Nach der Europawahl: Grüne am Scheideweg
Nach dem Absturz bei der Europawahl müssen die Grünen Antworten auf die Fragen geben, die die Leute umtreiben. Es geht auch darum, den Klimaschutz mit anderen Themen zu verbinden.
Was ist mit den Grünen los? Die Partei, die sich noch vor fünf Jahren anschickte, von der Öko- zur Volkspartei zu werden und deren Spitzenleute sich sogar Hoffnungen machten, ins Kanzleramt einzuziehen, ist in der Wählergunst gewaltig abgestürzt, und Besserung ist nicht in Sicht.
Die Parteiführung scheint bisher kein Rezept zu haben, wie man wieder mehr Rückhalt im Volk gewinnen könnte, während verschärfte Ampel-Kämpfe um den Haushalt 2025 das Image aller drei Regierungsparteien weiter beschädigen dürften. Die Lage ist gefährlich, nicht nur für die Grünen, sondern für die Bundesrepublik insgesamt.
Mit den Grünen droht die einzige politisch relevante Kraft abzuschmieren, die dem Klimaschutz jene Bedeutung zumisst, die ihm zukommt. Und das ausgerechnet in der kritischen Phase, in der sowohl die Schäden durch die Klimaveränderungen bereits offensichtlicher sind als auch die Zeit immer knapper wird, noch etwas gegen eine weitere Zuspitzung zu tun.
Die Grünen haben bei der Europawahl so stark verloren, wie es selbst pessimistische Stimmen in der Partei nicht erwartet hatten. Die Ökopartei unterbot ihre schlechten Umfragewerte sogar noch. Die Prozente fast halbiert, von 20,3 im Jahr 2019 auf 11,9 Prozent.
Selbst in einer Hochburg wie Baden-Württemberg, wo die Grünen den Ministerpräsidenten stellen und einmal für ein Drittel der Stimmen gut waren, sieht es auf dem dritten Platz hinter CDU und AfD und mit nur noch 13,8 Prozent kaum besser aus.
Die Wählerinnen und Wähler haben ein hartes Urteil gesprochen: Die Grünen machen ihren Job als Regierungspartei nicht gut. Und sie haben den Kontakt zur Stimmungslage der Wählerschaft verloren.
Viele junge Leute wählen jetzt rechts
Besonders hart muss die Ökopartei das Abschneiden bei der jungen Generation treffen. Die Grünen, in der Anfangszeit mal die Partei der aufmüpfigen Jugend per se, haben gerade hier am meisten Zustimmung eingebüßt. Die jungen Leute, die 2019 und bei der Bundestagswahl 2021 ihr Wahlkreuz noch weit überproportional bei den Grünen (und der FDP) machten, wählen jetzt mehrheitlich Union und AfD.
Können die Grünen diese Tendenz nicht korrigieren, ist ihr weiterer Abstieg vorprogrammiert. Im Extremfall droht ihnen eine dauerhafte politische Nebenrolle, so wie sie ihre Schwesterparteien in Frankreich oder Großbritannien spielen müssen.
Also, was tun? Grün-intern ist zu hören, man müsse die eigene, gute Politik besser „verkaufen“. Auch klarer herausstellen, dass es in der Ampel die SPD und vor allem die FDP sind, die grüne Politik unmöglich machen. Und die sozialen Netzwerke wie Tiktok besser nutzen, wo man der AfD zu lange das Feld überlassen hat.
Das allein dürfte kaum reichen, um die Wende hinzukriegen. Die Ansage, die vor allem vom linken Flügel kommt, wieder klarere Kante bei den urgrünen Themen wie dem sozialen Klimaschutz zu zeigen, ist zwar inhaltlich richtig, verspricht angesichts der von SPD-Kanzler Olaf Scholz gedeckten Bremserpolitik der FDP aber nur wenig Erfolg.
Durchsetzen könnten die Grünen als Ampel-Partei nichts davon, weder ein Tempolimit noch die Rücknahme des verwässerten Klimaschutzgesetzes, ja nicht einmal die Auflage eines Sondervermögens für Infrastruktur und Klima, wie es jetzt sogar der Industrieverband BDI fordert.
Hinzu kommt: Schon rein arithmetisch reichte es nicht. Selbst wenn die Grünen alle Stimmen, die diesmal an die Klimaparteien Volt und ÖDP gingen, zusammen gut drei Prozent, zurückholen könnten, sie wären immer noch weit von der 20-Prozent-Region entfernt. Von der Größe einer „Volkspartei“ ganz zu schweigen.
Antworten auf die wirtschaftliche Krise
Wenn die Grünen ihre Chancen wieder verbessern wollen, müssen sie Antworten auf die Fragen finden, die die Leute in einer gegenüber 2019 völlig veränderten Welt umtreiben, als Klimaschutz dank Fridays for Future das beherrschende Thema war. Corona-Pandemie, Energiekrise und Putins Angriff auf die Ukraine haben die Koordinaten ohnehin schon verschoben.
Aktuell treiben vor allem die wirtschaftliche Krise und ungelöste Herausforderungen der Zuwanderung die Menschen um, und zwar nicht nur die AfD-Wähler, sondern, wenn man sich unter ihnen umhört, auch die der Grünen. Klimaschutz ist nur noch eines von mehreren wichtigen Themen, auch wenn in diesem Jahr nun schon zum dritten Mal eine Flut hereingeschwappt ist.
Ein grüner Spitzenmann, der das auch laut sagt, ist Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir. Er fordert unter anderem, die Grünen müssten das Thema Sicherheit anpacken. Auch müssten sie dafür sein, die Zuwanderung zu steuern. Und beim grünen Kernthema Klimaschutz so agieren, dass die Wirtschaft sichtbar profitiere.
Auch wenn da im Detail vieles debattiert werden muss, der Grundgedanke ist richtig. Damit der Ökopartei nicht dasselbe wie 1990 passiert, als sie im Jahr der deutschen Einheit im Westen unverdrossen plakatierte: „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter.“ Und dann aus dem Bundestag flog.
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Quelle
Der Kommentar wurde von der Redaktion „klimareporter.de“ (Joachim Wille) 2024 verfasst – der Artikel darf nicht ohne Genehmigung (post@klimareporter.de) weiterverbreitet werden!