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Wer bin ich wirklich? – Schatten und Persönlichkeit

In der Analytischen Psychologie C. G. Jungs ist der „Schatten“ ein zentrales Konzept. Zum Schatten gehören die dunklen Seiten unserer Persönlichkeit, die wir an uns selbst ablehnen und ins Unbewusste verdrängen oder auf andere projizieren. Er umfasst aber auch Begabungen und Potenziale, die wir bei uns selbst nicht wahrnehmen. Im Schatten ist viel Lebensenergie enthalten, die freigesetzt werden kann, wenn wir uns mit unseren „verschatteten“ Persönlichkeitsanteilen auseinandersetzen.

Herausgegeben von Franz Alt versammelt dieser Band die wichtigsten Gedanken C. G. Jungs rund um die Entwicklung einer vollständigen Persönlichkeit. Dieser Weg ist nicht leicht. Wenn er jedoch gelingt, lässt er uns das ganze Spektrum unseres Menschseins erfahren.

Vorwort von Franz Alt im Band „Schatten und Persönlichkeit!

Denn alle Kultur ist Erweiterung des Bewusstseins.“ (C. G. Jung)

Es streiten zwei Arten der Existenz um unsere Seele: die Art des Scheins und die Art des Seins. Zur Art des Scheins gehören zum Beispiel Gewalt und Aggression, Gier und Neid, Macht und Gewinnsucht. In jeder und jedem von uns steckt ein größerer oder kleiner Teil von Hitler oder Stalin, von Putin oder Assad.

Zur Art des Seins gehören Lieben und Helfen, Verstehen und Tolerieren, Haushalten, Bewusstwerden und Sinnvoll-Leben. In jeder und in jedem von uns steckt auch ein größerer oder kleinerer Teil von Jesus oder Buddha. Mehr sein als scheinen! Das ist im Zeitalter Sozialer Medien und politischer Verschiebungen in die Extreme zur Überlebensfrage der Menschheit geworden. Carl Gustav Jung gehört zu den Menschen, die uns Auswege aus unseren persönlichen, religiösen und politischen Sackgassen weisen.

Die Werke des tiefen Seelenforschers werden in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen auch so viele Jahre nach seinem Tod immer fruchtbarer: in Physik und Theologie, in Pädagogik und Medizin, in Philosophie und Anthropologie, vor allem aber in der von ihm begründeten Schule der Analytischen Psychologie. Als sein größtes Verdienst betrachte ich aber seine Experimente und Erfahrungen mit den jeden Menschen direkt berührenden Fragen der Selbst- und Welterkenntnis. Davon zeugt die Auswahl dieses Bändchens der Reihe „Weisheiten und Einsichten“.

„Schatten und Persönlichkeit“ heißt dieses kleine Buch. „Schatten“ ist ein Schlüsselwort in der Jung´schen Therapie. In einem seiner letzten Briefe schreibt Jung im März 1960“ „Man kann den Schatten nicht übersehen, außer man bleibt neurotisch und solange man neurotisch ist, hat man den Schatten übergangen. Der Schatten ist das Hindernis, das uns am wirksamsten von der göttlichen Gnade trennt“.

Die Schattenseiten des Menschen gehören nach Jung zu jedem Menschen. Er fügt allerdings hinzu, „dass der Schatten nicht nur aus moralisch-verwerflichen Tendenzen besteht, sondern auch ein Reihe guter Qualitäten aufweist“. Die Erkenntnis des Schattens beschützt uns vor Selbsterhöhung und Moralismus.

Wer nicht aufhört, das Lernen zu lernen, lebt persönlich immer in einer Wende-Zeit. Dass wir politisch gerade in einer Wende-Zeit leben, ist offensichtlich. Und gerade in Wende-Zeiten ist Jungs ganzheitliche Sicht der Wirklichkeit besonders aktuell und hilfreich. Wenn äußere Mauern wird auch der Blick auf die inneren Mauern naheliegend und dringlich. Wenn Grenzen sich schließen, wird uns vielleicht die Grenzenlosigkeit der eigentlichen Probleme dieses Planeten deutlich: der Hunger, die Kriege und die Mitweltzerstörung durch uns selbst. Voraussetzung für die Lösung dieser Überlebensprobleme der Menschheit ist die Feminisierung und die nachhaltige Stärkung der Demokratie in unseren Gesellschaften. Zur Feminisierung leistet Jung mit seiner »Animus-Anima«-Konzeption ebenso einen Beitrag wie mit seiner Aufforderung zur »Individuation«, zur Menschwerdung des Menschen. Nur angstfreie Menschen finden den Weg zur Bestimmung ihres Selbst und bewirken mehr Demokratie – was heute gerade den westlichen Demokratien nottut!

Alle Religionsführer und alle Weisheitslehrer haben ihren Schülern und Anhängerinnen empfohlen und geradezu eingetrichtert: „Habt keine Angst!“ Das meist gebrauchte Jesus-Wort in der Bibel gegenüber seinen Nachfolgern heißt „Habt doch keine Angst!“ Der große Menschenkenner und Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung wusste: „Ich kenne nur eine Supermacht auf diesem Planeten: Das ist die menschliche Seele.“

Menschen, die diesen Zusammenhang von Freiheit und Seele verstehen, können die Angst überwinden und auch Diktatoren stürzen. Sie befreien sich selbst aus der Knechtschaft von armseligen Menschenschindern und feigen Massenmördern. Aber leider zeigt die Geschichte – gerade die jüngere Geschichte Arabiens –  dass die Freiheit oft nur von kurzer Dauer ist. Und dass eine Diktatur auf die andere folgt. Diese Gefahr besteht auch jetzt in Syrien.

Wirklich frei sind die Syrerinnen und Syrer nur, wenn sie ihre neue Freiheit dauerhaft und nachhaltig sichern. Die aktuellen Befreier in Syrien sind Islamisten und keine Demokraten. Dass ihnen aber der Sturz Assads ohne Blutvergießen und ohne Gewalt gelungen ist und dass sie in den ersten Wochen ihrer Macht zum Dialog untereinander und mit der alten Regierung bereit sind,  ist ein demokratisches Hoffnungszeichen für die Zukunft der etwa 25 Millionen Menschen in Syrien.

Die Bedingung der Freiheit ist die verantwortungsbewusste Persönlichkeit. Der »Individuations«-Weg von der Zuschauer-Demokratie zur Verantwortungs-Demokratie steht auch den westlichen Demokratien erst noch bevor.

Meister Eckhart hat es vor 700 Jahren so gesagt: Wenn wir wissen, was wir sollen, dann geschieht auch, was wir wollen. Wie aber wissen wir, was wir sollen? Über innere, seelische Lernprozesse, zu denen C. G. Jung anregt.

Baden-Baden, Januar 2025           Franz Alt


Source

Franz Alt 2025 | Verlagsgruppe Patmos 2025

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