Klimawissenschaftler schlagen Alarm
Offener Brief: Keine Parteigrenzen für die Klimapolitik – Ein Plädoyer von Scientists for Future für eine überparteiliche Klimapolitik innerhalb der planetaren Grenzen.
In Deutschland sind zwei grundgesetzlich bestimmte Aufgaben der Bundesregierung die Abwendung von Schaden (Artikel 56 & 64) sowie der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Artikel 20). Ob aus Kalkül oder wegen immer neuer ad hoc-Prioritäten (COVID, Russlands Krieg, Energieverteuerung, Inflation, Wirtschaftsflaute) geht Klimapolitik im Tagesgeschäft unter und wird stattdessen zum Schlachtfeld im Kulturkampf. Der nicht mehr in die Zeit passende Kohleabbau in Ostdeutschland, die unsägliche Raserei auf den Autobahnen oder das überfällige Ausmustern von Gasheizungen ruft Populisten auf den Plan, die nörglerisch den Diskurs bestimmen. Anstatt die Wähler ernst zu nehmen, die Konsequenzen der Erderhitzung – auch die finanziellen und wirtschaftlichen – darzulegen und angemessene, faire und umfassende Lösungen vorzulegen, verharmlosen die mittigen Parteien das Problem mit unterdimensionierten Nebensächlichkeiten und versäumen die unvermeidliche grüne Transformation der Wirtschaft.
Es ist fahrlässig, die sich beschleunigende Klimakatastrophe zu ignorieren, denn was heute vernachlässigt wird – wie ein nicht repariertes leckes Dach – kostet morgen unausweichlich ein Mehrfaches. Da bezahlt werden muss, ist es eine Frage der Generationengerechtigkeit, ob die Kosten von den Nutznießern und Verursachern getragen werden, oder von Menschen, die heute keine Stimme haben, weil sie noch gar nicht geboren sind. Eine offensichtliche Krise zu verschleppen ist nicht nur ungerecht, wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat. Darüber hinaus gefährdet es die Demokratie, weil sie das Vertrauen sowohl in die Problemlösungskapazität der Bundesregierung als auch in die Seriosität der Opposition untergräbt.
Risikomanagement ist eine vordringliche politische Aufgabe, weshalb Wissenschaftler für eine Versachlichung der Klimadiskussion und für überparteiliche Zusammenarbeit werben. Unser Plädoyer wurde am 01.09.2023 veröffentlicht.
Die Bundesregierung bezeichnet ihre Klimapolitik als „ambitioniert“. Der Klimakrise angemessen ist sie jedoch nach wissenschaftlicher Einschätzung nicht, wie zuletzt der Expertenrat für Klimafragen (ERK) hervorhob. Aber auch die Vorschläge der parlamentarischen Opposition halten einer wissenschaftlichen Prüfung nicht stand.
Auf Anfrage der Tagesschau zu einem offenen Brief zur Klimapolitik unter dem Hashtag #UnsereGenerationUnserJob hatte die Bundesregierung erklärt, sie verfolge eine „ambitionierte Klimaschutzpolitik”1. Wir erkennen an, dass die Regierung, verglichen mit früheren Regierungen, eine aktivere Klimapolitik betreibt. Die erdgeschichtliche Dimension der auf uns zukommenden Klimakrise ist den Parteien der Regierung wie der Opposition aber offenbar noch nicht bewusst.
Aus Sicht der Klimawissenschaften ist die Lage kritisch. Die wissenschaftlichen Daten und die weltweiten Nachrichten zeigen tagtäglich die Gefahren der sich verschärfenden Klimakrise. Wir sehen die Lebensgrundlagen für Mensch und Natur in höchstem Maße als gefährdet an und sind daher tief besorgt. Unserer Einschätzung nach genügen die bisherigen Maßnahmen der Regierung nicht. Mit diesem Statement schlagen wir vor, die Parteipolitik um ein überparteiliches Element zu erweitern.
Der Schutz unserer Lebensgrundlagen verlangt entschlossenere Anstrengungen. Alle im Bundestag vertretenen Parteien außer der AfD erkennen die Realität der menschengemachten Klimakrise und die Notwendigkeit fairer, internationaler Lösungen formal an. Mit der Ratifizierung des Pariser Klimaabkommens sind alle zustimmenden Parteien der Regierung und der Opposition gemeinsam für dessen Umsetzung verantwortlich.
Als Basis für eine überparteilich koordinierte, angemessene und ambitionierte Klimapolitik schlägt „Scientists for Future“ drei Kriterien vor:
1) Begrenzte Verschmutzung / Treibhausgasbudget: Die deutsche Politik folgt der Klimaforschung. Sie bekennt sich zu einem begrenzten Anteil Deutschlands an den verbleibenden globalen Emissionen und macht diesen Anteil zum Ausgangspunkt der Klimapolitik. Insbesondere wird das Klimaschutzgesetz im Einklang mit diesem deutschen Restbudget weiterentwickelt. Somit wird die Verschmutzung unserer Lebenswelt durch Treibhausgase reduziert und perspektivisch beendet.
Eine Einrechnung von CO2-Entzug aus der Luft (Negativ-Emissionen) befreit nicht von der Pflicht zu rechtzeitigem Klimaschutz. Wenn solche Maßnahmen eingesetzt werden, sind sie absehbar umsetzbar und ökologisch vertretbar. Dazu gehört es, sowohl heute als auch später anfallende Kosten bereits bei der Einrechnung zu berücksichtigen (beispielsweise im Haushalt, per Rücklage oder per Sonderfonds).
Internationale Energiepartnerschaften werden nur eingerechnet, wenn Partner nachweislich bereit stehen und das Finanzbudget dafür eingeplant ist.
2) Fairness / internationale Anerkennung: Das deutsche Budget ist in dem Sinne fair berechnet, dass es auch international als akzeptabel angesehen werden kann.
3) Verantwortung: Wenn die beschlossenen Klimaziele verfehlt werden, bekennt sich Deutschland zu seiner Verantwortung und beteiligt sich anteilig an den weltweit entstehenden Schäden. Je nach Umfang des Verfehlens der Klimaziele kann dies sehr hohe Kosten in den kommenden Dekaden für die Gesellschaft bedeuten.
Eine Initiative für ein überparteiliches und gesamtgesellschaftliches Handeln auf dieser empirisch gesicherten und zugleich fairen Basis ist nicht nur erforderlich, es wird zudem auf andere Länder ausstrahlen und Menschen auf historisch beispiellose Weise ermutigen, die Herausforderung der Klimakrise gemeinsam anzugehen.
Im Einzelnen ist festzustellen:
- Das Klimaschutzprogramm 2023 entspricht nicht den Anforderungen an ein Klimaschutzprogramm gemäß Klimaschutzgesetz. Daraus und aus den europäischen Vorgaben zur Lastenteilung ergibt sich “unmittelbarer und erheblicher Handlungsbedarf” (1).
- Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundesregierung zum Ausrichten auf ein Treibhausgas-Budget verpflichtet. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) und der Expertenrat für Klimafragen (ERK) empfehlen, die Klimapolitik an den Erkenntnissen der Klimaphysik und damit an einem maximalen Treibhausgas-Budget auszurichten (1,2,3). Der SRU hat einen Rechenweg ausgearbeitet und ein konkretes – großzügig berechnetes – Budget begründet und empfohlen (2). Alternative Wege müssen ebenso wohlbegründet sein. Der gewählte Weg muss transparent gemacht werden, um ihn unter physikalischen und politischen Gesichtspunkten diskutieren zu können
- Die im Klimaschutzgesetz aufgestellten Ziele genügen nicht für einen ausreichenden, angemessenen und gerechten Beitrag zur Einhaltung der Klimaziele von Paris, wie der SRU darlegt (2).2 Der im Klimaschutzgesetz vorgeschlagene Maßnahmenkatalog entspricht etwa 2 °C globaler Erwärmung (bei 83% Wahrscheinlichkeit, die Erwärmung hierauf zu begrenzen) (2). Ab 1,5 °C steigen die Risiken und Schäden stark an (4).
- Negative Emissionen sind gemäß SRU derzeit weitgehend spekulativ. Sie sind daher vorerst nicht in einem Restbudget zu verrechnen und aktuell nur für unvermeidbare Restemissionen vorzusehen (2). Unabhängig davon ist es wichtig, die Weichen für negative Emissionen zu stellen, um langfristig in einen Bereich innerhalb der planetaren Grenzen zurückkommen zu können (11).
- Laut Beschluss des Bundesverfassungsgerichts dürfen Negativemissionstechnologien aufgrund ihrer Unsicherheiten nicht in Emissionsminderungspfade einbezogen werden, da damit Risiken und Freiheitseinbußen unzulässig auf künftige Generationen verlagert werden (9, 10).
- Für einen zuweilen ins Spiel gebrachten Budgetzukauf aus dem Ausland fehlen bislang Klimapartnerschaften sowie entsprechende Haushaltstitel (2).
- Im Jahr 2022 sanken die Treibhausgas-Emissionen gegenüber dem Vorjahr um rund 15 Mio. t CO2-Äquivalente (1,9 Prozent, Umweltbundesamt / ERK) (3). Um das Klimaschutzgesetz einzuhalten, dürfte mindestens das Dreifache erforderlich sein (5).
- Der Rückbau des fossilen Kapitalstocks und der Aufbau von nicht-fossilen Alternativen verlief laut ERK auch im Jahr 2022 deutlich langsamer als in Klimaneutralitätsszenarien vorgesehen (3).
- Wie der ERK feststellt, wird das Klimaschutzgesetz von verschiedenen Sektoren nicht eingehalten (Verkehrssektor 2021, 2022; Gebäudesektor 2020-2022). In anderen Sektoren (Energie, Industrie), wird das Klimaschutzgesetz nur knapp und teilweise wahrscheinlich nur durch temporäre Sondereffekte (kriegsbedingter Produktionsrückgang / warmer Winter / verteuerte Energiepreise) eingehalten (3).
- Für die Lage im Sektor der CO2-Senken, also Landnutzung und Forstwirtschaft, legt das Klimaschutzgesetz Zielwerte für Emissionssenken für die Jahre 2030, 2040 und 2045 fest, die nach aktueller Abschätzung in keinem dieser Jahre erreicht werden (6)
- Den gesetzlichen Steuerungsmechanismus über die Vorlage von Sofortprogrammen hat die Bundesregierung laut ERK bisher nur mit – im Verkehr erheblichen – Einschränkungen umgesetzt (3).
- Die vorgeschlagenen technischen Eingriffe in die Strahlungsbilanz der Atmosphäre führen nach heutigem Kenntnisstand zu unkontrollierbaren Effekten, sie bergen die Gefahr der Militarisierung und es ist nicht erkennbar, wie sie durch globale Abkommen stabilisiert werden könnten (7).
- Wir empfehlen dringend, den Verlust der Biodiversität mit gleicher Dringlichkeit zu verlangsamen. Alle planetaren Grenzen müssen eingehalten werden (8).
Aufgrund der enormen sachlichen, zeitlichen und politischen Herausforderung braucht es die gemeinsame Entschlossenheit der Parteien, der Interessengruppen und der Gesellschaft, um einen überzeugenden Entwicklungsplan für ein zukunftsfähiges Deutschland aufzustellen und umzusetzen.
Grundlage hierfür sind die objektiven Maßstäbe eines deutschen Treibhausgas-Budgets, das zudem fair, im Sinne internationaler Akzeptanz, ist. Um die Gesellschaft als Ganzes bei den nötigen Transformationen mitzunehmen, empfehlen wir dringend, auf eine sozial gerechte Verteilung der Lasten zu achten (11).
Wir empfinden es als bestürzend und unverständlich, wie Vertreterinnen oder Vertreter der Parteien – sei es in der Regierung, sei es in der Opposition – die gegenwärtige Klimapolitik als ausreichend oder gar als überambitioniert bezeichnen können.
- Die Hauptautorinnen und Hauptautoren finden Sie hier
1 https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/aufruf-klimaschutz-103.html
“Offene Briefe nehme man zur Kenntnis, kommentiere sie aber nicht”, teilte ein Regierungssprecher
auf Anfrage mit. “Die Bundesregierung verfolgt eine ambitionierte Klimaschutzpolitik”, so der
Sprecher. Dazu hätten sich Bundeskanzler Scholz und die Minister immer wieder öffentlich geäußert,
zuletzt bei der Regierungsbefragung am 29. März.“
2 Da die Regierung sagt, ihre Politik verfolge den “1,5°C-Pfad”, bezieht sich diese Feststellung auf das
1,5°-Limit globaler Erderwärmung.
Literatur
- (1) Expertenrat für Klimafragen (2023): Stellungnahme zum Entwurf des Klimaschutzprogramms 2023. Gemäß § 12 Abs. 3 Nr. 3 Bundes-Klimaschutzgesetz.
- (2) Wie viel CO2 darf Deutschland maximal noch ausstoßen? Fragen und Antworten zum CO2-Budget. Stellungnahme des Sachverständigenrates Umweltfragen (SRU) vom 15.06.2022
- (3) Prüfbericht zur Berechnung der deutschen Treibhausgasemissionen für das Jahr 2022.Expertenrat für Klimafragen (ERK). 17. April 2023
- (4) Global Warming of 1.5 °C. An IPCC special report on the impacts of global warming of 1.5 °C above pre-industrial levels and related global greenhouse gas emission pathways, in the context of strengthening the global response to the threat of climate change, sustainable development, and efforts to eradicate poverty. Geneva: IPCC 2018. https://www.ipcc.ch/sr15/ Berechnung der Treibhausgasemissionsdaten für das Jahr 2022 gemäß Bundesklimaschutzgesetz. Begleitender Bericht. Kurzfassung vom 15. März 2023. Umweltbundesamt
- (5) Pressemitteilung des Umweltbundesamtes 11/2023 vom 15.03.2023: “Treibhausgasemissionen sanken 2022 um 1,9 Prozent” https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/uba-prognose-treibhausgasemissionen -sanken-2022-um
- (6) Projektionsbericht der Bundesregierung 2023 https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/11740/publikationen/2023_0 8_21_climate_change_39_2023_projektionsbericht_2023_0.pdf
- (7) Biermann, F., Oomen, J., Gupta, A., Ali, S.H., Conca, K., Hajer, M.A., Kashwan, P., Kotzé, L.J., Leach, M., Messner, D. Okereke, C., Persson, Å., Potocnik, J., Schlosberg, D., Scobie, M., VanDeveer, S.D. (2022) – Solar geoengineering – The case for an international non-use agreement. WIREs Clim Change. 2022;13:e754, https://doi.org/10.1002/wcc.754
- (8) WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2023): Gesund leben auf einer gesunden Erde. Berlin: WBGU.
- (9) BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021 – 1 BvR 2656/18 –, Abschnitt C III, https://www.bundesverfassungsgericht.de/e/rs20210324_1bvr265618.html
- (10) Ekardt, F. , Heß, F. , & Wulff, J. (2022) – BVerfG-Klima-Beschluss: Folgen für Bund, EU, Länder und Kommunen. Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht. 2021, Jahrgang 19, Ausgabe 3, pp. 212 – 227.
- (11) Wissenschaftsplattform Klimaschutz (2023): Lücken in der deutschen Klimapolitik – Herausforderungen für eine wirksame Langfriststrategie. Stellungnahme der Wissenschaftsplattform Klimaschutz. Berlin https://www.wissenschaftsplattform-klimaschutz.de/files/WPKS_Stellungnahme-Luecken-23.
- Die Hauptautorinnen und Hauptautoren finden Sie hier
Quelle
Scientists für Future / Wissenszentrum 2023 | Redaktion „SOLARIFY“ 2023