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Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation – Ansichten und Aussichten

Ein „Gesellschaftsvertrag“, dieses hypothetische Konstrukt der klassischen Vertragstheorie von Thomas Hobbes, John Locke bis Jean-Jacques Rousseau, wird vom WBGU so interpretiert, dass Individuen und Zivilgesellschaft, Staat und Staatengemeinschaft, Wirtschaft und Wissenschaft kollektive Verantwortung für die Vermeidung der Klimakatastrophe und für die Behütung des Planeten Erde übernehmen. Die „Große Transformation“, ein Konzept des Ökonomen Karl Polanyi für die Analyse der ersten Industriellen Revolution, wird normativ um-gedeutet: ein radikaler Umbau der nationalen Ökonomien und der Weltwirtschaft innerhalb spezifischer „planetarischer Leitplanken“ soll die Überforderung oder den Zusammenbruch der Ökosysteme vermeiden helfen. Ein Artikel von Udo E. Simonis

„Gesellschaftsvertrag“ und „Große Transformation“. Darf man historisch belegte, große Begriffe für den Titel eines Gutachtens oder eines Vortrages verwenden? Ja, man darf wohl, wenn man sie sorgfältig reflektiert; und man darf es gewiss, wenn es um fundamentale Probleme und deren Behandlung geht. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WGBU) begründet in seinem jüngsten Gutachten die Notwendigkeit einer globalen Transformation, wozu ein neuer globaler Gesellschaftsvertrag zu schließen sei (WBGU 2011).

Wie kann der neue Gesellschaftsvertrag entstehen, wie kann die große Transformation in Gang kommen? Dem WBGU ist zum ersten einiges, zum zweiten sehr viel eingefallen. Man nimmt die Demokratiebewegungen in der arabischen Welt als jüngsten Beleg dafür, dass unhaltbare Umstände schnell kippen können. Das kohlenstoffbasierte Weltwirtschaftsmodell ist solch ein unhaltbarer Zustand, weil es die Stabilität des Klimasystems und damit die Existenzgrundlagen künftiger Generationen gefährdet. Die Transformation zur Klimaverträglichkeit sei daher moralisch ebenso geboten wie die Abschaffung der Sklaverei oder die Ächtung der Kinderarbeit. Nur müsse dazu der Strukturwandel von Wirtschaft und Gesellschaft auf geeignete Art und Weise ökologisiert werden. Wie kann das, wie soll das geschehen?

Der WBGU plädiert für die prioritäre Verstärkung der praktizierten Klimapolitik in drei zentralen Transformationsfeldern: Energie, Urbanisierung und Landnutzung. Zehn Maßnahmebündel mit großer strategischer Hebelwirkung sollen die Transformation zur Klimaverträglichkeit voranbringen: Sie reichen vom Gestaltenden Staat mit erweiterter Partizipation der Bürger, über die CO2-Bepreisung, die Europäisierung der Energiepolitik, den Ausbau der Erneuerbaren Energien bis hin zur Internationalen Kooperationsrevolution. Wissenschaftler sehen auch nach umfangreicher eigener Arbeit immer noch weiteren Forschungsbedarf – und so wird denn auch mehr Forschung über die Transformation, wie aber auch spezifische transformative Forschung eingefordert.

Insgesamt also ein großer Wurf. Das WBGU-Gutachten ist eine Quelle anregender Ideen und vielfältiger Handlungsempfehlungen. Was aber fehlt? Vor allem die Idee, wie die eigene Arbeit nicht nur die Ministerebene erreichen kann, sondern auch die Gesellschaft, die Europäer, die Weltbürger, um sie auf den Weg zu bringen: die Große Transformation.

Das „Jahrbuch Ökologie 2013“ verfolgt einen anderen, pragmatischeren Ansatz (2012). Ob eine tief greifende Transformation auf der nationalen Ebene möglich ist, wird mit einer Hypothese eingegrenzt: Es wird wohl Vorreiter, Nachzügler und Sitzenbleiber geben. Und dies zeigt sich dann auch bei der Analyse verschiedener Bereiche: bei Bewusstsein und Kultur, bei Energie, Verkehr und Mobilität, bei Agrarwirtschaft und Ernährung, bei der Transformation von Wirtschaft und Wissenschaft.

Der jüngste „Global Environment Outlook“ (GEO 5) des United Nations Environment Programme zeigt den Status und die Trends der globalen Ökologie auf (UNEP 2012). Bei der Mehrheit der betrachteten Ökologieelemente haben sich weitere Verschlechterungen ergeben, keine Verbesserungen. Das gilt für die global relevanten Emissionen (insbesondere die CO2-Emissionen) und die globale Ressourcennutzung, für erneuerbare Ressourcen (wie Fischbestände) wie für nichterneuerbare Ressourcen (wie Metalle), die ein historisches Maximum erreicht haben und/oder Grenzüberschreitungen (overshoot) darstellen.

Dieses Grundmuster der Überlastung von Ökosystemen und der Übernutzung von Ressourcen wird auch vom International Resource Panel der UN bestätigt, das zwar einzelne Versuche aber keine nennenswerten Erfolge der absoluten Entkopplung von Bruttosozialprodukt und Ressourcennutzung (resource decoupling) bzw. Umweltbelastung (impact decoupling) ausmachen konnte (IRP 2011).

Und dann als jüngstes Beispiel in der Kette gravierender globaler Probleme, die Global Governance und die UN-Konferenz in Rio de Janeiro („Rio + 20“). Zwei Themen waren auf die Tagesordnung gesetzt worden: „Grünes Wirtschaften im Kontext nachhaltiger Entwicklung und Armutsbekämpfung“ und „Institutionelles Rahmenwerk für nachhaltige Entwicklung“. Das UN-Umweltprogramm hatte sich einige Mühe gegeben und zwei Jahre lang Experten aus Entwicklungs- und Industrieländern über ein schlüssiges Konzept nachdenken lassen. Das Ergebnis war ein Bericht mit einem sprachlichen und inhaltlichen Kompromiss: Grün sei eine Wirtschaftsweise, „die menschliches Wohlbefinden steigert und zu mehr sozialer Gerechtigkeit führt, während sie gleichzeitig Umweltrisiken und ökologische Knappheiten erheblich verringert“.

Kein schlechter Ausgangspunkt für einen neuen Gesellschaftsvertrag und eine globale Transformation – so könnte man meinen. Doch weit gefehlt. Die Definition wurde nicht ernsthaft zur konkretisierenden, abgleichenden Diskussion gestellt, sondern mit allen möglichen Vorurteilen befrachtet. Wir leben ganz offensichtlich nicht mehr in Zeiten eines rationalen Diskurses, die Stimmung ist vergiftet, das internationale Vertrauen ging weitgehend verloren.

Die Staatengemeinschaft hat sich zwar auf die Unterstützung des Konzepts der „grünen Wirtschaft“ (green economy) verständigt. Und dies trotz heftigen Widerstandes großer Teile der fossilen Industrien, aber auch weiter Teile der Zivilgesellschaft, die darin Neo-Kolonialismus, Greenwashing, Protektionismus oder Konditionalisierung der Finanzhilfen sahen (sehen wollten). Nach dem Schlussdokument (Paragraph 56) soll „grüne Wirtschaft“ als wichtiges Instrument genutzt werden, „wo es die nationalen Umstände erlauben“.

Es geht also nicht, wie man „grüne Wirtschaft“ auch hätte definieren können, um das Ziel geringerer Ressourceneinsatz und sinkende Schadstoffemission, um reduzierten Energieeinsatz und CO2-Emission pro Kopf, es geht um ein Instrument. Und dieses Instrument soll weiteres Wachstum der Wirtschaft generieren. Wirtschaftswachstum mag dazu beitragen, die Armut zu verringern. Was aber wird mit der natürlichen Umwelt, den Ökosystemen und den Ressourcenbeständen geschehen?

Immerhin: UNEP soll gestärkt und aufgewertet werden. Doch eine UN-Sonderorganisation – wie WHO, ILO oder FAO – wird daraus nicht werden. Insbesondere die USA, aber auch Kanada, Russland und Japan blockierten diese mögliche politische Innovation – ausgerechnet Japan, dem wir das Kyoto-Protokoll aber auch das Fukushima-Debakel verdanken. Die nächste UN-Vollversammlung soll die universelle Mitgliedschaft im UNEP und eine bessere Finanzierung beschließen. Die Möglichkeit des UNEP, umweltpolitische Koordinierungsaufgaben zu übernehmen und ein Frühwarnsystem für sich zuspitzende Umweltprobleme zu sein, mag so gestärkt werden. Doch die für eine effektive globale Umweltpolitik notwendige Kompetenz erhält UNEP auf diese Weise nicht.

Fragt man nach den Gründen für die offen zutage getretene strukturelle Handlungsunfähigkeit der internationalen Staatengemeinschaft, so kommen drei gravierende Governanceprobleme in den Blick:

  1. Der Horizont der G8- und G 20-Staaten hat sich angesichts der akuten Finanz-, Wirtschafts- und Verschuldungskrisen mehr und mehr auf kurzfristiges Krisenmanagement verengt.
  2. Die Regierung der USA ist angesichts interner ideologischer Blockaden nicht mehr zu einer rationalen Führungsrolle in der Lage. Europa, das diese Rolle übernehmen müsste, ist (umwelt-)politisch nicht kohärent genug.
  3. Die geostrategische Neupositionierung der Welt – absteigende Mächte im Westen, aufsteigende Mächte in Osten – blockiert die global notwenige Integration von Umwelt und Entwicklung.

Der WBGU hat diese Situation auf den Punkt gebracht: „Das Ergebnis ist eine internationale Führungs- und Vertrauenskrise, eine G-Null-Welt, in der keine Führungskraft mehr wirkungsvoll die Initiative ergreift und keine handlungsfähigen Koalitionen zustande kommen.“

Man wird angesichts dieser Entwicklungen unweigerlich an Jared Diamond erinnert, der in seinem Buch „Kollaps“ die historischen Zusammenbrüche von Gesellschaften systematisch analysiert hat. Die Frage, warum Menschen und Gesellschaften dumme Dinge tun, ist die zentrale Frage des Buches.

Diamond beantwortet sie mit einer Stadientheorie katastrophenträchtiger Entscheidungsprozesse:

  1. Es kann sein, dass eine Gesellschaft ein Problem nicht voraussieht;
  2. eine Gesellschaft will ein Problem nicht wahrnehmen;
  3. eine Gesellschaft mag ein Problem zwar erkennen, aber keine angemessene Anstrengung unternehmen, es auch zu lösen;
  4. die politische und gesellschaftliche Elite schottet sich von den Folgen ihrer eigenen Handlungen ab, was die Transformation behindert und den Zusammenbruch beschleunigt.

Bei der Frage der Übertragung der Erkenntnisse über historische Zusammenbrüche auf die Gegenwart ist Diamond verhalten: Zwischen Früher und Heute gibt es Unterschiede – in den Problemen selbst, wie auch in den Möglichkeiten der Reaktion darauf. Sein Optimismus gründet in den modernen Kommunikationsmöglichkeiten. Wir seien heute im Vergleich zu früher in der Lage, von anderen Gesellschaften zu lernen, die in Zeit und Raum weit entfernt sind. Er sagt nicht, wir sollten, nein, er meint wir werden (!) uns dafür entscheiden, diesen einzigartigen Vorteil zu nutzen.

Ob er sich damit aber nicht selbst widerspricht? Wenn seine Stadientheorie hält, wenn Probleme nicht vorausgesehen werden, man Probleme nicht wahrnehmen will, man Probleme zwar erkennt, sie aber nicht wirklich anpackt, und wenn politische und gesellschaftliche Eliten sich aus Eigeninteresse dem Handeln verweigern, dann – so fürchte ich – hat sich Jared Diamond geirrt: Dann gelingt die große Transformation nicht, dann steht auch der modernen Gesellschaft trotz aller Möglichkeiten zur Kommunikation der schleichende oder abrupte, der partielle oder gar totale Kollaps bevor.

Quelle

Udo E. Simonis, Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) 2012Erscheint in: Der Transformationsprozess 2012. Nachhaltig handeln – Wirtschaft neu gestalten – Demokratie stärken. Frankfurt a. M.: epd-Dokumentation 2012

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