Andre Glucksman: Ein Mitgründer von Cap Anamur ist tot
Der „Tod ist immer ein Mörder“, heißt es in Frankreich. Das gilt auch für André Glucksmann, der im Alter von 78 Jahren gestorben ist. Ein Nachruf von Rupert Neudeck
Er war einer der besten Freunde in der Zeit unserer Schiffe. Mehrmals war er nach Köln gekommen, um das deutsche Schiff Cap Anamur in der Öffentlichkeit zu unterstützen. Nebenbei war es ihm auch immer ein großes Bedürfnis, mit Heinrich Böll zu sprechen, den er verehrte. Die beiden verstanden sich auf Anhieb gut, auch nachdem Glucksmann das Buch über die Bombe geschrieben hatte, hörte Böll nicht auf, mit ihm zu sprechen. Wir machten beim WDR eine zwei Stunden lange Gesprächssendung, die davon lebte, dass die beiden sich unterhielten, nicht unbedingt einer Meinung waren, aber sich sehr schätzten. „Verstehen Sie, Andre“, war der Satz, den ich immer noch aus dem großen Gespräch höre.
Er war Mitgründer des ersten Deutschen Komitees Ein Schiff für Vietnam, das dann später zu dem Komitee Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte wurde. Einmal hatten wir uns am 1. Februar 1979 verabredet im Pariser Cafe Boule d’Or, um über die Lage der Bootsflüchtlinge zu sprechen. Glucksmann kam gerade von einer Reise auf die Ratteninsel Pulau Bidong vor der malaysischen Küste zurück, wo 40.000 vietnamesische Bootsflüchtlinge gestrandet waren. Er berichtete mir von dem schon in Kraft gesetzten Vorhaben, ein Schiff auf Neukaledonien zu chartern, die Ile-de-Lumiere, die aber noch Geld brauchte.
So zog ich zurück von Paris nach Köln und wusste nur, wir brauchen in Deutschland einen unübersehbaren Fels in der Brandung, der mitmacht bei diesem Unternehmen. Böll sagte zu: „Wir müssen das tun und ich bin dabei“. Zur ersten Pressekonferenz am 18. April 1979 im Restaurant Tulpenfeld in Bonn kam auch Andre Glucksmann mit dem Nachtzug von Paris. Wir zogen vom Kölner HBF sofort zum Deutschlandfunk, wo Glucksmann interviewt wurde. Er hatte um eine Dolmetscherin gebeten, aber die war nicht nötig, er sprach das schöne französische Deutsch, das die Deutschen so mögen. Dann fuhren wir allesamt, Heinrich Böll, Glücksman, Curt Hondrich und ich nach Bonn, um machten die entscheidende Pressekonferenz, mit der alles begann. Glucksmann war einer der heftigsten Unterstützer des französischen Schiffes „Ile-de-Lumiere“, während wir nach der Fernsehsendung im Ersten Programm in der Sendung Report Baden- Baden am 12. Juli 1979 uns ganz darauf konzentrierten für das Schiff Geld zu sammeln.
Die Art, wie die Franzosen ihre humanitären Aktionen durchführten, hat mich damals sehr fasziniert. Bei einer Großen Pressekonferenz im Pariser Hotel Lutetia waren alle Erzgegner zusammen. Jean-Paul Sartre mit seinem heftigsten Gegner und Feind Raymond Aron, den er als „antikommunistischen Hund“ beschimpft und ihn keines Blickes gewürdigt hatte. Aber die Gegner von einst waren sich einig: Für Menschen, die auf dem Meer ertrinken, muss man eine Atempause des Streits einhalten. Wichtiger ist es, Menschenleben zu retten.
Das machten wir dann nach. Bei der ersten Fahrt zur Pressekonferenz in Bonn fragte ich noch verschämt und fast zögernd, ob Böll akzeptieren würde, wenn wir für das Unterstützerkomitee auch Matthias Walden, den Chefkommentator der Springer-Blätter gewinnen, mit dem Böll damals noch in einem Rechtsstreit war. „Natürlich, keine Frage“, sagte Böll.
Glucksmann wurde der Verbindungsmann zu dem Organisator des französischen Schiffes, Bernard Kouchner, auch eine bewegende Figur in der humanitären Arbeit. Glucksmann besorgte uns einen Termin bei Yves Montand in einem vornehmen Haus in Paris und wir vereinbarten eine Pressekonferenz in Bonn in der Hessischen Landesvertretung. Das war 1981, als wir wieder ganz dringlich Geld und Aufnahmeplätze brauchten.
Glucksmann war und blieb ein Freund, auch wenn man nicht immer einer Meinung war. Wir waren in der Frage der Force de frappe und der Raketen nicht einig, aber in Tschetschenien beim Kampf für die Rechte eines geschundenen, schon von Stalin deportierten Volkes wieder ganz einig.
Er war ein origineller Philosoph, einer der „nouveaux philosophes“ (Neuen Philosophen), die sich gegen die totale Links-Ausrichtung der Intelligentsia in Frankreich durch Jean-Paul Sartre wandte. Glucksmann wurde in seinen marxistischen Träumen durch die Lektüre des „Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn geheilt. Danach hatte er für diesen neuen Totalitarismus nur Verachtung übrig.
Glucksmann war der Sohn jüdischer Eltern aus Osteuropa. Der Vater stammte aus der Bukowina, die Mutter aus Prag. Die Eltern hatten sich 1920 in Palästina kennengelernt. 1930 zogen sie nach Deutschland. Schon 1933 waren sie im antifaschistischen Widerstand, konnte 1937 nach Frankreich fliehen. Dort kam der Vater 1940 nach dem Einmarsch der Deutschen Soldaten um. Die Mutter wurde mit den Kindern in das Lager Bourg-Laslic bei Vichy verlegt. Da der kleine Andre aber in Frankreich geboren war, galt er als Franzose und Mutter und Kinder kamen frei. Er war ein leidenschaftlicher Humanitärer und Europäer. Man wird sich an ihn erinnern, wenn man die Leistungen der deutschen und französischen Organisationen seit 1979 bilanziert.
Wir trauern um einen wichtigen Mitkämpfer bei den deutsch-französischen Hilfsbemühungen um die Bootsflüchtlinge mit den Schiffen „Ile-de-Lumiere“ und Cap Anamur.