Nachgehakt: Erneuerbare Energien – was sind die Prognosen von damals wert?
Die Einschätzung von Konzernexperten der gesamten Energiewirtschaft rief im Bundesumweltministerium ein „bemerkenswertes Echo“ hervor.
Die Annonce aus dem Jahr 1993 ist in der Energie-Szene längst ein running gag. Unter der Überschrift „Wer kritisch fragt, ist noch längst kein Kernkraftgegner“ ließen die großen Stromversorger vier jugendliche Fotomodelle in Diskutier-Pose auf einem Mäuerchen im Grünen ablichten. „Viele junge Leute stellen kritische Fragen. Wir auch. Denn unsere schärfsten Kritiker sind wir selbst“, behaupteten sie im Fließtext und das stimmt vermutlich heute noch genauso wie damals.
Dann kommt der Passus, der ihnen alle Jahre wieder bleischwer auf die Füße knallt, sobald aktuelle Zahlen bekannt gegeben werden: „Regenerative Energien wie Sonne, Wasser oder Wind können auch langfristig nicht mehr als 4 % unseres Strombedarfs decken.“ Bei 33 % lag der Anteil der Erneuerbaren am Bruttostromverbrauch im Jahr 2015. Immerhin, mehr als das 8-fache. Wer an das Gute glauben möchte, und den damals Verantwortlichen in der Energie-Industrie deshalb keine bewusste Irreführung unterstellen mag, tut ihnen damit keinen Gefallen. Als einzig mögliche Erklärung für derartige Aussagen bliebe nur die völlige Ahnungslosigkeit – nichts womit sich Experten gern schmücken.
Jedoch ist Ahnungslosigkeit, zur Freude aller, die hoch hinaus wollen, nichts was einer steilen Karriere im Weg stünde. Wenige Monate nach der groß angelegten Anzeigenkampagne gab es ein Radiointerview zum selben Thema. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit war seit November 1994 an allerhöchster Stelle mit geballter naturwissenschaftlicher Kompetenz ausgestattet. Am Mikrofon war niemand Geringeres, als die promovierte Physikerin Dr. Angela Merkel, die wortwörtlich in den Äther aussandte: “Sonne, Wasser oder Wind können auch langfristig nicht mehr als 4 % unseres Strombedarfs decken.“
Na, wenn das kein Grund zur Entwarnung ist, für alle, die beim Gedanken an eigene Patzer von deutlich geringerer Tragweite bereits die heiße Schamesröte ins Gesicht aufsteigen spüren. Nur Mut! Auch wer noch so tief in die Kloschüssel greift, kann es noch weit bringen in diesem unseren Land.
Man kann sich als Bundeskanzlerin über Jahre die rasante Entwicklung der Erneuerbaren ansehen und sich trotzdem die atomare Notwendigkeit einer „Brückentechnologie“ einhauchen lassen. Ende 2010, als die nachgeplapperte Prognose bereits um das Vierfache übertroffen war, konnte man ohne Not einen Atomausstiegsvertrag zwischen dem Staat und der Stromwirtschaft kündigen, die Laufzeiten der AKW um 8 – 14 Jahre verlängern und wenige Wochen später, im Frühjahr 2011 aus allen Wolken fallen, dass so etwas wie Fukushima tatsächlich möglich ist. Danach kann man die Laufzeitverlängerung so dilettantisch wieder über den Haufen werfen, dass die Stromriesen den Steuerzahler mit gerichtlicher Unterstützung zur Kasse bitten.
Man kommt sogar damit durch, sich fürs Publikum als Freund der Energiewende zu geben, während hinter den Kulissen die Komplizen in Brüssel alles hintertreiben, was fossil-nuklearen Konzernen unbequem wird: EURATOM, CCS und Fracking sind absolut salonfähig in der Energie-Union. Diese Energie-Union soll das größte EU-Projekt seit Einführung des Euro werden. Die von langer Hand geplanten Bremshebel gegen die Bürger-Energiewende werden greifen. Dann bedarf es keines Blickes in die Glaskugel, um sich vorstellen zu können, wie die zur Raute verklebten Hände auseinanderstreben und die gepolsterten Schultern der Damenanzugsjacke unschuldig gen Himmel gezogen werden, während sich zwischen den tiefer gelegten Mundwinkeln die Worte formen: „Da sind uns leider die Hände gebunden, wenn Brüssel das so bestimmt.“
Solarbrief 1/97: „Wer kritisch fragt, ist noch längst kein Kernkraftgegner“ | Seite 34
Quelle
Eva Stegen 2016 | Erstveröffentlichung Freiburger Kulturjoker Januar 2016