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Nach der Europawahl: Steht der „Green Deal“ nun auf der Kippe?

Im neuen EU-Parlament werden mehr Klimaleugner sitzen, trotzdem gibt es Chancen, den „Green Deal“ weiterzutreiben. Bei dem Zukunftsprojekt geht es nicht nur um Klimaschutz, sondern vor allem um die wirtschaftliche Zukunft Europas. Von Joachim Wille und Jörg Staude

Der Kieler Klimaforscher Mojib Latif ist in großer Sorge. „Künftig werden noch mehr Abgeordnete im Europaparlament sitzen, die den menschengemachten Klimawandel leugnen. Das Thema Klimaschutz wird es künftig noch schwerer haben, als es ohnehin schon der Fall ist“, sagt Latif, der auch Präsident der Deutschen Gesellschaft des Club of Rome ist.

Europa könnte mit dem Rechtsruck bei der gestrigen Wahl als Vorreiter für den Klimaschutz ausfallen, befürchtet er. „Damit erhöht sich die Gefahr eines ungebremsten Klimawandels, der die Menschheit ins Chaos stürzen würde“, warnt der Forscher im Gespräch mit Klimareporter°.

Die Sorge nicht nur von Latif gilt vor allem dem „Green Deal“, dem Konzept, mit dem die EU nach der letzten Wahl 2019 auf die sich zuspitzende Klimakrise reagiert hat.

Mit dem Deal will die Europäische Kommission die EU bis 2050 klimaneutral machen. Dazu wurde ein ganzer Strauß politischer Initiativen in zentralen Politikfeldern beschlossen, wie Energieversorgung, Industrie, Verkehr und Landwirtschaft bis hin zum Finanzwesen.

Mit dem Green Deal hatte sich Europa als erster Kontinent auf den Weg gemacht, die CO2-Emissionen entsprechend dem Pariser Klimaziel zu reduzieren und die Erderwärmung auf 1,5 bis zwei Grad zu begrenzen.

Die Initiative setzte einen Anreiz für andere wichtige Länder, beim Klimaschutz nachzuziehen. So beschlossen die USA ebenfalls, Klimaneutralität zur Mitte des Jahrhunderts anzupeilen. Der weltweit größte CO2-Emittent China bestimmte immerhin 2060 als Zieljahr. Vorher hatte es solche Festlegungen nicht gegeben.

EU steht beim Klima international in der Pflicht

Wesentliche Pflöcke sind bereits eingeschlagen. Zu den wichtigsten gehören das CO2-Einsparziel vom minus 55 Prozent bis 2030 gegenüber dem Basisjahr 1990, die Ausweitung des EU-Emissionshandels spätestens ab 2027 auf die Bereiche Verkehr, Gebäude und kleine Industrie, höhere Anteile der Erneuerbaren an der Energieversorgung und mehr Energieeffizienz bis 2030 sowie die Vorschrift, dass neue Autos ab 2035 CO2-frei angetrieben werden müssen.

Die EU-Kommission steht hier auch international im Wort, verhandelt sie doch im Auftrag der Mitgliedsländer auf den Weltklimagipfeln und unterschreibt die Klimaverpflichtungen.

Manfred Weber (CSU), Chef der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament, hatte zwar kurz vor der Wahl erklärt: „Die Rückabwicklung des Green Deal kommt für uns nicht infrage. Der Green Deal ist eine historische Aufgabe, vor der wir stehen.“ Eine Garantie, dass wichtige Teile des Deals nicht unter die Räder kommen, ist das indes nicht.

Das zeigte sich schon in diesem Jahr, als Kommission und Mitgliedsstaaten nach den anschwellenden Bauernprotesten den Rückwärtsgang bei wichtigen Green-Deal-Projekten einlegten, etwa bei den Plänen zur Pestizidreduktion und der Pflicht zur Flächenstilllegung. Weber hat denn auch eingeräumt, man streite „in der Sache, wie man die Ziele erreicht“.

Ein Selbstläufer ist der Green Deal insofern längst noch nicht. Vor allem auf drei Punkte kommt es an.

Erstens: Wie konsequent wird der noch umzusetzende „Rest“ der zahlreichen Green-Deal-Vorhaben behandelt? Denn die Stimmung in der Öffentlichkeit ist nach Corona, Krieg, Energiekrise und Migrationskrise umgeschlagen und nationale Wahlen könnten weitere Rechtsverschiebungen in den Mitgliedsstaaten und damit im EU-Ministerrat bringen.

Zu diesen Vorhaben, die auf der Kippe stehen, gehört zum Beispiel das „Naturwiederherstellungsgesetz“. Seine Verabschiedung wurde kurz vor der Wahl gestoppt. Die Verordnung sieht vor, auf 20 Prozent der Land- und Meeresfläche der EU wieder der Natur zu ihrem Recht zu verhelfen. 2050 sollen fast alle geschädigten Ökosysteme wiederhergestellt sein.

Klima-Kurs der EU nach 2030 ist noch offen

Zweitens: Wie buchstabengetreu setzen die EU-Länder die europäischen Vorhaben um, wenn dort, wie in den Niederlanden oder Schweden und vielleicht auch bald in Frankreich, rechtspopulistische Klimaleugner in der Regierung sind oder diese beeinflussen?

Und drittens: Wie ambitioniert werden die Beschlüsse zum Klimaschutz-Kurs für die Zeit von 2030 bis 2040 ausfallen, also für das entscheidende Jahrzehnt, um auf den Weg zur „Netto-Null“ bei den Treibhausgasemissionen zu kommen?

All das könnte zu einem „Green Deal light“ führen. Die größte Sorge vor der Wahl war allerdings, dass die bisherigen Hauptträger des Deals – Konservative, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne – wegen des erwarteten Rechtsrucks und zunehmender Zersplitterung im Parlament keine Mehrheit mehr zustande bekämen.

Das hat sich nicht bewahrheitet. Die grünen Parteien stürzten zwar unerwartet stark ab, und die Rechtsaußen-Gruppierungen EKR und ID sowie die AfD, die praktisch alle den Klimawandel als nicht existent betrachten und die Energiewende ablehnen, verbuchten Gewinne.

Trotzdem sieht es bislang so aus, dass die Basis für den Green Deal weiter gegeben ist. Konservative und Sozialdemokraten, die EU-weit in etwa stabil blieben, haben die Chance, das Projekt zusammen mit Liberalen und den Grünen weiterzutreiben, zumal letztere anders als 2019 bereit wären, diesmal die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) mitzuwählen.

„Wahl nicht als Votum gegen den Green Deal interpretieren“

Neue Konflikte drohen allerdings. Ein Beispiel ist die Forderung der deutschen Unionsparteien, das bereits endgültig beschlossene Quasi-Verbrenner-Verbot für Neuwagen wieder rückgängig zu machen.

Auch darüber, wie ehrgeizig das Klimaziel für 2040 ausfällt, dürfte noch heftig gestritten werden. Ob der bisherige Vorschlag der EU-Kommission zu einer mindestens 90-prozentigen CO2-Reduktion durchkommt, ist fraglich.

Für Fachleute wie die Energieökonomin Claudia Kemfert sollte Europa aber auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse am Green Deal festhalten. Das sei unbedingt nötig, um nicht den wirtschaftlichen Anschluss an die USA und China zu verlieren, betont die Chefin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin gegenüber Klimareporter°.

„Um trotz des Bedeutungsverlusts Europas in der Welt zu bestehen, müssen wir dringend am Credo des Green Deal festhalten, dass Klimaschutz der Schlüssel für wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit ist“, so Kemfert.

Angesichts der massiven Investitionen und industriepolitischen Maßnahmen in China und den USA müsse die EU mehr tun, um wettbewerbsfähig zu bleiben. „Ohne die weitere Umsetzung des Green Deal droht Europa den Anschluss an wichtige Zukunftsmärkte zu verspielen. Denn in den nachhaltigen Sektoren liegt die Zukunft, nur dort entstehen und bleiben zukunftsfähige Jobs.“

Aus Sicht der Expertin sollten die Parteien deshalb nicht den Fehler machen, das Wahlergebnis als Votum gegen den Green Deal zu interpretieren.

Quelle

Der Bericht wurde von der Redaktion „klimareporter.de“ (Joachim Wille und Jörg Staude) 2024 verfasst – der Artikel darf nicht ohne Genehmigung (post@klimareporter.de) weiterverbreitet werden! 

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