„Flüchtlingskrise“ und „Willkommenskultur“
OBS analysiert die Flüchtlingsberichterstattung und dokumentiert erhebliche Defizite bei den „Mainstreammedien“.
Im September 2015 schrieb die Neue Zürcher Zeitung über die Flüchtlingsberichterstattung deutscher Journalisten: „In moralischen und emotionalen Ekstasen steigerten sich die deutschen Medien mit wenigen Ausnahmen in einen Überbietungswettbewerb um Empathie und Willkommenseuphorie hinein, ohne Gedanken an den Überdruss, den derlei beim Leser erzeugen kann.“
Hatte dieser neutrale Beobachter Recht? Gab es im Wahrnehmungsfeld der deutschen Journalisten einen blinden Fleck, der ihre Sicht dermaßen verzerrt hat? Diese Frage stand am Anfang einer Studie über die Flüchtlingsberichterstattung deutscher Informationsmedien. Autor der OBS-Studie ist der über Fachgrenzen hinaus renommierte sowie international profilierte Wissenschaftler Prof. Dr. Michael Haller (Hamburg, Leipzig).
Ein zentraler Befund der laut OBS medienkritischen „Pionierarbeit“ ist, dass große Teile der Journalisten ihre Berufsrolle verkannt und die aufklärerische Funktion ihrer Medien vernachlässigt haben. Studienleiter Prof. Dr. Michael Haller konkretisiert: „Statt als neutrale Beobachter die Politik und deren Vollzugsorgane kritisch zu begleiten und nachzufragen, übernahm der Informationsjournalismus die Sicht, auch die Losungen der politischen Elite“. Ihn interessierte das Politiker-Gezänk in Berlin weit mehr als die Sorgen und Ängste weiter Teile der Bevölkerung – mehr als die Nöte der nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge und Asylbewerber, mehr auch als die Probleme der Organisatoren und Helfer vor Ort, so ein wichtiges Ergebnis der innovativen Untersuchung. Erst nach der Silvesternacht 2015/16, so Michael Haller weiter, „entdeckten die Medien die reale Wirklichkeit hinter der wohlklingenden Willkommensrhetorik“. Doch da war der öffentliche Diskurs längst weitgehend von der Tagesordnung verschwunden. Andersdenkende sahen sich übergangen oder ausgegrenzt. Statt integrativ zu wirken, hatte der Informationsjournalismus die Frontenbildung verschärft – so ein weiteres Ergebnis.
„Die Flüchtlingskrise in den Medien“ ist die bislang umfassendste und methodisch aufwendigste Untersuchung zum Thema. Weit über 30.000 Zeitungsberichte wurden erfasst, Längsschnittanalysen zurück bis ins Jahr 2005 unternommen, die Berichte der Newssites wie auch der Leitmedien minutiös auseinandergenommen und akribisch analysiert. Die Befunde wurden nach Maßgabe wissenschaftlich gesicherter Modelle über die Funktion des Journalismus in der Demokratie beleuchtet und interpretiert.
Der Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung, Jupp Legrand, hebt hervor, dass im Gegensatz zu vielen „öffentlich geäußerten Mutmaßungen oder vorschnellen Urteilen die Ergebnisse der Studie auf einer intensiven Auseinandersetzung mit Quellen aufbauen und auf der kritischen Analyse breiter Daten fußen“. Gleichzeitig warnt die Stiftung davor, die in dieser Studie aufgezeigten Fehlleistungen für eine generelle Journalistenschelte zu missbrauchen. „Viele Journalisten“, urteilen Haller und Legrand, „haben herausragende Berichte geschrieben, viele Medien haben sich um präzise, aktuelle Berichterstattung gekümmert“.
Was die methodisch anspruchsvolle Erhebung aber aufzeigt, reiche tiefer: „Ihre Ergebnisse verweisen auf eine Sinn- und Strukturkrise der sogenannten Mainstreammedien“, analysiert Michael Haller und stellt fest: „Die von den Journalisten beschriebene Wirklichkeit ist sehr weit entfernt von der Lebenswelt eines großen Teils ihres Publikums“. Die Befunde belegen die große Entfremdung, die zwischen dem etablierten Journalismus und Teilen der Bevölkerung entstanden ist.
OBS-Geschäftsführer Legrand verknüpft mit der Publikation der Studienergebnisse die Hoffnung, „dass die Ursachen des Bruchs im öffentlichen Diskurs weiter untersucht und bewertet werden“. Denn, so auch Forschungsleiter Haller, „das Anliegen dieser Studie dreht sich um die Frage, wie gesellschaftliche Verständigung wieder gelingen kann“.