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Klimagerechtigkeit heißt, die Machtfrage zu stellen

Das Buch „Bausteine für Klimagerechtigkeit“ beschreibt acht Transformationspfade zu mehr Klimagerechtigkeit. Eine Rezension von David Zauner

Statt auf Technofixes setzen die Autor:innen auf konkrete und tiefgreifende Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse.

Klimagerechtigkeit ist ein schönes Wort. So hübsch, dass es sich an so seltsamen Orten wie dem letzten Bundestagswahlprogramm der Grünen oder parlamentarischen Anträgen der Union wiederfinden lässt. 

Das 2023 erschienene Buch „Bausteine für Klimagerechtigkeit – 8 Maßnahmen für eine solidarische Zukunft“ des Leipziger Konzeptwerks Neue Ökonomie ist Beleg, dass dem Trend der kosmetischen Ausschlachtung von wunderbar progressiv klingenden Begriffen wie „Klimagerechtigkeit“ oder „Transformation“ etwas entgegengesetzt werden kann.

Menschen aus sozialen Bewegungen, aus Gewerkschaften, aus der Wissenschaft und weiteren Bereichen der Gesellschaft haben in einer gemeinsamen Anstrengung Wissen und Erfahrungen zusammengetragen. Das Resultat ist ein Buch über Klimagerechtigkeit und den Weg dorthin – die sozial-ökologische Transformation. Schon auf der ersten Seite wird das Buch konkret, indem es mit einem kleinen Infokasten Klimagerechtigkeit erklärt.

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© pixabay.com | geralt | Eine sozial-ökologische Transformation besteht aus revolutionären Veränderungen im Hier und Jetzt.

Auch der Transformationsbegriff wabert nicht rückgratlos über die Seiten. Er wird von den Autor:innen in Abgrenzung zu „einer rein reformistischen Veränderungspraxis“ und einem „abrupten, gewaltvollen revolutionären Umsturz“ verwendet. Das Ziel der Transformation sei es, die bestehenden wirtschaftlichen wie sozialen Verhältnisse zu verändern.

In dem bestehenden System fällt es Konservativen leicht, progressive Projekte mit dem neoliberalen Einmaleins zu kontern: Verlust von Wettbewerbsfähigkeit, Abwanderung von Industriezweigen, Arbeitsplatzverlust und so weiter. Die negativen Folgen dieser Punkte sind tatsächlich schwer von der Hand zu weisen. Den Autor:innen geht es deshalb darum, „die Umstände zu verändern, unter denen die richtigen Entscheidungen so schwerfallen“.

Eine Kampfansage an den ökologischen Modernismus

Auf wenigen Seiten machen die Autor:innen damit zu Beginn deutlich, worum es ihnen geht, und genauso deutlich, worum nicht. Das Buch ist eine Kampfansage an das politische Leitbild des ökologischen Modernismus, dem bis auf die rechtsextreme AfD alle großen Parteien zu folgen scheinen. Der ökologische Modernismus behandelt die Klimakrise als technisches Problem und richtet daran seine Lösungen aus. Elektromotoren statt Verbrenner, Windpark statt Kohlekraftwerk – und schon ist das Problem gelöst, so das Versprechen.

Die „Bausteine für Klimagerechtigkeit“ analysieren die Klimakrise dagegen als soziale Krise, als Krise des Systems, und setzen deshalb an dem Funktionieren unseres Wirtschaftssystems als der eigentlichen Ursache an. Es ist damit ein im Wortsinn radikales Buch. Ein Buch, das mit seinen Vorschlägen an der Wurzel der Krise ansetzt, mit nicht mehr und nicht weniger als einer „lebenswerten Zukunft für alle“ zum Ziel.

Die acht Maßnahmen, der Kern des Buches, sollen „eine Realpolitik jenseits von Wachstumszwängen“ darstellen, und sind jeweils für sich ein Transformationsprojekt. Jeder dieser Bausteine soll transformativ – auf eine strukturelle Änderung des Systems abzielend –, solidarisch – einem globalen Gerechtigkeitsanspruch folgend – und machbar – auf gesellschaftliche Veränderungen setzend und bis 2030 weitestgehend realisierbar – sein.

  • gerechte Wohnraumverteilung
  • autofreie Städte
  • progressive Energietarife
  • Arbeitszeitverkürzung
  • gerechte Bodenpolitik
  • sozial-ökologische Steuerpolitik
  • Klimaschulden und Reparationen
  • Grundeinkommen und soziale Garantien

Jedes Kapitel analysiert zuerst den Status quo, benennt die Missstände und skizziert dann einen Transformationspfad und wie sich dieser verwirklichen lässt.

So beschreiben die Autor:innen, wie der Pro-Kopf-Wohnraum immer weiter wächst und damit den Energieverbrauch erhöht, während die Ungleichverteilung von Wohnraum zunimmt. Das bestehende System gebe Immobilienunternehmen keinen Anreiz zu einer Energie einsparenden Sanierung, sondern zu möglichst teurer Sanierung. Schließlich lassen sich die Investitionskosten auf die Miete umlegen.

Revolutionäre Realpolitik statt Reformismusfalle

Oder Baustein fünf. Er befasst sich mit der Bodenkonzentration in den Händen weniger Agrarkonzerne und außerlandwirtschaftlicher Investoren, die die landwirtschaftliche Fläche als Kapitalanlage nutzen. Das führt dazu, dass sich Kleinbetriebe – denen eine Schlüsselrolle bei der ökologischen Agrarwende zukommt – Agrarflächen kaum noch leisten können.

Trotz einzelner veralteter Quellen, etwa zu der Klimabilanz von Elektroautos, wirken die Kapitel generell penibel recherchiert. Kapitel um Kapitel wird gezeigt, wie das gegenwärtige System nicht nur dem Klimaschutz, sondern auch einer gerechten Verteilung von Wohlstand entgegensteht, national wie global.

In Kapitel eins setzen die Autor:innen auf eine Vergesellschaftung des Wohnraums, wofür es starke Allianzen zwischen bestehenden Vergesellschaftungsinitiaiven wie Deutsche Wohnen und Co enteignen, Mieter:innen-Organisationen, Sozialverbänden und der Klimabewegung braucht.

Auch in anderen Kapiteln setzt das Buch auf große zivilgesellschaftliche Allianzen, um „revolutionäre Realpolitik“ durchzusetzen. Dabei zeigen die Autor:innen stets mit dem Finger auf die Ministerien und sonstigen Verantwortlichen, in deren Hoheitsbereich erforderliche Gesetzesänderungen liegen.

Mit „revolutionärer Realpolitik“ verwenden die Autor:innen einen von Rosa Luxemburg geprägten Begriff für etwas, das in ähnlichem Sinne auch als „radikaler Reformismus“ oder „doppelte Transformation“ bekannt ist. Hinter diesen Begriffen steht der Wille, aus dem Hier und Jetzt eine schrittweise revolutionäre Veränderung anzustoßen, ohne dabei in die Reformismusfalle zu tappen und das bestehende System zu stabilisieren.

Die Autor:innen stellen mit ihren Maßnahmen die Machtfrage. Eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich ist etwa nur durch eine Umverteilung, beziehungsweise „Rückverteilung“, von Unternehmensgewinnen finanzierbar. „Die Mehrheit der Bevölkerung würde davon profitieren, aber die Minderheit, die das nicht tut, hat mehr Macht.“

Es gibt nichts zu verlieren als die neoliberale Idee von einem guten Leben

Aufmerksamkeit und Umfragemehrheiten „sind ein aufmunterndes Zeichen, nützen aber für sich noch wenig“. Stattdessen brauche es konkrete Änderungen, die dann wiederum die Ausgangsbedingungen für weiteres Handeln verbessern – zum Beispiel Arbeitszeitverkürzung, Grundeinkommen, ein sozial-ökologisches Steuersystem.

Mit dem Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht durch revolutionäre Reformen, das Hineinwirken in Institutionen und den Aufbau von wachstumsunabhängigen Freiräumen wie solidarischen Landwirtschaftsbetrieben oder Polikliniken erfinden die Autor:innen das Rad nicht neu. Man fühlt sich etwa an Rudi Dutschkes „Marsch durch die Institutionen“ erinnert.

Der Wert des Buches ergibt sich aus seinen konkreten, beispielreichen Bausteinen. Es ist ein wichtiges Buch für den gegenwärtigen Diskurs, weil es über den politischen Morast des „Weiter‑so“ nach grünen Schönheitsreparaturen hinausgeht.

An manchen Stellen hätte man sich ein oder zwei Absätze mehr zur Quantifizierung gewünscht – also dazu, wie viel Treibhausgasemissionen sich mit dieser oder jener Maßnahme tatsächlich einsparen ließen und inwiefern mehrere Maßnahmen parallel finanzierbar wären. Doch auch das kann den Autor:innen schwerlich angelastet werden. Zwar gibt es durchaus Literatur zu den Klima-Potenzialen von Einzelmaßnahmen, aber nur wenige Studien beschäftigen sich mit komplexeren gesellschaftlichen Veränderungen, wie sie in dem Buch vorgeschlagen werden.

Auch in den Sachstandsberichten des Weltklimarates klafft in diesem Bereich eine große Lücke. Es ist Aufgabe der Zivilgesellschaft, die Schließung dieser Lücke einzufordern.

Kurzum: Das Buch „Bausteine für Klimagerechtigkeit“ liefert einen substanziellen Beitrag zur öffentlichen Klimadebatte, und wenn es sich eine Sache lohnt daraus mitzunehmen, dann: Klimaschutz und Gerechtigkeit lassen sich nur gemeinsam denken und erkämpfen, und auch wenn die neoliberale Vorstellung von einem guten Leben die Transformation nicht überstehen wird, so gibt es doch wesentlich mehr zu gewinnen als zu verlieren.

Und wenn es eine Sache gibt, die Sie, liebe Leser:innen, aus dieser Rezension mitnehmen sollen, dann: Dieses Buch ist für alle diejenigen, die sich von einer klimagerechten Transformation mehr erhoffen als ein paar Solarpaneele auf dem Dach.

Quelle

Der Bericht wurde von der Redaktion „klimareporter.de“ (David Zauner) 2024 verfasst – der Artikel darf nicht ohne Genehmigung (post@klimareporter.de) weiterverbreitet werden! 

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