‹ Zurück zur Übersicht

© Benevento Publishing | Benevento Publishing | Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama wurde 1935 in Takster in Osttibet geboren. Nach der Besetzung Tibets durch China im Jahr 1959 floh er nach Indien, von wo aus er sich seitdem für die Unabhängigkeit seiner Heimat einsetzt. 1989 wurde er mit dem Friedensnobelpreis geehrt.

Dem Dalai Lama zum 90.: »Ich schlage vor: Mehr zuhören, mehr nachdenken, mehr meditieren«

Der Dalai Lama sendet nur Kalendersprüche? Von wegen, sagt sein langjähriger Freund Franz Alt. Wer will, dass die Erde noch eine Zukunft hat, muss endlich auf ihn hören. Jetzt wird der Mann mit dem verschmitzten Lachen 90.

Der Dalai Lama: »Von seinen Feinden kann man am meisten lernen«

»Ich habe keine Feinde, es gibt nur Menschen, die ich noch nicht kennengelernt habe«, sagte mir der Dalai Lama schon vor Jahrzehnten. Und er fügte hinzu: »Von seinen Feinden kann man am meisten lernen. In einem gewissen Sinn sind sie unsere besten Lehrmeister.« Das ist die Meinung und Haltung eines Religionsführers, der vor seinen Feinden fliehen musste.

Seit 1959 lebt er im indischen Exil, wird von der kommunistischen Regierung in Peking als »Staatsfeind Nr. eins« behandelt und als »Anführer der Dalai-Lama-Clique« bezeichnet. Diese Position des Dalai Lama hat mir imponiert, sie schien und scheint mir vorbildlich und die Voraussetzung für eine bessere Welt.

Der Dalai Lama verkörpert heute das, was Jesus von Nazareth vor 2000 Jahren in seiner Bergpredigt als »Feindesliebe« lehrte. Diese »Feindesliebe« meint nicht: Lass dir alles bieten, sondern: Sei klüger als dein Feind, hab den Mut zum ersten Schritt auf ihn zu.

© Manuel Bauer

Ich traf den Dalai Lama rund 40 Mal, teils mehrere Tage lang. Wir haben etwa ein Dutzend Fernsehinterviews geführt und zusammen die Bücher »Ethik ist wichtiger als Religion« sowie »Schützt die Umwelt« geschrieben – und so wurden wir Freunde.

Tiefes, gurgelndes Ha-ha-ha

Selten habe ich in meinen 35 Jahren bei der ARD einen so sympathischen und zugleich humorvollen Interviewpartner erlebt. Sein tiefes, gurgelndes Ha-ha-ha ist weltberühmt. Und nicht zufällig gilt er bei vielen Umfragen als »der sympathischste Mensch unserer Zeit«.

© Manuel Bauer

1982 hatten meine Ehefrau Bigi und ich mit einer Acht-Millimeter-Kamera heimlich und ohne chinesische Aufpasser für die ARD einen Film in Tibet gedreht. Bigi war lange vor mir an Tibet und am tibetischen Buddhismus interessiert. Etwa 50 Tibeter schilderten in unserem Film unzensiert ihre grauenhaften und leidvollen Erfahrungen unter der chinesischen Besatzung seit 1950.

Ohne die Kooperation mit dem damaligen legendären Spiegel-Korrespondenten in China, Tiziano Terzani, wäre dieser Film nicht zustande gekommen.

Als der Dalai Lama im November 1982 nach Deutschland kam, wurde dieser Film zu seiner Begrüßung im Fernsehen ausgestrahlt. Er hörte davon und bat mich, ihm den Film privat in seinem Frankfurter Hotel zu zeigen.

Das war etwas schwierig, weil wir am nächsten Morgen die Geburt unserer zweiten Tochter erwarteten. Der Frauenarzt meinte: »Wenn Sie nach ihrem Treffen mit dem Dalai Lama noch in der Nacht nach Hause fahren, können Sie beides haben: ihren Dalai Lama und die Geburt ihrer Tochter.« So wurde es gemacht.

Kultureller Völkermord

In unserem Film konnten wir dokumentieren, was der Dalai Lama seit mehr als 60 Jahren behauptet: China begeht auf dem Dach der Welt einen »kulturellen Völkermord«. Für das kommunistische China ist Tibet eine Region, die »von ihrer abergläubischen Rückständigkeit befreit und modernisiert werden« muss.

Nach dem Film hatte der Dalai Lama Tränen in den Augen, nahm mich in den Arm und sagte: »Wir sollten Freunde werden. Ich möchte Sie und Ihre Frau immer treffen, wenn ich nach Europa komme.« So durfte ich in den letzten vier Jahrzehnten erleben, wie dem »Papst des Ostens« eine religionsübergreifende Ethik immer wichtiger wurde.

Dabei erlebte ich viele Überraschungen. Die wichtigste ereignete sich 2015, am Tage nach den tödlichen islamistischen Terroranschlägen in Paris auf die Redaktion der Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« und auf einen jüdischen Supermarkt.

Gewaltverliebte, zerissene Welt

beneventobooks.com | „Der Appell des Dalai Lama an die Welt – Ethik ist wichtiger als Religionen“
beneventobooks.com

Der buddhistische Religionsführer sagte damals: »Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten. Alle Religionen und alle heiligen Schriften bergen ein Gewaltpotential in sich. Deshalb brauchen wir eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen.«

So weit ging noch nie ein prominenter Religionsführer. Diese Erkenntnis war die Initialzündung für unser gemeinsames Buch »Ethik ist wichtiger als Religion«. Der Dalai Lama wirbt darin für eine »Weltrevolution des Mitgefühls«. Nichts braucht unsere heutige gewaltverliebte und zerrissene Welt mehr.

Diese säkulare Ethik des Dalai Lama sprengt alle nationalen, religiösen und kulturellen Grenzen und skizziert Werte, die allen Menschen angeboren sind. Werte wie Achtsamkeit, Geistessschulung, Mitgefühl sowie das Streben nach Glück.

Primär Lippenbekenntnisse

Ich hörte es von ihm immer wieder: »Die Hauptursachen für Kriege und Gewalt sind unsere negativen Emotionen. Diesen geben wir zu viel Raum und unserem Verstand und unserem Mitgefühl zu wenig. Ich schlage vor: Mehr zuhören, mehr nachdenken, mehr meditieren.«

Der Dalai Lama ist als Religionsführer natürlich nicht gegen Religion, aber er meint, bisher seien alle Religionen primär Lippenbekenntnisse und zu wenig Agenten einer besseren, gerechteren, friedlicheren und umweltfreundlicheren Welt.

Wir verdanken dem Dalai Lama wahrscheinlich mehr, als wir ahnen. Seine konsequente Lehre der Gewaltlosigkeit basiert auf seiner Lehre des Mitgefühls. Das vermuten auch seine wissenschaftlichen Freunde an wissenschaftlichen Einrichtungen wie dem Massechusetts Institute of Technology oder der Gesellschaft für Neurowissenschaften in Washington, in Stanford, Zürich und Straßburg.

»Wir haben alle eine elementare und menschliche ethische Urquelle in uns.« Dalai Lama

Immer wieder betont er, wie wichtig es ist, dass Wissenschaft und Religion zusammenarbeiten: »Nach meiner Überzeugung können Menschen zwar ohne Religion auskommen, aber nicht ohne innere Werte, nicht ohne Ethik.« Den Unterschied zwischen Ethik und Religion verglich er mit dem anschaulichen Bild von Wasser und Tee. Ethik und innere Werte, die sich auf einen religiösen Kontext stützen, seien wie Wasser, lebensnotwendig.

Tee bestehe zum größten Teil aus Wasser, enthalte aber noch weitere Zutaten. Teeblätter, Gewürze, Zucker, in Tibet eine Prise Salz. Unabhängig davon, wie der Tee zubereitet werde: Sein Hauptbestandteil sei immer Wasser. »Wir können ohne Tee leben, aber nicht ohne Wasser. Und genau so werden wir zwar ohne Religion geboren, aber nicht ohne das Grundbedürfnis nach Mitgefühl – und nicht ohne das Grundbedürfnis nach Wasser«, so der Dalai Lama.

»Buddha war ein Grüner und auch ich bin ein Grüner.« Dalai Lama

Benevento Publishing
Benevento Publishing

Und er betont: »Unabhängig davon, ob wir einer Religion angehören oder nicht, haben wir alle eine elementare und menschliche ethische Urquelle in uns. Dieses gemeinsame ethische Fundament müssen wir hegen und pflegen. Ethik, nicht Religion, ist in der menschlichen Natur verankert. Und so können wir auch daran arbeiten, die Schöpfung zu bewahren.«

Auch zum Klimawandel spricht der Dalai Lama Klartext: »Wir Menschen sind die einzige Spezies, welche die Kraft hat, unseren Planeten und sein Klima zu zerstören – oder noch zu retten. Buddha war ein Grüner und auch ich bin ein Grüner.“ Lächelnd fügt er hinzu: »Als Buddhist glaube ich an die Wiedergeburt und will schon deshalb auf einem schönen und lebenswerten Planeten wiedergeboren werden.«

»Wer gut sterben will, muss vorher gut leben.« Dalai Lama

Und was weiß der 90-Jährige über gutes Sterben, nach dem wir alle streben? Ganz einfach: »Wer gut sterben will, muss vorher gut leben«, schreibt er in einem Vorwort zum »Tibetischen Totenbuch«. Das sind doch alles »Kalendersprüche«, wird ihm oft vorgeworfen. Wer sagt denn, dass »Kalendersprüche« grundsätzlich falsch sind?

Noch vor wenigen Jahren war der Dalai Lama auf der halben Welt gegenwärtig. Er hielt Reden vor Zehntausenden, gab Interviews, wurde von Staatschefs empfangen. Mittlerweile lebt er eher zurückgezogen in seinem nordindischen Exil in Dharamsala, am Rande des Himalaya. Dreimal pro Woche empfängt er dort Besucher, eben erst eine Delegation indischer Parlamentarier.

Noch immer kleben weltweit auf unzähligen Autos Solidaritäts-Aufkleber mit der Schrift »Free Tibet«. Hollywood hat zwei Filme über ihn gedreht, seine Bücher sind Weltbestseller. Aber aus Angst vor der chinesischen Führung trauen sich immer weniger westliche Politiker, ihn noch zu empfangen oder zu besuchen.

Der Dalai Lama traf in diesen Tagen die vielleicht wichtigste Entscheidung seines Lebens: „Ich bekräftige, dass die Institution des Dalai Lama fortbestehen wird“. Davor hatte er sich mit der tibetischen Exilregierung, dem Exilparlament, sowie führenden Buddhisten der Himalaya-Region, der Mongolei, der russischen Föderation sowie Festlandchinas lange beraten. Diese Entscheidung war schon deshalb schwierig, weil die kommunistische Partei Chinas den Anspruch erhebt, diese Nachfolge in ihrem Sinn zu regeln. Dieser Anspruch ist absurd: Eine atheistisch-kommunistische Partei will nicht nur die Geburtenregelung in ihrem Land bestimmen, sondern auch die Wiedergeburten-Regelung!

Für den Dalai Lama war schon immer klar, sollte es einen Nachfolger geben, dann kommt er aus»dem freien Westen«. Es könnte, so versicherte er mir schon vor 20 Jahren, »auch eine Frau sein.« Der Dalai Lama steht in diesen Tagen wohl vor der wichtigsten Entscheidung seines Lebens.

Deshalb scheint vielen auch die Geschichte des Dalai Lama tragisch und traurig. Er habe, schrieb jüngst »Die Zeit«, zwar die geistige Welt für sich gewonnen, aber seine Heimat Tibet schon lange verloren. Wirklich?

Sein großes Vorbild für eine gewaltfreie Politik war und ist Mahatma Gandhi. Auch Gandhi habe sich in Geduld üben müssen, bis sein Land frei vom kolonialistischen England war, so der Dalai Lama. Daraus zieht er seine Hoffnung für die Zukunft Tibets und für die Zukunft einer besseren Welt.

»Geduld ist auch eine ökologische Tugend«, hat er mir oft gesagt. Er hoffe auf die chinesische Jugend und auf die 400 Millionen praktizierenden Buddhisten in China. Der chinesische Kommunismus leidet für ihn an einem »riesigen geistigen Vakuum«.

Neben dem Schicksal seiner tibetischen Heimat treiben den Dalai Lama zwei globale Fragen bis an sein Lebensende um: Wie schaffen wir eine Welt ohne Atomwaffen und wie retten wir das Weltklima?

Bigi Alt | Der Dalai Lama und Franz Alt
Bigi Alt | Der Dalai Lama und Franz Alt

Einmal hat er mir erzählt, er habe geträumt, dass er 113 Jahre alt werde. »Wollen Sie das wirklich?«, fragte ich ihn. Seine Antwort: »Ja, dann kann ich noch lange die Chinesen ärgern.« Das ist praktizierte und intelligente »Feindesliebe«. Seine Hoffnung ist, dass das 21. Jahrhundert trotz aller aktuellen Krisen und Kriegen ein Jahrhundert des Friedens, des Dialogs wird.

»Wir müssen endlich lernen, dass wir alle Brüder und Schwestern sind«, sagt er. »Diese Strategie der Gewaltfreiheit und der Ehrfurcht vor dem Leben sind das Geschenk Tibets an die Welt.«

Happy Birthday, dear friend! And a long life for Your Holiness!


Dalai Lama – Schicksalsjahre eines Auserwählten | Was für ein Mensch steckt hinter dem 14. Dalai Lama? Moment mal – es gab schon andere Dalai Lamas? Und sogar dreizehn zuvor? Kein anderer als Tenzin Gyatso – wörtlich Ozean der Weisheit – erlangte derart Bekanntheit .

  • Das Erste ab sofort in der Mediathek >> und
  • TV / Livestream – 06.07.2025 | 23:15 Uhr | DasErste
  • TV-Wiederholungen – 07.07.2025 | 03:25Uhr | DasErste
Quelle

Franz Alt 2025 / Erstveröffentlichung Spiegel Online – 06. Juli 2025

Diese Meldung teilen

‹ Zurück zur Übersicht

Das könnte Sie auch interessieren