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Endlagerung – Schlusskapitel für die Atomenergie in Deutschland

Als Vorsitzender der NaturFreunde Deutschlands, die seit mehr als 50 Jahren die Atomenergie als fatalen Irrweg ansehen, könnte ich es mir einfach machen: Was haben wir mit dem Atommüll zu tun? Sollen doch diejenigen in Wissenschaft, Industrie und Politik das Problem lösen, die nicht zufällig, sondern aus Überheblichkeit oder Verantwortungslosigkeit die Konsequenzen aus der Kernspaltung verdrängt haben, als sie sich auf die nukleare Stromerzeugung gestürzt und das auch noch als Fortschritt verklärt haben. Von Michael Müller

Dabei gab es schon Mitte der Fünfzigerjahre, in der Gründerzeit der deutschen Atomenergie, ernst zu nehmende Warnungen. Doch selbst ministerielle Vermerke wurden ignoriert, obwohl sie in aller Deutlichkeit auf ungelöste Fragen und schwerwiegende Gefahren hingewiesen haben.

Aber weglaufen können auch wir nicht. Das Problem ist da und muss gelöst werden. Ganz im Sinne von Hans Jonas, der von der modernen Zivilisation das Prinzip Verantwortung einforderte. Zwar bezog er das in erster Linie auf ein proaktives Handeln, eine „Fernstenliebe“, wie er es nannte, damit es gar nicht erst zu kritischen Entwicklungen kommt. Doch angesichts der zeitlichen Reichweite und der denkbaren Gefahren radioaktiver Strahlungen verstand er darunter sicher auch die Verantwortung, die bereits verursachten Gefahren einzuhegen. Mehr noch: Die Aufgabe, atomares Material dauerhaft zu verwahren, ist eine Menschheitsaufgabe, die bisher nirgendwo auf der Welt gelöst ist. Gerade weil sie schwierig und auch unangenehm ist, darf sich der atomkritische Teil der Bevölkerung dieser Aufgabe nicht entziehen, zumal es gegen ihn keine Lösung geben wird.

Deshalb muss sich die Antiatombewegung mit demselben Engagement um das Schlusskapitel der unrühmlichen Atomgeschichte kümmern. Es ist bedauerlich, dass sich Greenpeace und ein Teil der Bürgerinitiativen der Mitarbeit in der von Bundestag und Bundesrat eingesetzten Kommission entziehen. Natürlich gab es viele Verletzungen und unfaire Ausgrenzungen. Aber gerade weil die Antiatombewegung auf der „richtigen“ Seite war, während sich die Befürworter der Atomkraft erst in einem schwierigen Prozess neu orientieren mussten und viele das noch immer erst halbherzig oder gar nicht tun, sollte sie dabei sein. Das gehört zur Auseinandersetzung um politische Konflikte, denn es geht immer um beides – die Arbeit in den Institutionen und den Druck von außerhalb.

Nach den Erfahrungen der letzten sechzig Jahre darf die Atommüllfrage nicht denen überlassen werden, die die Grenzen der technischen Machbarkeit verdrängt haben oder bis heute nichts von ihnen wissen wollen – sei es aus ideologischer Verblendung, aus technischen Allmachtsvorstellungen oder aus simplen Profitinteressen. Misstrauen ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Es gehört nämlich zur den negativen Erfahrungen aus der Geschichte der deutschen Atomenergie, dass die vier Betreiberfirmen der AKWs zwar im Jahr 2000 den rot-grünen Ausstiegsvertrag unterzeichnet haben, aber offenkundig in der vordergründigen Hoffnung, erst einmal Ruhe vor der kritischen Öffentlichkeit und den neuen politischen Mehrheiten zu bekommen. Unter veränderten politischen Verhältnissen wollten sie auf alten Gleisen weitermachen, denn der Ausstiegsplan wurde so ausgelegt, dass die Abschaltung einiger Kraftwerke durch vorübergehende Stilllegungen oder längere Reparaturphasen hinausgezögert werden konnte, bis es unter der schwarz-gelben Bundesregierung 2010 zur Verlängerung der Laufzeiten der verbliebenen AKWs kam.

Nicht die Einsicht in die Vernunft, sondern die Nuklearkatastrophe am 11. März 2011 im japanischen Fukushima, als es nach dem Tokoku-Erdbeben zur Kernschmelze in drei Blöcken kam und vier der sechs Reaktoren der Atomzentrale zerstört wurden, setzte diesem falschen Spiel ein Ende. Die politischen Vertreter der Atomenergie, CDU/CSU und FDP, machten eine Kehrtwende: der Atomausstieg bis zum Jahr 2022 wurde von allen Parteien in Bundestag und Bundesrat gesetzlich festgelegt, die Energiewende zum Programm erhoben.

Damit ist das Schlusskapitel der deutschen Atomenergie vorgezeichnet, aber es ist noch nicht geschrieben. Doch zwei Eckpunkte – Atomausstieg und Energiewende – stehen fest. Sie sind die entscheidende Basis, auf der das Standortauswahlgesetz auf den Weg gebracht wurde, mit dem Kriterien für die Lagerung von Atommüll vorgeschlagen werden sollen. Insofern kann es nicht mehr über die alten Auseinandersetzungen gehen, denn es ist der breit getragene politische Wille, die nukleare Stromerzeugung zu beenden. Sollte dies nicht akzeptiert sein, macht eine Mitarbeit in der Kommission keinen Sinn.

In der von Bundestag und Bundesrat eingesetzten Kommission haben acht Vertreter aus der Wissenschaft und acht Mitglieder aus der Gesellschaft – jeweils zwei aus Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen und Umweltverbänden – volles Stimmrecht. Die sechzehn Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates in der Kommission sollen ihre Vorschläge einbringen und sich intensiv an dem Diskurs beteiligen, aber über Bericht und Empfehlungen entscheiden sie nicht. Die beiden Vorsitzenden sollen die Arbeit steuern, aber auch sie können nicht mitentscheiden. Das ist der organisatorische Rahmen, um hoffentlich zu einem tragfähigen Vorschlag zu kommen, aber entscheidend wird sein, dass die Vertreter nicht auf alten Positionen beharren, sondern innerhalb des gesetzten Rahmens alle Optionen prüfen und den besten Vorschlag machen.

Die Geschichte der Atomenergie – ein Beispiel für technische Überheblichkeit

Die NaturFreunde lehnen schon seit 1957 nicht nur die militärische, sondern auch die zivile Nutzung der Atomenergie ab. Beim Start 1953 wurde sie als „Quelle unerschöpflicher Energie“ angepriesen, so der damalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower vor den Vereinten Nationen, als er das Programm ‚Atoms für Peace’ verkündete. Das zivile Programm wurde nicht zuletzt deshalb ins Leben gerufen wurde, um von der dunklen, militärischen Seite der Atomkraft abzulenken, die mit ihrer zerstörerischen Gewalt im August 1945 in Hiroshima und Nagasaki Hundertausende sinnloser Opfer gefordert und auch in den Atomtestregionen tiefe Spuren hinterlassen hat. Doch beide Nutzungen, die militärische wie die zivile, hängen technologisch eng zusammen. Zudem gibt es zahlreiche Beispiele, wie unter dem zivilen Deckmantel versucht wurde, militärisches Know how zu erwerben.

Vor allem die Atommächte setzten auf die Atomenergie, die mit großem Aufwand und hohen Subventionen vorangetrieben wurde. Trotz der enormen Summen, die dafür aufgewendet wurden, sind heute „nur“ rund 430 AKWs in Betrieb. Die nukleare Stromerzeugung wird ein kurzes Kapitel der industriellen Moderne bleiben. Vor allem ein fatales und folgenreiches, das aber auch durch das Abschalten der Atomkraftwerke noch lange nachwirkt. Radioaktivität hat nämlich die unselige Eigenschaft, weit über den menschlichen Erfahrungshorizont hinaus für alle Lebewesen gefährlich zu sein. Diese Langzeitgefahren zu kontrollieren, das ist die Herausforderung, mit der sich die „Kommission für eine sichere Lagerung radioaktiver Abfälle“, wie sie offiziell heißt, in den nächsten zwei bis drei Jahren beschäftigen wird.

In der Gründerzeit der Atomenergie war die Politik besoffen von den großspurigen Versprechungen der Kernspaltung. Die Grundstimmung in der damaligen Wirtschaftswunderzeit war der Glaube an die Allmacht der Technik. Atomkraftwerke waren ein Symbol für die Machbarkeit des Fortschritts, der die Sahara zum Blühen bringen sollte. Bertolt Brecht glaubte genauso daran wie Ernst Bloch. Wenn gelegentlich der dabei entstehende radioaktive Müll problematisiert wurde, dann nur im Sinne des vorherrschenden technologischen Optimismus: Alles sei beherrschbar und schon auf dem besten Weg. Ein leeres Versprechen, wie wir wissen. Und doch war diese leichtfertige Hoffnung auf die Zukunft die Grundlage für den sogenannten Entsorgungsnachweis, die Voraussetzung für die Betriebsgenehmigung der deutschen Atomkraftwerke. Hochmut und Leichtsinn einer hochriskanten Technikgläubigkeit müssen ein Ende haben. Die Endlagersuche spielte nicht nur bei uns, sondern weltweit eine geringe Rolle. Atomkraftwerke wurden gebaut, obwohl es bis heute rund um den Erdball kein „Endlager“ gibt für hochradioaktive Abfälle aus der Nutzung der Atomspaltung durch Forschung, Medizin und vor allem Industrie. Dabei muss die Lagerung sogar so erfolgen, dass die abgebrannten Materialien für eine nach menschlichen Vorstellungen unvorstellbar lange Zeit von der Biosphäre abgeschieden bleiben, bis von ihnen keine Gefahr mehr ausgehen wird. Nach Aussagen des Bundesamtes für Strahlensicherheit (BfS) über einen Zeitraum von 40.000 Generationen, also 1 Million Jahre. Der Müll aus den deutschen Atomkraftwerken müsste danach bis zum Jahr 1.002.022 von der Umwelt abgeschlossen bleiben, wenn tatsächlich im Jahr 2022 das letzte AKW in Deutschland abgeschaltet wird. Das ist die Herausforderung, der sich die Kommission stellen muss und die wir nicht länger verdrängen dürfen.

Im Zentrum der Auseinandersetzung stand – zumal nach Harrisburgh und Tschernobyl – die Sicherheitsfrage, die zwei entscheidende Faktoren hat: die Eintrittswahrscheinlichkeit eines großen Unfalls und dessen Schadensumfang. Natürlich gibt es einen hohen Sicherheitsaufwand, der stetig ausgeweitet wurde. Aber entscheidend ist, dass ein Größtmöglicher Atomarer Unfall (GAU) in dem hochkomplexen System aus technischen, menschlichen oder sonstigen Gründen nicht ausgeschlossen werden kann. Was das Atomgesetz 1995 (damals verantwortlich Umweltministerin Angela Merkel) festgelegt hat, dass im Falle eines GAU die Folgen auf die Anlage begrenzt bleiben, ist technisch nicht möglich. Das verbietet die Nutzung der Atomkraft. Dagegen hat die Debatte über die Endlagerung in der Atomdiskussion der letzten Jahre nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Bei ihr ging es um die Castortransporte und um ein Ja oder Nein zu Gorleben, ein Standort, der zu seiner Zeit an der innerdeutschen Grenze gewählt wurde, aber zu Recht bis heute umstritten ist.

Gewarnt vor den Folgen der energetischen Nutzung der Atomkraft, auch wegen der radioaktiven Abfälle, wurde bereits 1956. Der Zukunftsforscher Robert Jungk beklagte in einem furiosen Report (‚Heller als tausend Sonnen’) die unheilvolle Allianz zwischen Atomwissenschaft und Militär. 1957, ein Jahr später, riefen die NaturFreunde dazu auf, Widerstand zu leisten: „Es liegt an uns zu verhindern, dass diese vergiftete Vision (das atomare Paradies) realisiert wird. Machtpolitik und Profit bestimmen Forschung und Technik. Bleibt es dabei, dann wird die Gefahr einer radioaktiv verseuchten Region auch ohne Atomkrieg wahr.“

1959 veranstaltete die Naturfreundejugend die erste deutsche Anti-Atomdemonstration in Offenbach. Hauptredner war der SPD-Politiker Karl Bechert, der sich im Bundestag als einziger gegen die Euphorie stemmte. Er sah vor allem die langfristigen Konsequenzen aus der Nutzung der Atomspaltung als nicht verantwortbar an. Die NaturFreunde nannten die „friedliche“ Anwendung der Atomkraft eine grobe Manipulation der öffentlichen Meinung, denn das „Hauptprodukt ist und bleibt das Plutonium mit seinen ganzen fatalen Folgen.“ Die Geschichte hat gezeigt: Dafür stehen nicht nur Hiroshima und Nagasaki, sondern auch Tschernobyl und Fukushima.

Der Weg, das Atomkapitel und seine Folgen zuzuklappen, ist noch lange nicht zu Ende, nicht nur weil die Welt noch immer wahnwitzig viele Atomsprengköpfe hat. Die ungelöste Entsorgungsfrage lässt sich vergleichen mit einem für jeden wahnwitzigen Irrsinn: Hunderte vollbesetzter Jumbo-Jets in die Luft zu schicken, ohne eine Landebahn für die Maschinen gebaut zu haben. Das ist die Atomenergie. Schon die Risiken im Betrieb sind nicht zu vertreten, wie Tschernobyl und Fukushima – leider – dramatisch bestätigt haben. Die größten nicht angenommenen Unfälle sind eingetreten. Wir wissen nicht, welche Folgen der Super-GAU in Japan noch haben wird, steigende radioaktive Belastungen werden bis an die Westküste Kanadas gemessen.

Die tiefergehende Ursache für das Menschheitsversagen ist die Gleichsetzung von technisch-wirtschaftlichem Wachstum und Fortschritt. Und sie besteht noch immer. Bei Robert Jungk hieß es: „Die Entscheidung für die Atomenergie war die logische Folge einer Technologiepolitik, die total auf wirtschaftliches Wachstum fixiert ist.“ Bei der Atomenergie sind nicht die hingenommenen Risiken und die Perversion der engen Verflechtung zwischen ziviler und militärischer Nutzung zu kritisieren, sondern der blind oder bewusst eingegangene Teufelskreis aus Übertechnisierung und industriellem Wachstum, der sich mit seinen Zwängen und Folgewirkungen über die menschlichen Interessen erhebt.

Die Konsequenz heißt: Wir müssen das vorherrschende Dogma der Unaufhaltsamkeit und Neutralität von Technik in Frage stellen, wie das 1969 der Deutsche Soziologentag unter Federführung von Burkart Lutz getan hat, als er die Entwicklung der Technik als „sozialbestimmten Prozess“ definierte.. Bei der Atomnutzung wurde das missachtet. Aber es gibt Grenzen des industriellen Wachstums und die müssen im Interesse der Überlebensfähigkeit der Menschen unbedingt beachtet werden. Aus der Überindustrialisierung ergeben sich die beschriebenen Gefahren infolge der hohen Verwundbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft und der gravierenden Zwänge, die unvertretbare soziale Schäden, einen kulturellen Verfall und die Degeneration der Demokratie zur Folge haben können.

Die Naturfreundejugend warnte schon 1954: „Seitdem die Maschine ihr geradezu dämonisches Eigenleben begann, glaubt der Mensch in Unwissenheit, Überheblichkeit und Profitgier mit dem Hammer in das ewige Uhrwerk der Schöpfung schlagen zu können. Er weiß nicht, dass er damit den Weg zum eigenen Untergang beschreitet. Wir sind die Zeugen, wie der moderne Mensch in taumelnder Selbstverblendung seinen naturhaften Lebensraum entseelt, verunstaltet, zerstört und vergiftet, gleich einem fressenden Geschwür, das mit der Zerstörung seines Nährbodens naturnotwendig auch sich selbst vernichtet.“

Die Konsequenz aus der Nutzung der Atomkraft muss heißen: Der Maßstab für eine gute Zukunft ist das menschenwürdig Notwendige, nicht alles scheinbar Machbare und schon gar nicht der technokratische Selbstlauf von Wirtschaft und Technik. Ich sehe das Prinzip der Verantwortung nicht nur in der Suche nach Kriterien für eine sichere Endlagerung, sondern auch die in der Fähigkeit zu trauern, dass derartige Fehleinschätzungen sich nicht wiederholen. Das erfordert ein Denken, das den Reichtum, die Schönheit, die Vielfalt und die Chancen auf unserem Planeten sichert und weitergibt durch eine ‚sanfte Technik’, die überschaubar und fehlerfreundlich bleibt.. Das ist die Antithese zu den von Sachzwängen geprägten Zeitabläufen, die ihren negativen Höhepunkt in der Atomenergie gefunden haben.

Quelle

Michael Müller 2014Erstveröffentlichung „Blog der Republik“ | 12. Juli 2014

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