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Anzeige in der "ZEIT" vom 1. Juli 2015

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Ethik und die Religionsgemeinschaften

Können sie komplementär sein oder müssen sie sich ausschließen? Zu einem Buchappell des Dalai Lama von Rupert Neudeck

Um ganz ehrlich zu sein, werde ich mit dem kleinen Buch des Dalai Lama und seiner Botschaft nicht ganz fertig. Der Dalai Lama hat die Fähigkeit, auch die Hunderte von Millionen Agnostiker und Atheisten anzusprechen. Das ist ganz gewiss das Wertvolle an dem Gespräch, das er mit Franz Alt geführt hat.

Beim nochmaligen Lesen wird mir klar, dass der Dalai Lama nicht am Wert der Religion zweifelt (wie könnte er auch?), aber er sieht, der Frieden muss die globalisierte Menschheit insgesamt erreichen. Es besteht in diesen beiden Botschaften eine Diskrepanz, die man nicht auflösen kann und die uns auch der Agnostiker Jürgen Habermas aufgewiesen hat. Jürgen Habermas hat immer wieder – im wissenschaftlichen Gespräch mit dem Juristen Böckenförde wie mit dem damaligen Kardinal Ratzinger – darauf hingewiesen, dass die moderne Demokratie ihre Werte nicht durch Ratifizierung erzeugt.

Die Wertebildung erfolgt nach bisheriger Kenntnis durch die Religionen, deshalb sind sie auch in einer Gesellschaft wichtig, in der sie nicht mehr dominant sind. Im öffentlichen Bewusstsein – so damals Habermas – spiegele sich eine „normative Einsicht, die für den politischen Umgang von ungläubigen und gläubigen Bürgern Konsequenzen hat“. In dieser unserer Gesellschaft setze sich die Erkenntnis durch, dass religiöse und weltliche Mentalitäten nebeneinander bestehen können. Das scheint mir auch die neue Botschaft von Tibets Religionsführer zu sein, dessen These in diesem Buch nur scheinbar gegen die Religionen gewendet ist.

Die Werte, die der Dalai Lama in einem Ethik-Unterricht verwirklicht haben möchte, sind Werte, die sich nicht bei unseren Kindern durch die Benutzung von Smartphones und I-Phones und des Internets ergeben. Deshalb bleiben Religionen wichtig für die Ausbildung dieser Werte.

Auf die Frage von Franz Alt, was der Grundgedanke der Religionen sei, antwortet der Dalai Lama: Die Liebe.

„Viele christliche Brüder und Schwestern widmen ihr Leben der Hilfe für andere Menschen, besonders für Arme.“ All das sei das Ergebnis der Lehre der Liebe. Wie andere Weisheitslehrer besteht der Dalai Lama darauf: Uns allen ist Nächstenliebe angenehmer als der Hass gegenüber und der Neid auf andere. Oder wie Bert Brecht sagte, der Hass sei so viel anstrengender als die Liebe. „Und wer möchte nicht lieber mit Toleranz, Respekt und Nachsicht behandelt werden als mit Engstirnigkeit, Nichtachtung und Feindseligkeit!“

Und dann kommt der Satz, den ich nicht verstehe, und den ich auch nicht zureichend begründet weiß: Er, der Dalai Lama sei davon überzeugt, dass wir alle (eben: Agnostiker, Ungläubige, ja sogar Atheisten) unsere inneren Werte entwickeln können, die keiner Religion widersprechen, die aber auch von keiner Religion abhängig sind. Und er hofft deshalb, dass wir zu „immer mehr ethischer Bewusstheit finden und dadurch in absehbarer Zeit eine Werte Transformation erleben“.

Dagegen ist der Dalai Lama selbst ein Gegenbeweis. Er ist zu dieser weltumspannenden großartigen alle Markierungen übersteigenden Form der Zuwendung nur über seine Rolle innerhalb des Buddhismus gekommen, den er ja nicht verneint oder ablehnt. Was er sagen will, so verstehe ich ihn: Wir müssen uns als Global-Gesellschaft aller Menschen annehmen, der Dalai Lama schließt Mission aus. Das schließt auch der syrische Jesuitenpater Paolo dall’Oglio aus, der große Muslimchrist aus Syrien, das schließt auch der deutsche Religionswissenschaftler und Schriftsteller Navid Kermani aus. Ethik kann sich auf die Werte von Religionen gründen.

Die Ethik, die wir kennen, ist davon in ihrer Überzeugungskraft abhängig. Wer es schaffen kann, diese Werte ganz für sich abseits der Religion zu bewahren, soll das schaffen und tun. Ob wir einen Weg zu Ethik in der globalisierten Welt schaffen nur jenseits der Religionen, weiß ich nicht. Aber vielleicht hat der Dalai Lama damit die Wette von Blaise Pascal auf eine neue Art wieder aufgenommen. Es ist für beide Wettenden besser, der Wettende gewinnt, der auf die Existenz der Ethik gewettet hat, denn dann haben beide etwas davon und die Zukunft der Menschheit ist offen und sicher… Wetten, dass…

Am Schluss des Buches wird die Chronologie des Lebens des Dalai Lama entfaltet. Die wirkt wie die Bestätigung und die Bestreitung der These des Buches und wie eine verlorene Wette. 2011 übergibt der Dalai Lama die Politische Führung Tibets an Lobsang Songay, der in freier Wahl von den Exiltibetern zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Dalai Lama will nur noch einfacher Mönch sein. Er wird aber von der Mehrheit der Tibeter als Gott-ähnlich verehrt.

Zwischen 2009 und April 2015 verbrennen sich 157 Tibeter aus Protest gegen die chinesisch-staatliche Unterdrückungs- und Vergewaltigungs-Politik in Tibet. Es hat ein politischer Kampf begonnen, der auch nicht dadurch beendet wird, dass der Dalai Lama im Grunde die Kette der Dalai Lamas beendet. Er will das so halten, dass er der letzte 14. Dalai Lama war. Aber jetzt bestehe die Gefahr, dass die kommunistische Partei Chinas den nächsten Dalai Lama selbst ernennen wird. Faktisch, so noch mal weniger zur Unterstützung der These des Dalai Lama, aber zu seiner Unterstützung als ihr Führer: „Fast alle Tibeter verehren den Dalai Lama nach über 60 Jahren kommunistischer Herrschaft als ihren religiösen Führer“.

Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

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