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Mali oder das Ringen um Würde

So wie Mali ist auch Afrika: Anders als Europa. Und was wir daraus lernen sollten. Zu einem wichtigen Buch von Charlotte Wiedermann. Von Rupert Neudeck

Niemand hat bisher ein Land im tiefsten Afrika so einfühlsam und empathisch beschrieben wie Charlotte Wiedemann Mali. Ausgerechnet Mali, das Land des Terrors, das Land, in das wir wegen der Terrororganisation des Maghreb nicht gehen sollten, in das die französische Armee gegangen ist und unter dem anhaltenden Beifall der Bevölkerung die Malier wieder befreit hat aus den Klauen der Terrorbanden. Das alles hat die Autorin wie schon bei ihren früheren Recherchen erst mal nicht geglaubt, sie ist dorthin gefahren mehr als geflogen, hat sich mit den Maliern gemein gemacht und dabei ganz viel herausbekommen.

Vieles von dem, was wahrscheinlich kein Bundeswehrsoldat je erfahren wird, der da in der Hauptstadt Bamako in einer völlig abgekapselten Isolation Ausbildung von Menschen macht, die zu 95 Prozent nicht französisch sprechen, obwohl wir alle von diesem Land als einem frankophonen ausgehen. Ich habe das Buch wie in einem Rausch gelesen, denn so viel an Afrika Neugierde, an Afrika Freude habe ich in einem Buch noch nicht erfahren und erlesen können.

Im Grunde sagt die Autorin: Alles ist ganz anders, als es uns die offizielle Entwicklungspolitik bisher gesagt hat, als es uns die Diplomatie und Politik weismachen will, als es uns Frankreich vorstellen möchte als sein kleines zivilisatorisches Kind am Rande der Sahara, als es die Beobachter und Journalisten, die da mal mit einem Minister, ganz gleich ob dem Außenminister oder der Verteidigungsministerin landen, uns weismachen wollen. Diese Autorin weiß den Stolz, die Ehre und die Würde der Malier zu schätzen und ganz neu herauszufinden, wer diesen Stolz immer wieder auf s Neue verletzt hat und weiter verletzt. Es war tatsächlich die Vorzeigedemokratie, von der Diplomaten zwanzig-dreißig Jahre nach Europa berichteten. Sie bekamen nicht mit, dass es eine falsche Demokratie war.

An einem Märzmorgen 2012 gab es ein paar Schüsse und die Demokratie brach zusammen, die westliche Beobachter als stabile Demokratie bezeichnet hatten. Wie war das möglich: Mali, eine Modelldemokratie, fällt aus heiterem Himmel unter die Räuber. In der nächsten Szene kommen französische Spezialkräfte und machen dem Spuk ein Ende. Die Autorin war fünf Jahre vorher schon da. Viele Malier trugen Baumwollgewänder mit dem Logo und Slogan einer politischen Partei, solche Stoffe wurden kurz vor Wahlen auf den Markt geworfen, kostenlos. Wenn die Autorin mal nachfragen wollte, was auf den T-Shirts steht, sagte der Angesprochene „Oh was steht denn da.

Viele konnten nicht lesen. Oder die Buchstaben waren egal, es hätte auch Maggi oder Nivea da stehen können. Der Politikbetrieb ist für die Malier etwas sehr Entferntes. Nahezu alles wird auf Französisch behandelt, auch im Parlament. Das schließt neun von zehn Maliern aus. „Wie kann man sich mit einer Demokratie identifizieren, die in einer Fremdsprache daher kommt?“

Leider hat an dieser faulen Entwicklung auch die Entwicklungshilfe mitgetan. Wenn ein Projekt der Entwicklungshilfe scheitere, sei das keine Katastrophe. Ganz anders im normalen Leben der Menschen, wo jedes „Scheitern auf Grund der prekären Lebensverhältnisse die ganze Familie in den Abgrund reißt. Wie leichthändig Entwicklungshelfer über ein Scheitern ihrer Programme hinweggehen“. Sie fragt sich, ob die Hilfe nicht im gleichen Maße schadet und ein Klima von Opportunismus und Verlogenheit fördert.“ Zeitweise hätte es mehr als zweitausend NGOs in Mali registriert gegeben. Viele waren „Geldbeschaffungsinstitutionen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit“. Manche NGOs wurden direkt von Politikern gegründet, sei es für den Wahlkampf, sei es ebenfalls zur Geldbeschaffung. In anderen Gruppen missbrauchten die Vorsitzenden ihr Amt als Sprungbrett für politische Ambitionen“.

Diese Autorin beschwört uns, von unseren Euro-Vorurteilen abzulassen, die auch Hegel- und Marx- Vorurteile sind, dass die Geschichte dieser Länder erst mit unserem verfluchten Kolonialismus anfängt. Auf das Jahr 1324 datiert eine Episode, als der Herrscher des Mali Reiches Kankan Mussa sich auf einer Pilgerfahrt nach Mekka befand. In Kairo bei einer Haltestation warf er mit Gold nur so um sich, dass der Kurs des ägyptischen Dinars abstürzte. Das war eine reiche große Zeit, in der wie ein arabischer Geograph damals berichtet hat, sogar die Hunde im Palast des Herrschers Goldhalsbänder trugen. Der Herrscher spendete damals große Goldbeträge und brachte bei seiner Rückkehr Theologen und Gelehrte mit sich. In der Rückschau nennt Charlotte Wiedemann das die Epoche der Ebenbürtigkeit: „Der Sahel war eine selbstbewusste Region, deren Bewohner keinerlei Anlass hatten, sich Europäern oder Arabern unterlegen zu fühlen“. Erst waren es auch nicht wir Europäer, die dieses Land betraten, sondern Perser und Araber. Die Araber nannten es „Bilad-as Sudan“, Das Land der Schwarzen. Mit der unseligen Fixierung auf die Hautfarbe, so die Autorin, hätten auch nicht die Europäer begonnen.

Aufregend jedes Kapitel, das die Autorin nach einer wahrscheinlich sehr langen aufwendigen Reise schreibt. Natürlich weiß sie, was sich gehört, was viele Entwicklungshelfer und westliche Journalisten nicht wissen. Kommt man in ein Dorf in Mali, Muss man zuerst zu dem Dorfchef gehen, sonst ist man nicht angekommen. Das Buch macht mit der Welt von Gesellschaften bekannt, in der Bauern die wichtigste und wertvollste Bevölkerungsgruppe sind. Es gab Basisjustiz – fern von staatlicher Stempelgewalt und sonstiger Zuständigkeit. „Die Malier sind berühmt für eine Kultur des Ausgleichs und des Verhandelns“. Im Landesteil der Dogon kann man altertümliche Versammlungsbauten bewundern, deren Höhe bis zum Dach nur ein Meter zwanzig misst. Hier kann niemand in Erregung einfach aufspringen.

Katastrophal sind die Überreste der Kolonialzeit. Die einheimischen Sprachen sind Teil des sozialen Geflechts. Ausgrenzend sei allein das Französische. „Wo es gesprochen wird, darf nichts anderes hin – in Malis Parlament ist es untersagt, sich in einer einheimischen Sprache zu äußern“. Das gehört, wie die Autorin nicht müde wird zu erklären, eben auch zu den Wegen, auf denen afrikanische Stämme und Ethnien den Weg zu ihrer eigenen Identität finden, wo sie zurückfinden zu den afrikanischen Werten, die verschüttet waren von der französischen Kolonialmacht und der Entwicklungshilfe. Sie hat die besten Freunde im Land, die ihr erklären, warum das im Parlament noch immer so ist. Es gäbe eine lange Geschichte von Geheimsprachen.

Zuerst sei das die afrikanische Praxis der Initiationen gewesen, deren Regeln auch nur Eingeweihte kannten. Dann kam das Arabische, das auch nur die Elite verstand, den Koran versteht die Mehrheit der Malischen Muslime nicht. Dann das Französische, das nur 15 Prozent verstehen. Immerhin gibt es jetzt bei 2500 Schulen ein Reformmodell. 246.000 Schüler lernen jetzt die ersten Schritte in ihrer eigenen Muttersprache, das ist weniger als ein Fünftel der Grundschüler. Die anderen lernen weiter nur Französisch. Es fehlt an Geld. Die Sprachen des Landes zu fördern, geht nur mit Geldern aus den reichen Ländern.

Die Autorin hat nichts zu tun mit dem Afrika-Bild, das unsere Korrespondenten vermitteln. Der ganze Reichtum eines Landes, von dem in diesem Buch sattsam die Rede ist, wird in drei Sprachzonen gezwungen: frankophon, anglophon, lusophon (portugiesischsprachig). Wie ist es möglich, fragt das Buch, dass ein einzelner Korrespondent mit Sitz in Nairobi oder Johannesburg über 49 Länder südlich der Sahara berichtet, ohne auch nur eine einheimische Sprache des Kontinents zu kennen? Ich fürchte, das Berichts-System braucht gar keine Erklärungen, der zurückgebliebene Kontinent ohne Geschichte braucht schlicht für seine Katastrophen und seine Nicht-Entwicklung nur einen Korrespondenten. Basta.

Das Unglück französischer Kolonisation wird deutlich in dem Buch. Hätte Westafrika im kolonialen Einflussbereich der Briten gelegen, wäre manches anders geworden, denn die Briten haben den einheimischen Sprachen mehr Raum gegeben. Frankreich verfolgte eine Politik der kulturellen Assimilation. Neben dem Französischen sollte es kleine andere geben. In keiner Region war der Bruch mit aller vorkolonialen Bildung so hart wie in Westafrika. Die orale Wissensvermittlung wurde eben so ignoriert wie die Gelehrsamkeit, die die arabische Schrift bedeutete. Das ist deshalb so falsch, weil das Arabische eine enorme Prägekraft hatte. Jeder Weiße wird Toubabu genannt. Das ist das Wort, das von Tahib kommt, arabisch heißt das Arzt, Im Mittelalter gab es in der islamischen Kultur – wie die Manuskripte von Timbuktu zeigen – eine Nähe von Religion und Naturwissenschaften; religiöse Gelehrte hatten oft medizinische Kenntnisse.

So wird an den meisten Schulen Malis weiter ausschließlich Französisch unterrichtet. Die Klassen sind groß, die Bücher sind knapp, deshalb wird immer auswendig gelernt und von der Tafel abgeschrieben Viele Kinder scheitern in dem System, bleiben sitzen. Nur jeder fünfte schafft den Hauptschulabschluss. Die Zahl der Analphabeten wird weiter mit sechzig Prozent beziffert. Bei den Frauen soll sie bei achtundachtzig Prozent liegen. Und trotzdem sei Französisch die Amtssprache, die nur 15 Prozent der Malier beherrschen.

Unwiederbringlich gut ist das Drama afrikanischer Entwicklung aufgedröselt, an dem die Entwicklungshilfe nur gerade mal als nicht hinderlicher Agent vorkommt. Mali ist ein reiches Land, ist aber bettelarm. Alles, was das Land produziert, kommt ihm nicht so zugute, wie es sein müsste. Die Baumwolle kommt ihm nicht zugute, selbst wenn die Preise in die Höhe gehen, kommt hier in Mali davon nichts an. Gold und das gefährliche Uran spielen eine große Rolle.

Als Uran gefunden wurde, wussten die Malier natürlich nicht, auf was sich ihre Regierung da einließ. Die schon über 500 Bohrlöcher um Falea bewilligt hat. Die biologische Vielfalt der Region ist natürlich extrem gefährdet. Sich eine Vorstellung von dem Umweltdesaster zu machen, das in dem Uranabbau lauert, ist schon für uns Europäer nicht leicht. Die Konzentration von Uran im Erz ist niedrig, deshalb müssen eine gr0ße Menge an Steinen bewegt werden, die meist als radioaktiv staubende Abraumhalden zurückbleiben. Das Uran wird vor Ort mit Laugen aus dem Erz gewaschen, dabei fallen große Mengen an chemisch verseuchten Rückstandsschlämmen an. Ihnen ist zwar das Uran, nicht aber dessen Zerfallsprodukte entzogen, so dass die Schlämme eine gehörige Menge an Radioaktivität mit sich herumschleppen.

Kurz, man kann dieses unglaublich detailreiche, einfühlsam und verständlich geschriebene Buch nicht irgendwie zusammenfassen. Man kann allerdings dem Rekruten oder Offizier der Bundeswehr nur raten, dieses Buch zu lesen, denn alles in Mali ist anders, als wir es uns gern in unserer Korrektheit so vorstellen. Denn wahrscheinlich ist es ganz falsch, an der Seite der alten Besatzungs- und Kolonialmacht als deutsche Militärs da aufzutauchen.

Irgendwann kamen die Drogenhändler in Lateinamerika auf die gute Idee die einfache Route über die Sahelländer zu machen, statt an die Mexiko-USA Grenze anzurennen. Seit 2005 gab es die Drogenroute von Kolumbien über Mali. Gleichzeitig habe sich auch die Islamisten Organisation „Al Qaida im Maghreb“ dort gebildet. Drogenhändler fungierten als Vermittler bei Geiselnahmen. In der Wüste sei ein Business entstanden, der wie ein blitzender Supermarkt auf die Umgebung wirkte. Charlotte Wiedemann: die westliche Erzählung hat aus diesem Gemenge ein eindeutiges Feindbild herausdestilliert: die radikale Al Qaida aus dem Maghreb. Deren Konturen waren in der Realität andere. Aber es war ein Feindbild geschnitzt, das sich für Bombardierungen sehr gut eignete. Wiedemann: „Am Boden, wo ich recherchierte, befand ich mich in einer höchst unübersichtlichen Topographie von Taten und Tätern“. Die Bibliothek war nicht von den Heißsporen verbrannt oder vernichtet, sondern vorher zu Privatfamilien zur Aufbewahrung weitergegeben.

In einem Kapitel beschreibt sie ihren eigenen Mann, da begreift man, weshalb jemand so gut über die kulturellen Untergründe und Fundamente eines Lebens der Malier informiert sein kann. Der Marabout sagte den beiden bei der Hochzeit auf Bamanankan: Heirat bedeute zusammenbleiben, bis der Tod euch scheidet. „Aber wenn sich das Paar nicht mehr versteht, dann trennt man sich eben vorher“. Liberale Lebensklugheit der Afrikaner. Als der Marabout von ihrem Mann Tiecoura erfahren will, ob er schon mit ihr über Konversion geredet habe, sagte der Mann: „Nein“. Daraufhin brummte der Marabout: „Manche Dinge brauchen Zeit“.

Es ist ein Buch über ein Land, das man gern kennenlernen möchte, aber nicht in der Manier der besetzenden Soldaten, der Blauhelme, der begüterten Entwicklungshelfer, deren Autos schon auffallen, weil sie neben denen der Minister die allerteuersten sind. Das Buch und seine Autorin kämpfen gegen Vorurteile. So die Zurückgebliebenheit des Islam und seiner heiligen Stätten. Sie spricht mit Abdelkader Haidara. Der erzählte ihr, wie in Timbuktu Familien ihre Büchereien sogar in Sandlöchern versteckten, damit sie nicht von der Kolonialherrschaft konfisziert würden. Im Niger hatten sich Franzosen an wertvollen Dokumenten vergriffen, die als Diebesgut bis heute in der Pariser Nationalbibliothek liegen. Haidara hatte eine Bibliothek mit zwölf Angestellten aufgebaut. Ein Kulturzentrum in Dubai hatte den Aufbau eines Labors für die Konservierung der Schriften finanziert.

Ihre Digitalisierung, wichtig für Forschungszwecke, wurde eingeleitet. Sogar das säurefreie Papier, das für die Ausbesserung von zerfallenden Dokumenten gebraucht wird, stellt Haidara nun in der eigenen Werkstatt her. Viele Manuskripte waren aus Papier, nicht aus Pergament. In der islamischen Welt wurde schon im 8. Jahrhundert Papier hergestellt. Früher als im Westen. Diese Welt hatte weit vor unserer verbrecherischen Kolonisierung eine große Geschichte. Das Buch gibt uns einen Leitfaden, uns in dieser Richtung wieder ein wenig in Form zu bringen – ohne unsere angeborene Arroganz.

Quelle

Rupert Neudeck 2014Grünhelme 2014

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