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Depositphotos | m3ron | EU-Grenzschützer wehren Flüchtlinge jetzt auch mit Waffen ab.

© Depositphotos | m3ron | EU-Grenzschützer wehren Flüchtlinge jetzt auch mit Waffen ab.

Wo Flüchtlingselend und Covid-19 aufeinander treffen

Asylsuchende im griechisch-türkischen Grenzgebiet werden wie menschlicher Abschaum behandelt, den niemand will. Von Amalia van Gent

Mitte dieser Woche sah es kurz so aus, als stünden Griechenland und die Türkei am Rande eines bewaffneten Schlagabtausches: Letzten Mittwoch drangen zwei türkische F-16-Bomber unangemeldet über den Grenzfluss Evros in den griechischen Luftraum und flogen teilweise in nur wenigen hundert Metern Höhe über die griechischen Dörfer der Grenzregion. Kurz zuvor hatte bereits ein Boot der türkischen Küstenwache vor der griechischen Insel Kos demonstrativ ein Schnellboot der griechischen Küstenwache gerammt und an der Reling beschädigt. Von nun an würden solche Vorfälle die Norm in der Ägäis sein, erklärte in Ankara zornig der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, und höhnte: «Wir werden sie jagen und sie werden abdampfen.»

Beispiellose Eskalation

Die griechisch-türkischen Beziehungen waren im Laufe der gemeinsamen Geschichte schon immer konfliktbeladen. Die Spannungen der letzten Tage aber zeugen von einer neuen Qualität. Griechische Politiker aller Couleurs fragten sich besorgt, wie weit der türkische Präsident diesen Kurs der steten Eskalation treiben wolle. Erdogan lasse es auf einen «militärischen Unfall» ankommen, betitelte die renommierte Tageszeitung «Kathimerini» ihre Frontseite. Dass bei den in Ankara hochmütig verkündeten «Vorfällen in der Ägäis» der eine oder andere Beteiligte die Nerven verlieren könnte, nährt auch heute die Sorge in Athen.

Die jüngste Eskalation steht interessanterweise nicht mit einem bilateralen Konflikt in Verbindung, sondern ausschliesslich mit dem Krieg in der fernen syrischen Provinz Idlib. Bei einem Bombenangriff der russischen Luftwaffe in Idlib waren in der Nacht auf den 28. Februar laut offiziellen Angaben aus Ankara 33 türkische Soldaten ums Leben gekommen. Mindestens 70 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Das Massaker in Idlib, laut der oppositionellen Internet-Plattform Ahval «eine der dunkelsten Episoden in der Geschichte der modernen Republik Türkei», war für die türkische Seele «nur noch mit dem Trauma aus dem Korea-Krieg der 1950er Jahre» vergleichbar. Wollte der türkische Präsident die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von Idlib und vom Scheitern seiner eigenen Syrien-Politik abwenden, wie der türkische Kommentator Yavuz Baydar urteilte?

Einen Tag nach dem Schlag in Idlib erklärte der türkische Präsident jedenfalls, die Grenze seines Landes zur EU sei für Migranten und Flüchtlinge offen. Diese Erklärung wurde von türkischen Fernsehkanälen und Radioprogrammen tagelang ausgestrahlt. Tausende Flüchtlinge machten sich auf den Weg zur griechisch-türkischen Grenze, andere wurden gar mit Bussen der türkischen Polizei dahin transportiert. Über 13’000 Personen hatten sich laut Schätzungen der Presse bereits in den ersten März-Tagen in dem kleinen Landstreifen zwischen Kastanies (dem Grenzübergang in Griechenland) und Pazarkule (jenem in der Türkei) zusammengezogen.

Ein Schild der EU-Grenze

Dieses Länderdreieck, das, vom Delta-Grenzfluss Evros (auf griechisch) oder Maritsa (auf türkisch) bewässert, schon aufgrund seines Wasser- und Vegetationsreichtums einer der schönsten Landstriche in diesem Gebiet ist, sollte seit Anfang März zum Schauplatz einer gnadenlosen Machtdemonstration zwischen der Türkei einerseits und jenseits des Grenzzauns der griechischen und der europäischen Führung werden.

Die EU will eine Wiederholung der Flüchtlingswelle von 2015 um jeden Preis verhindern. Diesem Grundsatz fühlt sich auch der konservative griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis verpflichtet. Bereits am 1. März wies er die griechischen Grenzwächter an, Flüchtlingen unter allen Umständen den Zugang zu Griechenland zu verwehren. Seither werden am Grenzzaun massenhaft Wasserwerfer, Tränengas und Blendgranaten eingesetzt – auch gegen wehrlose Frauen und Kinder. Flüchtlinge, denen es dennoch gelang, den Grenzfluss zu überqueren, wurden festgenommen, ihres Besitzes, teils auch ihrer Kleidung beraubt und in die Türkei wieder zurückgeschafft. Das ist ein grober Verstoss gegen geltendes Völkerrecht.

Der konservative Politiker Mitsotakis braucht sich aber nicht um mögliche Folgen dieser Verstösse zu kümmern. Sein harter Kurs steht gegenwärtig in Einklang mit der Politik der konservativen Führung in Brüssel. Bezeichnenderweise lobte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einem kurzen Besuch im griechischen Grenzgebiet Kastanies als einen «Schild der EU-Grenze». Die Einsatzkräfte der Frontex wurden seit Mitte März erweitert: Soldaten aus Polen, Österreich, Deutschland, Zypern und den Niederlanden sollen künftig die «Festung EU» im Grenzgebiet zur Türkei gegen Flüchtlinge schützen.

Wandel der griechischen Gesellschaft

Kyriakos Mitsotakis hat zudem am 1. März für einen vollen Monat das Recht jedes Schutzsuchenden auf Asyl ausgesetzt. Dass er auch damit gegen geltendes Völkerrecht verstossen hat, nahmen die EU-Staaten, aber auch die griechische Öffentlichkeit mehrheitlich mit einem Achselzucken wahr. Die Mehrheit der griechischen Bevölkerung sieht sich irgendwie in einem unerklärten Krieg mit der Türkei. Dabei betrachtet sie die Masse vor dem Grenzzaun nicht etwa als Menschen in Not, sondern lediglich als ein Instrument in den Händen des türkischen Präsidenten, um in erster Linie Griechenland zu destabilisieren und gegebenenfalls mehr EU-Gelder zu erpressen.

Nach Ansicht von Stratis Valamios, eines 43-jährigen Fischers von der griechischen Insel Lesbos, hat sich nach 2015 die griechische Gesellschaft tiefgreifend verändert. Wie er der Presse sagte, habe er 2015 mit seinem 4,5 Meter langen Fischerboot bei der Rettung der aus der Türkei fliehenden Schutzsuchenden aktiv mitgemacht. Nacht um Nacht habe er Ausschau nach Flüchtlingsbooten gehalten und wie in einem immer wiederkehrenden Film dasselbe tragische Schicksal erlebt: Mütter, «die ihre Babys und Kleinkinder in mein Boot buchstäblich reinwarfen, kurz bevor ihr Schmugglerboot im Wasser versank». Jedesmal musste er seine Emotionen unterdrücken, wenn er die Kinder der Obhut der am Strand wartenden Frauen seines Heimatorts Skala überliess, bevor er dann wieder sein Boot ins Meer hinausführte, um mögliche Überlebende aufzugreifen. Damals hätten die meisten Bewohner der Insel mitgeholfen, führt er aus. Schliesslich sei ihnen die Not von Flüchtlingen bekannt, seien die meisten Bewohner auf Lesbos doch selber Nachkömmlinge von griechischen Flüchtlingen, die vom westlichen Ufer der heutigen Türkei stammten. In den ersten Märztagen dieses Jahres habe er seine Insel allerdings nicht wiedererkannt. Rechtsextremisten hätten Lesbos unter ihre Kontrolle gebracht, Mitglieder von helfenden NGOs und der Presse zusammengeschlagen und die Flüchtlingsboote tagelang daran gehindert, anzulegen. Man spreche vage von einer «Migranten-Invasion» und lasse in Wirklichkeit Schutzsuchende und Inselbewohner mit ihrem Schicksal alleine, kommentierte er bitter. Fünf Jahre nach der Flüchtlingswelle von 2015 hat Fischer Stratis Valamios resigniert.

Fünf Jahre lang hatte die Politik der EU auf Lesbos ein abschreckendes Beispiel für potentielle Flüchtlinge statuieren wollen. Athen willigte offenbar ein. Lesbos, aber auch Samos, Leros und Chios in der Ostägäis, verwandelten sich allmählich zu abschreckenden Beispielen: Ihre Auffanglager beherbergen heute insgesamt 42’000 Personen, die perspektivlos unter menschenunwürdigen Bedingungen vor sich hin vegetieren.

Nach der Eskalation in Kastanies beschloss Brüssel zu handeln: Wie EU-Innenkommissarin Ylva Johansson am Donnerstag erklärte, soll eine «Koalition der Willigen» 1600 unbegleitete Minderjährige aus den Lagern aufnehmen. Ausserdem soll die freiwillige Rückkehr von 5’000 Migranten in ihre Heimatländer mit einer Geldzahlung von je 2000 Euro gefördert werden. Die EU will oder kann offensichtlich die Dringlichkeit des Problems nicht sehen. Die Organisation «Ärzte ohne Grenzen» (MSF) hat angesichts der Ausbreitung von COVID-19 die umgehende Evakuierung aller EU-Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln gefordert. Die entsetzlichen Lebensbedingungen in den überfüllten Hotspots seien ein idealer Nährboden für das Virus. «Asylsuchende als Teil der europäischen Abschreckungspolitik unter solchen Bedingungen leben zu lassen, war schon bislang verantwortungslos, nun grenzt es an eine kriminelle Handlung», schreiben in ihrer öffentlichen Erklärung die MSF und fordern die EU auf, rasch zu handeln, sollten Schutzsuchende und Inselbewohner beschützt werden.

Menschlicher Abschaum, den niemand will

«Wir werden die Praxis an unserer Grenze fortsetzen, bis die EU alle Erwartungen der Türkei spürbar erfüllt hat», erklärte Mitte dieser Woche der türkische Präsident und verglich das griechische Vorgehen bei Kastanies mit dem der Nationalsozialisten. «Was sie in den Nazi-Camps gemacht haben, machen auch die Griechen im Namen des Westens als bezahlte Legionäre des Westens.» Gleichzeitig liess er seine Polizei den Weg der Flüchtlinge in die Türkei zurück sperren. Flüchtlinge können nicht durch den griechischen Grenzzaun in die EU und sie dürfen auch nicht in die Türkei. Sie sind gefangen.

Die Menschenrechtsaktivistin Leman Yurtsever besuchte das türkische Grenzgebiet: «Die Mehrheit der Versammelten waren Frauen und Kinder», schrieb sie in der kurdischen Agentur ANF. «Es gab schwangere Frauen, Kranke und auch Behinderte. Im Gelände hatte keine eine Decke. Es handelte sich um Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Iran und Uzbekistan. Viele von ihnen erzählten, dass nach dem Tod von türkischen Soldaten in Idlib der Hass selbst langjähriger Nachbarn auf die Fremden sich spürbar steigerte. ‹Haut ab›, sagten sie. Nach der Erklärung Erdogans haben die Flüchtlinge in der Tat ihre Wohnungen aufgegeben, all ihren Besitz verteilt oder verkauft, sie sind zur Grenze gegangen, um nicht mehr zurückzukehren. Sie sitzen nun in einem Limbus fest.» Sie werden behandelt als menschlicher Abschaum, den niemand will.

Für den kommenden Dienstag hat der türkische Präsident einen Gipfel in Istanbul angekündigt. Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident Emmanuel Macron und eventuell auch der britische Premierminister Boris Johnson sollen daran teilnehmen. Erdogan will mit den Grossen Europas über die Wiederaufnahme der Verhandlungen über Visa-Freiheit, über die Eröffnung neuer Kapitel im EU-Beitrittsprozess, über eine Modernisierung der Zollunion und natürlich auch über zusätzliche finanzielle Unterstützung verhandeln. Andernfalls, so machte er bereits klar, werde sich «der Zustrom irregulärer Migranten, die nach Europa kommen, nicht nur auf Griechenland beschränken, sondern sich über das gesamte Mittelmeer ausdehnen».

Quelle

Der Bericht wurde von
der Redaktion „INFOsperber.ch“ (Amalia van Gent) 2020 verfasst –
der Artikel darf nicht ohne Genehmigung weiterverbreitet werden! 

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