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Deutscher Kulturpreis 2019 für Dennis Meadows

Der Deutsche Kulturpreis 2019, sowie der Ehrenpreis des Deutschen Kulturpreises wurden am 24. Mai 2019 in der Allerheiligen-Hofkirche der Residenz München verliehen. Schirmherr des Festaktes ist Ministerpräsident Dr. Markus Söder.

Die Dankesrede von Dennis L. Meadows

„Es ist eine große Überraschung und eine wunderbare Ehre, von der Stiftung Kulturförderung mit dem Deutschen Kulturpreis 2019 ausgezeichnet zu werden.

Wir sind hier in der Allerheiligen-Hofkirche der Residenz in München. Dieses Gebäude wurde in Zeiten einer Monarchie gebaut, einer Diktatur zerstört und in Zeiten einer Demokratie wieder restauriert – alles in weniger als 180 Jahren. König Ludwig I., Adolf Hitler, Bundeskanzler Helmut Kohl, jeder von ihnen erwartete, dass seine Regierungsform auf lange Zeit Bestand haben würde, aber die Übergänge waren dann doch sehr schnell.

Ich schätze dieses wunderschöne Gebäude; es kann uns daran erinnern, dass die Bedingungen, die man für langlebig hält, sich sehr schnell ändern können. Ich bin sicher, dass dieses Gebäude und der Freistaat Bayern auch in 100 Jahren noch bestehen werden. Aber was für ein Leben werden die Bayern dann haben? Welche Regierungsform werden sie im 22. Jahrhundert ausüben? Was können die Menschen heute tun, um die Antworten auf diese Fragen morgen attraktiver zu machen?

Seit fast 50 Jahren arbeite ich als Systemwissenschaftler, um solche Fragen zu beantworten. Meine berufliche Arbeit, meine Veröffentlichungen und mein Unterricht wurden unter dem Deckmantel der Wissenschaft durchgeführt, aber im Wesentlichen waren sie alle mit Kultur verbunden.

Ich verstehe das Wort Kultur in einem sehr weiten Sinne. Für mich ist Kultur das Netz von Mythen, Erwartungen, Zielen, Kunst und Verhaltensnormen, die eine humane Gesellschaft vereinen und die Entscheidungen prägen, die ihre Entwicklung in die Zukunft bestimmen.

Im Jahre 1999 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen meiner Essays; dessen englischer Originaltitel hieß: „It is too late for Sustainable Development“. Was ich damit meinte war: Viele Leute sagen zwar, dass sie gerne mehr Nachhaltigkeit sehen möchten. Aber sie reflektieren nicht, was das eigentlich bedeuten würde; die nachhaltige Entwicklung, die sie suchen, ist physisch nicht möglich.

Wenn man sich nämlich näher ansieht, wie der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ meist gemeint ist, impliziert er eine Zukunft, in der die Reichen das behalten, was sie heute haben, und alle anderen auf ihr Niveau aufsteigen. Auch verstehen wohl nur wenige derer, die sich für strikte Nachhaltigkeit stark machen, dass sie persönlich viel aufgeben müssten, um dieses Ziel zu erreichen – und globale Umverteilung ist derzeit nicht im Angebot. Realistischer ist doch, dass eine endliche Erde bei strikter Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit nur ein bis zwei Milliarden Menschen tragen kann. Bei fünf Milliarden kann man sich noch die Situation vorstellen, dass die Welt nur wenige Reiche und viele Arme hat. Aber die Vorstellung, dass bald neun Milliarden Menschen auf unserem Planeten nach westlichen Maßstäben nachhaltig und gerecht leben können, ist reine Fantasie.

In meinem Essay benutzte ich zur Erläuterung unserer derzeitigen Situation eine Metapher aus Hans Christian Andersens Fabel, „Des Kaisers neue Kleider“. In dieser Geschichte tut der gesamte Hofstaat so, als würde er die neuen Kleider des Kaisers bewundern, die es aber in Wirklichkeit gar nicht gibt. Zwei Betrüger hatten dem Kaiser vorgeschwindelt, die Kleider seien nicht wie üblich und könnten nur von Personen gesehen werden, die ihres Amtes würdig seien. Die kollektive Fantasie des Hofes wurde lange Zeit aufrechterhalten, bis eines Tages ein Kind auf der Straße rief: „Der Kaiser ist ja nackt!“

Auch wir selbst stehen jetzt kurz vor dem Eingeständnis, dass unser gemeinsamer Glaube an die allseitigen Vorteile des materiellen Wachstums eine Fantasie, ein Schwindel ist. In Andersens Geschichte tat der Kaiser weiterhin so, als ob die Kleidung existierte, weil er die Schande, falsch zu liegen, nicht akzeptieren wollte. Ich hoffe, unsere Führungskräfte werden ehrlicher sein.

Vor 20 Jahren schrieb ich: Wenn es tatsächlich schon zu spät für nachhaltige Entwicklung ist, dann müssen wir eine Reihe von alternativen, langfristigen Visionen entwickeln, die unsere Spezies, die Menschen auf dem Planeten Erde, vereinen und in ihren Entscheidungen leiten können. Die ‚Religion‘ der Marktwirtschaftler ist für diese Aufgabe eindeutig unzureichend. Wir brauchen eine neue Garnitur von Paradigmen, die uns vor allem helfen, gewalttätige Konflikte zu vermeiden, Ungleichheiten zu verringern und die wichtigen Funktionen unserer natürlichen Umwelt durch einen Übergang zu einem viel niedrigeren Bevölkerungs- und Konsumniveau zu erhalten.

Die wichtigste politische Aufgabe heute ist die sanfte Umlenkung der Gesellschaft – weg von ihren bisherigen Zielen. Diejenigen, die die zerstörerischen Veränderungen der Welt weiter vorantreiben, setzen ihren eigenen Erfolg mit immer mehr gleich – mehr Geld, mehr Macht, mehr Energie, mehr Geschwindigkeit, mehr materieller Reichtum. Sie haben uns gezwungen, sie zwingen uns, in einer Fantasiewelt zu leben, die auf einem globalen Betrugssystem basiert.

Natürlich benötigen die Milliarden der ärmsten Menschen mehr Energie und Materialien, um ein menschenwürdiges Leben zu haben – und wir sollten ihnen dabei helfen. Aber die Armen sind nicht die Quelle der großen globalen Probleme unserer Zeit. Der Klimawandel, die Zerstörung des Ozeans, das Artensterben und andere existenzielle Probleme kommen vor allem von den Reichen – von uns. Und wir haben nicht mehr viel Zeit, das zu ändern und die Probleme zu lösen.

In seinem neuen Buch Upheaval schreibt Jared Diamond, dass eine 49-prozentige Wahrscheinlichkeit bestünde, dass die Welt, wie wir sie kennen, bis 2050 enden wird. Diamond erkennt damit eine Aussage, die unsere eigenen Computerprojektionen bereits 1972 illustriert haben. Aber das würde immerhin noch eine 51-prozentige Chance auf ein besseres Ergebnis lassen.

Wenn wir lernen könnten, gesellschaftlichen Fortschritt als zunehmende Wertschätzung und mehr Meisterschaft in unseren kulturellen Fähigkeiten – wie Musik, Literatur, Kunst, Tanz, Theater, Religion, Philosophie – zu sehen und wenn wir uns mehr für soziale Entwicklung statt für physische Expansion entschieden, dann könnte es für uns attraktivere Optionen geben. Ihre tatsächliche Verwirklichung liegt, so denke ich, im Bereich der Kultur, nicht der der Wissenschaft.

Kultur bestimmt unsere Normen für akzeptables Verhalten, unsere Erfolgsindikatoren, unsere Zeithorizonte, unsere Beziehungen untereinander und zur Natur, unsere Entscheidungen zwischen Anspruch und Verpflichtung, unsere Präferenzen zwischen Ordnung und Freiheit. Die Verbesserung unserer Kultur ist für das Überleben der Menschheit daher viel dringender als die Verbesserung unserer Wissenschaft.

Die laufende Debatte in der USA über den Klimawandel ist ein Beispiel dafür: Das Argument scheint zwischen denen zu liegen, die an die wissenschaftlichen Beweise glauben, dass der Klimawandel eine existenzielle Bedrohung darstellt, und jenen, die dies nicht tun. Doch in Wirklichkeit gibt es nur wenig Meinungsverschiedenheiten über die Fakten. Der Streit besteht hauptsächlich zwischen denen, die sich am meisten um das langfristige Wohlergehen der Menschheit kümmern, und jenen, die sich am meisten um ihren eigenen kurzfristigen Gewinn kümmern. Die meisten Klimaleugner verstehen sehr wohl, dass menschliche Aktivitäten das Klima schädigen. Sie finden es jedoch einfach weniger peinlich, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu leugnen, als zuzugeben, dass es ihnen schlicht egal ist, durch ihr Verhalten das Wohlergehen anderer zu beeinträchtigen.

Leider gibt es keine wissenschaftliche Forschung, die die teils unsägliche Klimadebatte überwinden könnte. Denn keine neue wissenschaftliche Erkenntnis wird einen egoistischen Menschen dazu bringen, sich mehr um die Zukunft als um sich selbst zu kümmern – diese wesentliche Veränderungschance liegt nur im Bereich der Kultur.

In dem Maße wie das Verständnis über unsere missliche globale Lage wächst, nimmt die Frustration über die aktuellen Formen des Regierens zu. Dies führt jedoch zu einem Missverständnis des Problems. Es gibt keine Regierungsform, die zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist, wenn sie nur offen für den Bürger ist und einen langfristigen Horizont einbezieht. Und umgekehrt gibt es keine Regierungsform – keine Monarchie, keine Demokratie, keine Oligarchie, kein Autoritarismus, Totalitarismus oder Tribalismus – die zum Erfolg führt, wenn sie verschlossen und kurzsichtig ist – unabhängig davon, welche Veränderungen diese Regierungen in Technologie und Wirtschaft bewirken können.

Eine wichtige politische Frage ist heute: Wie können die Vorteile einer liberalen, offenen Gesellschaft ohne die Nachteile einer Wahldemokratie realisiert werden, die ihre Vertreter zwingt, sich an die kurzfristigen Ziele derjenigen zu halten, die sie wählen?

Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Union, hat sich einmal auf diese Frage bezogen, als er sagte: „Wir wissen alle, was zu tun ist. Wir wissen nur nicht, wie wir wiedergewählt werden sollen, nachdem wir es getan haben“. Solange die Kultur eines Volkes dem Einzelnen und den Regierenden nicht einen längeren Zeithorizont und mehr Aufmerksamkeit für das Wohlergehen anderer gibt, gibt es keine attraktive Lösung für das Juncker-Dilemma.

In den letzten fünf Jahrzehnten habe ich mehrere deutsche Auszeichnungen erhalten: für Umweltbildung, für den Naturschutz, für den Frieden. Der heutige Preis ist jedoch der wichtigste von allen. Denn ohne einen Wandel in unserer Kultur wird es kein wirkliches Interesse an Umweltbildung, keinen nachhaltigen Naturschutz, keinen dauerhaften Frieden geben.

Die Geschichte hat gezeigt, dass große Denker einen enormen Einfluss auf die Kultur einer Gesellschaft haben können. Albert Einstein, Karl Marx und Albert Schweitzer gehörten zu den großen Denkern, deren Ideen mich in meiner Jugend inspirierten. Sie haben zu den konzeptionellen Grundlagen des vergangenen Jahrhunderts beigetragen. Wir brauchen jetzt jedoch unterschiedliche, andere Grundlagen, um das jetzige Jahrhundert zu bestehen: Wir brauchen den Wunsch nach Stabilität statt nach Wachstum, den Wunsch nach Resilienz statt nach maximaler Effizienz, den Wunsch nach Qualität statt nach Quantität, den Wunsch, der Gesellschaft zu dienen, anstatt persönliches Vermögen anzuhäufen.

Insbesondere müssen wir diejenigen ehren, die mehr Selbstkenntnis haben, als diejenigen, die mehr materiellen Reichtum haben. Unsere zukünftigen Helden sollten diejenigen sein, die danach streben, unseren Planeten langfristig zu erhalten, und nicht diejenigen, die danach streben, sich kurzfristig zu bereichern. Unsere zukünftigen Helden sollten diejenigen sein, die Verhandlungen und Kompromisse als Methoden zur Beilegung von Streitigkeiten fördern, und nicht diejenigen, die Konfrontation und Gewaltandrohung fördern und betreiben.

Abschließend möchte ich daher dazu ermutigen, die Menschen zu finden und zu belohnen, die diese neuen Grundlagen befördern können. Obwohl sie zahlreich sein mögen, sind sie noch nicht überall zu hören. Ich ermutige zu wirksameren Bemühungen, sie zu finden, und unterstütze die Bemühungen die helfen, die neue Kultur zu schaffen, die wir alle brauchen.“

stiftung-kulturfoerderung.de | Deutscher Kulturpreis 2019 | Dennis L. Meadows | Verfasser der nachhaltigen Studie „Die Grenzen des Wachstums“Deutsche Verlags-Anstalt (1972) | Taschenbuch – 1. Januar 2000Hirzel Verlag | Taschenbuch – 3. September 2015
Quelle

Dennis Meadows 2019 |  Aus dem Englischen übersetzt von Udo E. Simonis 2019 | Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB)

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