeln der Menschen wesentlich bestimmt hat. Die erste Geschichte hierzu betrifft die Landnahme der Römer zu Mitte des letzten vorchristlichen Jahrhunderts westlich des Rheins und südlich der Donau, was die dortige ökologische Situation grundlegend verändert hatte. Das wohl organisierte römische Staatswesen mit permanenten Siedlungen traf auf germanische Kulturen, die gewöhnlich nach einer Phase der Sesshaftigkeit weiterwanderten. Beide Systeme waren nicht kompatibel; es kam immer wieder zu (kriegerischen) Konflikten. Für die Zeit von 10 vor Chr. bis 220 nach Chr. belegen die Eifelmare schon massive Luftbelastungen durch Bleiverhüttung. Ab 100 nach Chr. beginnt der Bau des Obergermanisch-Raetischen Limes, ein architektonisches Meisterwerk, das fruchtbare Gebiete umrahmte, über die eine ausreichende Ernährung sichergestellt werden konnte – und so der Pax Romana diente. Vom 4. bis 7 Jh. nach Chr. breiten sich naturnahe Wälder letztmals stark aus. Im Jahr 696 beginnt die Reichenhaller Salzproduktion, im 9. Jh. wird Rohglas im Solling produziert. Im 10. Jh. entwickelt sich die Wikinger Siedlung Haithabu zu einem für ganz Nordeuropa bedeutenden Handels- und Handwerkszentrum. 1129 bis 1296: Urkundliche Belege zur Kohlengräberei im Ruhrgebiet. 17. Februar 1164: Die Julianenflut verheert die niedersächsische Nordseeküste. August 1248 bis Oktober1880: Für den Bau des Kölner Doms wird im Siebengebirge ein ganzer Berg versetzt. 1348 bis 1351: Der „Schwarze Tod“ – die Pest – breitet sich über die Seidenstraße und Handwerkswege im Süden Asiens nach Europa aus, erreicht 1349 große Teile West- und Süddeutschlands und 1350 auch den Norden. Etwa ein Drittel der Bevölkerung zwischen Alpen und Flensburger Förde fällt der Pandemie zum Opfer. Ab 1367 beginnen die Fugger die Textilherstellung aus Schafswolle, Flachs und Baumwolle, was schwerwiegende Umwelteffekte verursacht. Um 1470 wird der letzte zwischen Alpen und Nordsee lebende Auerochse erschossen.
In Kapitel 2 geht es um die zunehmende Land- und Meeresnutzung und deren Folgen. Oberdeutsche Handelshäuser wie die Augsburger Fugger, Welser und Höchstetter engagieren sich in der ersten Hälfte des 16. Jh. im Afrika-, Indien- und Lateinamerikahandel, im Geschäft mit Metallen, Waffen und Munition. Sie beeinflussen so den Blei-Bergbau in der Eifel, die Produktion von Eisenwaren im Bergischen Land, die Messingverarbeitung in Aachen und die Herstellung von nautischen Geräten in Nürnberg. 1540: Megadürre in Mitteleuropa, 1570 bis 1575 die Hungersnot. 1589: Carolus Clusius pflanzt die ersten Kartoffeln in Frankfurt am Main. Hamburger Walfänger fahren in den 1650er und 1660er Jahren häufig in Richtung Grönland, viele Schiffe gehen dabei verloren. 1681 bis heute: Neue Linien (Straßen und Knicks) zerschneiden und verbinden Schleswig-Holstein.
In Kapitel 3 geht es um Geschichten an der Schwelle zur Industrialisierung und zu den Agrarreformen. Spannend die betriebene Generierung von Umweltwissen: Die vom französischen Staat gegründete Académie Francaise hatte 1671 mit der Veröffentlichung wissenschaftlicher Preisaufgaben begonnen. Im Jahr 1744 folgt die Königlich Preußische Societät zu Berlin, in 1752 die Königliche Societät der Wissenschaften zu Göttingen. Doch von den 100 Preisfragen, die zwischen 1753 und 1853 in Göttingen veröffentlicht worden waren, wurden 49 gar nicht beantwortet und nur 30 mit Preisen geehrt. 1756: König Friedrich II. erlässt den „Kartoffelbefehl“. 1758: Der Beginn der „Ruhrindustrie“: Bergbau, Eisenverhüttung und -verarbeitung konzentrieren sich zwischen Rhein und Weser bis ins 19. Jh. 1764: Die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin ehrt Johan Paul Baumer für eine Schrift über Holzsparöfen. 27. Februar 1784: Ludwig van Beethoven flieht in Bonn vor einer Eisflut des Rheins. 1789 ff.: Peter Joseph Lenné verändert Umwelten wie nur wenige Gartengestalter vor und nach ihm, schafft neue Kulturlandschaften, die Menschen aus aller Welt bis heute besuchen und bewundern. 1816 bis 1914: Zahlreiche Deutsche wandern aus und verändern die natürliche Umwelt Nordamerikas.
In Kapitel 4 gibt es viele Geschichten aus der Zeit der Früh- und Hochindustrialisierung. Sehr interessant die Passage über Justus von Liebig, einen der Väter der Agrikulturchemie. Spektakulär die Geschichte, wie Anisschnaps die Zerstörung der Altstadt von Hamburg beförderte (4. bis 8. Mai 1842). 1850er bis 1990er Jahre: Die Elbe ist stark verschmutzt. 1870 bis 1873: Die letzte schwere Pockenepidemie fordert mehr als 180.000 Menschenleben. 1871: Philipp Leopold Martin definiert erstmals den Begriff „Naturschutz“. 29. Januar 1886: Das Kaiserliche Patentamt erteilt Benz & Co. ein Patent für einen Motorwagen. 1893: Das Usambara-Veilchen kommt nach Deutschland. Spätes 19. Jh. bis heute: Die weite Versiegelung der Böden verändert die Umwelt.
In Kapitel 5 geht es um die Erfindung der Stickstoff-Synthese bis zu den Folgen des Nationalsozialismus. Am 13. Oktober 1908 beantragt Fritz Haber Patentschutz für ein Verfahren zur Ammoniaksynthese; 1909 tropft erstmals synthetisches Ammoniak aus seiner Versuchseinrichtung. Aber welche Apparatur vermag tausende Tonnen statt weniger Tropfen für die Landwirtschaft zu liefern? Dazu bedurfte es des technischen Wissens von Carl Bosch, der in der Badischen Anilin- und Soda-Fabrik (BASF) in Ludwigshafen arbeitete. Die Ammoniaksynthese nach dem Haber-Bosch-Verfahren benötigt heute fast 5 % des weltweit geförderten Erdgases; als Abfallprodukt bildet sich hochgiftiger Schwefelwasserstoff (H2S).
Die Ammoniaksynthese gilt vielen als die bedeutendste Leistung der Chemie im 20. Jh. und als Erfindung, die unsere Welt wie wenige andere verändert hat: Im Guten, was die Ernährung der Menschheit angeht, im Schlechten, was in Kriegszeiten den Einsatz von Schießpulver angeht, und in Friedenszeiten die Schadstoffbelastung der Flüsse und den Nährstoffaustrag von Äckern betrifft. 1912: Auch zweifaches Staubwischen am Tag beseitigt nicht den Ruß in den Wohnungen an der Krupp‘schen Fabrik in Essen. 1914 bis 1918: Schwere Naturverheerungen durch deutsche Kriegshandlungen. 20. April 1915: Der erste Giftgaseinsatz durch deutsche Truppen verändert den Lauf der Geschichte. 24. September 1921 bis 1945: Von der Eröffnung der AVUS bis zum Autobahnbau der Nazis. 1933 bis 1945: Die ideologische Rolle des Waldes im Nationalsozialismus. 1. Oktober 1935: Das Reichsnaturschutzgesetz tritt in Kraft. 1936 bis 1945: Schwere Umwelteffekte der Raketenrüstung in Peenemünde. 1937: Massive Gesundheitsschäden durch organische Quecksilberverbindungen. 1939 bis 1945: Deutsche Unternehmen ermöglichen mit dem Herbizid Zyklon B die Shoa und Porajmos. 1939 bis heute: Erhebliche Umweltbelastungen durch Kampfmittel aus dem Zweiten Weltkrieg. 1946/47: Der letzte Hungerwinter.
In Kapitel 6 geht es um den Fortschrittsglauben und das Wirtschaftswunder – um die beginnende Große Beschleunigung. Die erste Geschichte von 1946 bis 1990: Ein sächsisch-thüringischer Rohstoff (Uran) trägt zum „Gleichgewicht des Schreckens“ bei. (Diese Geschichte ist mit 7 Seiten die längste des ganzen Buches). Ab 1950: Flurbereinigungen verändern die Umwelt der BRD. 1950er Jahre bis heute: Massive Umwelteffekte der Landnutzung und des weiter zunehmenden Verkehrs. 1950er Jahre bis 1990: SERO: Erfassung, Sammlung und Verwertung von Sekundärrohstoffen in der DDR. 4. August 1954: Naturschutzgesetz der DDR. 27. Juli 1957: Wasserhaushaltsgesetz der BRD. 1960er Jahre bis heute: Es gibt immer weniger Insekten in Deutschland. 28. April 1961: Willy Brandt fordert: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden“. 1963 bis 1987: Proteste gegen den Bau der Startbahn 18 West in Frankfurt. 1967 bis 1978: Die gescheiterte Einlagerung radioaktiver Abfälle in die Schachtanlage Asse II.
In Kapitel 7 geht es um die Große Beschleunigung und die Wahrnehmung ihrer Nebenwirkungen. Die erste Geschichte erzählt von einer guten Nachahmung (im Sinne des Konfuzius). 7. Oktober 1970: Der Bayerische Wald wird als erster Nationalpark der BRD ausgewiesen. 24. Dezember 1971: Horst Sterns „Bemerkungen über den Rothirsch“, eine Sendung der ARD an Heiligabend, die Millionen weihnachtlich gestimmter Menschen erschüttert. 28. Dezember 1971: Die Bundesregierung richtet den „Rat von Sachverständigen für Umweltfragen“ (SRU) ein. 1. Januar 1972: Das Ministerium für Umweltschutz der DDR wird gegründet. 19. Juli 1973: Die Landesregierung von Baden-Württemberg kündigt den Bau des Kernkraftwerks Wyhl an. 13. November 1973: Bernhard Grzimek beklagt die grausame Tierquälerei durch Massentierhaltung (ebenfalls ein langer Text). 25. November 1973: Die Ölpreiskrise führt zum ersten autofreien Sonntag in der BRD. 22. Juli 1974: Verabschiedung des Gesetzes über die Errichtung des Umweltbundesamtes (UBA) in West-Berlin. 1979: Bernhard Ulrich warnt vor dem Waldsterben durch Sauren Regen. 13. Januar 1980: Gründung der Partei „Die Grünen“ in der BRD. 6. Juli 1983: Growian; die weltgrößte Windkraftversuchsanlage nimmt den Probebetrieb auf, der aber im August 1987 beendet werden muss: die enormen Lasten und die raschen Wechsel der Windgeschwindigkeiten waren materialtechnisch nicht beherrschbar. 6. Juni 1986: Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit der BRD wird eingerichtet. 12. September 1990: Der Ministerrat der DDR beschließt auf seiner letzten Sitzung das „Nationalparkprogramm der DDR“.
In Kapitel 8 geht es dann abschließend um Umweltprobleme und Umweltschutz im vereinigten Deutschland. 1. Januar 1991: Das Stromeinspeisegesetz tritt in Kraft. 1991: Nachweis von Humanarzneimittel-Rückständen im Grundwasser. 8. April 1992: Einrichtung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). 16. Juli 1994: Das Umweltinformationsgesetz tritt in Kraft. 27. Oktober 1994: Der Umweltschutz wird im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert. März 1995: Klaus Hasselmann: „Die Belege weisen auf eine deutliche anthropogene Beeinflussung des globalen Klimas hin“. 1. April 1999: Die Ökologische Steuerreform beginnt. 1. April 2000: Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) tritt in Kraft. 27. April 2002: Das „Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung“ wird verabschiedet. 4. September 2002: Die Bundesregierung legt die „Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie“ vor. 7. November 2007: Die Bundesregierung beschließt die „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“. 31. Juli 2011: Das „Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes“ bewirkt die Stilllegung der Kernkraftwerke in Deutschland bis 2022. 2015 bis heute: Der Dieselskandal (eine 6 Seiten lange Geschichte). 1. März bis 31. Mai 2018: Die Vermessung der Vermüllung: 245.186 Menschen sammeln 1.098 Tonnen Müll in Deutschland. 12. Dezember 2018: „Heißzeit“ ist das Wort des Jahres 2018. 15. März 2019: „Fridays for Future“; mehr als 23.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützen mit der Petition #Scientists4Future die demonstrierenden Jugendlichen: deren Anliegen seien berechtigt. 2. Mai 2019: Die Stadt Konstanz ruft den Klimanotstand aus. 20. September 2019: Die Bundesregierung beschließt das „Klimaschutzprogramm 2030“. 2031: Die unendliche Geschichte: Standortsuche für ein Endlager hoch radioaktiver Abfälle. 2035 bis 2038: Das geplante Ende der Kohleverstromung in Deutschland.
Teil III: Was ist zu tun?
Hans-Rudolf Bork ist der Auffassung, dass trotz der geschilderten Erfolge der deutschen Umweltpolitik der vergangenen fünf Jahrzehnte ein immenser Handlungsbedarf verbleibt. Vordringlich sei die frühestmögliche drastische Minderung des menschengemachten Klimawandels, der Belastungen der Böden, der Umweltbelastungen durch Kunststoffe, der Bodenversiegelung und des Flächenverbrauchs, des Verlusts von Lebensräumen, Pflanzen- und Tierarten sowie des Lärms. Und dringlich sei auch die Einrichtung eines langfristig sicheren Endlagers für hoch radioaktive Stoffe.
Zum Schluss des Buches zeigt der Autor exemplarisch die Möglichkeiten auf, wie man durch ein verändertes Handeln den Verbrauch unersetzbarer Ressourcen drastisch mindern, den Klimawandel entscheidend drosseln und die verbliebene Vielfalt des Lebens doch noch retten könne. Er unterscheidet dazu eine Reihe von Handlungsempfehlungen für den Alltag und viele Handlungsempfehlungen für ein nachhaltigeres Deutschland – und endet dabei mit einem persönlichen Bekenntnis: „Wir sollten selbst zu engagierten Pionieren der Nachhaltigkeit werden – oder zumindest diese so nachahmen, wie es jedem einzelnen möglich ist“ (S. 319).
Die Leserin/der Leser dieser langen Rezension wird fragen wollen, ob man die Umweltgeschichte Deutschlands nicht auch anders hätte erzählen können. Nun, da gäbe es sicherlich Einiges zu erinnern. Wie schon erwähnt hat Hans-Rudolf Bork ja selbst, zusammen mit Verena Winiwarter, im Jahr 2014 ganz andere Umweltgeschichten erzählt, doch die beruhten nicht auf Reisen in Deutschland, sondern in die weite Welt. Dann gab es schon 2005 den Welt-Bestseller von Jared Diamond: „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ (ergänzte Auflage 2011), ein Buch über 17 global wichtige Umweltgeschichten. Da war der Erinnerungsort Deutschland aber (noch) nicht dabei.
Das Konzept „Erinnerungsorte“ gibt es aber schon seit längerem – und es besitzt eine eigene Magie: Ab 2001 erschienen Bücher über Deutsche Erinnerungsorte, Erinnerungsorte der Antike, Erinnerungsorte des Christentums, Europäische Erinnerungsorte. Es waren meist sehr umfangreiche Werke, zwei davon in drei Bänden; ein Projekt über Deutsch-Polnische Erinnerungsorte war gar auf acht Bände ausgelegt. Die natürliche Umwelt spielte in all diesen Büchern aber keine Hauptrolle, bestenfalls eine Nebenrolle. Das sollte anders werden durch das Projekt „Umwelt und Erinnerung“ am Rachel Carson Center in München.
Mit Hilfe externer Kooperatoren hat der Leiter des Projekts, Frank Uekötter, das Buch „Ökologische Erinnerungsorte“ (2014) herausgegeben – und dies deutlich begründet: „Wenn der Alpdruck der Geschichte stark wird, ist der Ausstieg aus der Geschichte keine realistische Option mehr“. Was ökologische Erinnerungsorte sind und wie sie sich von anderen Erinnerungsorten unterscheiden, fasste der Herausgeber so zusammen: „Ökologische Erinnerungsorte sind geographisch und zeitlich begrenzte Ereignisse, in denen die Interaktion von Mensch und Natur in ihrer ganzen Vielfalt eine wesentliche Rolle spielt“. Diese Ereignisse zeichnen sich durch politische, administrative, kulturelle und lebenspraktische Folgen aus, die über die Zeit des Ereignisses weit hinausreichen und bis in die Gegenwart nachwirken können. Wobei diese Nachwirkungen sich nicht notwendigerweise in einem starken, aktuellen Bewusstsein für das Ereignis selbst dokumentieren müssen, sondern auch in grundlegenden Handlungs- und Denkweisen verborgen sein können.
Auf diesem Grundverständnis erfolgt in dem Buch die Auswahl und die Beschreibung von 11 Erinnerungsorten, die in drei Kategorien sortiert sind: in deutsche, grenzüberschreitende und globale Erinnerungsorte. Es geht den Autoren dabei darum, nicht nur das Potential des Konzepts Erinnerungsorte auszuloten, sondern auch Lust auf Umweltgeschichte zu machen – um so einen Leserkreis jenseits der Fachkollegen aus Umweltgeschichte und Umweltpolitik zu erreichen. Man wollte das Spektrum der Möglichkeiten abschreiten und die Vielfalt der Themen und Perspektiven belegen und kam so zu einer bunten – und wie man gleich hinzufügen muss – unerwarteten Palette interessanter Umweltereignisse.
Es beginnt mit der Geschichte des „Knechtsandes“ (Autorin: Anna-Katharina Wöbse), einer Sandbank in der Wesermündung, die in den 1950er Jahren im Zentrum eines aufsehenerregenden Naturschutzkonfliktes stand; dann unter Naturschutz gestellt wurde und nach Konflikten um ihre Nutzung im „Nationalpark Wattenmeer“ aufging. Das zweite Beispiel ist der Begriff „GAU“ (Autor: Joachim Radkau), die Abkürzung für den größten anzunehmenden Unfall, der sich von seinen Ursprüngen in der Atomdebatte emanzipiert und sich in der Alltagssprache als Synonym für ein spektakuläres Missgeschick etabliert hat. Beim dritten Beispiel, dem „Wintersport“ (Autor: Andrew Denning), geht es um ein ganz anderes Schlüsselthema der Moderne: Die wintersportliche Betätigung brachte viele Menschen ins Gebirge, warf zugleich aber auch die Frage auf, wie viel menschlicher Einfluss mit diesem Naturerlebnis ökologisch verträglich ist. Das „Reichsnaturschutzgesetz von 1935“ (Autor: Frank Uekötter) war zwar ein großer Erfolg der deutschen Naturschutzbewegung, zugleich aber auch Angelpunkt der NS-Geschichte – und ist deshalb Gegenstand einer bis heute andauernden Kontroverse. Bei „Kneipp“ (Autorin: Sarah Waltenberger) geht es um eine Schlüsselfigur der Geschichte, bei der Lebensform, alternative und konventionelle Medizin, klerikale Bezüge, lokale und kommerzielle Interessen miteinander verflochten sind.
Diese Auswahl von fünf deutschen Erinnerungsorten zeigt nicht nur, wie umfassend der Begriff ist, sondern auch, wie vielfältig er ausgelegt werden kann. Die Auswahl führt konsequenterweise zu der Frage, welche Beispiele die Leserin/der Leser des Buches stattdessen anführen möchte. Waren da nicht auch Wyhl und das Wendland, Rinderwahn und die Gentechnik usw., die bis heute nachwirken oder andernorts neu auftauchen? Wie auch immer, dieser textliche Exkurs hat gezeigt, wie ganz anders das Buch „Umweltgeschichte Deutschlands“ angelegt und ausgeführt ist.
Ein kurzes Fazit
Die „Umweltgeschichte Deutschlands“ ist ein Unikat, ein einzigartiges Buch, das nur einer mit einem breiten fachlichen Hintergrund hat schreiben können. Hätten wir in Deutschland – bei der inzwischen großen Vielfalt der Forschung – auch nur ein Institut für Umweltgeschichte, dann könnten die Antworten auf die gestellten Fragen vielleicht andere sein. Doch dieses Institut gibt es (noch) nicht. Es mag verwegen sein zu sagen, die deutsche Geschichtswissenschaft habe angesichts der ökologischen Krise versagt – doch ich fürchte, es ist so. Gut also, mehr als gut ist es daher zu sagen: Hans-Rudolf Bork hat sich verdient gemacht. Er zeigt uns, dass wir weiter intensiv an dem Weg in eine nachhaltige Gesellschaft arbeiten müssen – und dass dies keine Utopie sein muss oder bleiben darf. Und natürlich erwarte ich auch, dass ihm dieses Buch den einen oder anderen „Orden“ bescheren wird.
Quelle
Udo E. Simonis 2020 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB)
Inhaltsverzeichnis (3 Kapitel)
- Einführung Seiten 1-10 Bork, Hans-Rudolf Vorschau Kapitel kaufen 26,70 €
- Die Umweltgeschichte in Schlüsseldaten Seiten 11-310 Bork, Hans-Rudolf Vorschau Kapitel kaufen 26,70 €
- Was ist zu tun? Seiten 311-320 Bork, Hans-Rudolf Vorschau Kapitel kaufen 26,70 €
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