Syrien ist frei – aber wie lange?
Glückliche Menschen, tanzende Jugendliche, Tränen der Freude: Syrien ist frei! Der Tyrann ist gestürzt. Moskau gewährt dem langjährigen syrischen Diktator Asyl.
Die Bilder erinnern an die Szenen in Deutschland vor 35 Jahren, im Herbst 1989 als die Berliner Mauer fiel und die DDR-Bürger ihre neue Freiheit feierten. Auch Erich Honecker fand damals Unterschlupf in Moskau. Die starken und furchtbaren Hintermänner beider Diktatoren saßen und sitzen damals wie heute in Moskau – wie vielsagend. Erich Honecker damals und Baschar al-Assad heute waren einst mächtig, sie verfügten über hundertausende Soldaten, Panzer und Waffen. Doch sie hatten einen erbärmlichen Abgang. Diktatoren fliehen meist in ihre eigene Bedeutungslosigkeit. Welch „armseliger Abgang“! (TAZ, 11. Dezember 2025).
Auch anderen arabischen Führern ging es ähnlich, zum Beispiel Saddam Hussein im Irak oder Muammar Al Gaddafi in Lybien. Und den meisten Diktatoren in der Geschichte ging es so ähnlich. Wie lächerlich und „armselig“ kann doch die „Macht der Mächtigen“ sein!
Wichtig für die befreiten Menschen ist ihre neue Freiheit
In Deutschland haben vor 35 Jahren und in Syrien jetzt Millionen Menschen ihre Angst vor dem Diktator überwunden und wurden deshalb frei. Sie wussten und wissen: „Wir sind das Volk.“ Und sie waren dann so frei. Beide Freiheiten wurden gewaltlos errungen. Die eigentliche Lehre dieser beiden gewaltfreien Revolutionen: Die Überwindung der Angst ist die Bedingung der Freiheit.
Freiheit ist jedem Menschen in seiner Seele verankert
Alle Religionsführer und alle Weisheitslehrer haben ihren Schülern und Anhängerinnen empfohlen und geradezu eingetrichtert: „Habt keine Angst!“ Das meist gebrauchte Jesus-Wort in der Bibel gegenüber seinen Nachfolgern heißt „Habt doch keine Angst!“ Der große Menschenkenner und Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung wusste: „Ich kenne nur eine Supermacht auf diesem Planeten: Das ist die menschliche Seele.“
Menschen, die diesen Zusammenhang von Freiheit und Seele verstehen, können die Angst überwinden und auch Diktatoren stürzen. Sie befreien sich selbst aus der Knechtschaft von armseligen Menschenschindern und feigen Massenmördern. Aber leider zeigt die Geschichte – gerade die jüngere Geschichte Arabiens – , dass die Freiheit oft nur von kurzer Dauer ist. Und dass eine Diktatur auf die andere folgt. Diese Gefahr besteht auch jetzt in Syrien.
Wirklich frei sind die Syrerinnen und Syrer nur, wenn sie ihre neue Freiheit dauerhaft und nachhaltig sichern. Die aktuellen Befreier in Syrien sind Islamisten und keine Demokraten. Dass ihnen aber der Sturz Assads ohne Blutvergießen und ohne Gewalt gelungen ist und dass sie in den ersten Tagen ihrer Macht zum Dialog untereinander und mit der alten Regierung bereit sind, ist ein demokratisches Hoffnungszeichen für die Zukunft der etwa 25 Millionen Menschen in Syrien.