Politik mit Weitblick
Naturschutz-Offensive 2020 – Trotz einiger Erfolge im Artenschutz und bei der Ausweisung von Schutzgebieten nimmt die biologische Vielfalt auch bei uns weiterhin ab. Um gegenzusteuern hat das Bundes-umweltministerium eine Handlungs-offensive gestartet. Von Horst Hamm
Wer zu Fuß, mit dem Fahrrad oder auf dem Wasser den Spreewald erkundet, erlebt ein kleinteiliges Mosaik aus Feuchtwiesen, Äckern, Mooren und Auwäldern – und damit eine große Vielfalt unterschiedlicher Lebensräume nah beieinander. Schwarzerlen, Ulmen und Eichen säumen die Fließe, wie die weit verzweigten Arme der Spree in dieser Region heißen. Überall sind Biberspuren zu sehen. Eisvögel und Graureiher wechseln die Uferseite, während auf dem Wasser Libellen schwirren und überall Teich- und vereinzelt sogar Seerosen leuchten.
„Der Spreewald zeigt uns geradezu als Musterbeispiel, wie die Natur erhalten werden kann und alle davon profitieren“, betont Christiane Schell, die im Bundesamt für Naturschutz die Abteilung für Grundsatzangelegenheiten leitet: Bewohner, Besucher und nicht zuletzt die Natur selbst. Denn im Biosphärenreservat werden extensive und naturverträgliche Bewirtschaftungsformen unterstützt und sanfte Formen des Tourismus gefördert, die Besuchern ermöglichen, diese in Mitteleuropa einmalige Gewässerlandschaft zu erleben.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Zwischen dem 1550 Kilometer langen Netz aus Fließgewässern und Kanälen leben 3500 Tier- und 1600 höhere Pflanzenarten, von denen allein 585 Farn- und Blütenpflanzen auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten oder gefährdeten Arten stehen. Fischotter, Seeadler und selbst Schwarzstörche gehören zu den Bewohnern des Spreewaldes, auch wenn kaum einer der 2,5 Millionen Besucher die scheuen Brüder des Weißstorchs zu Gesicht bekommt.
Wie im Spreewald werden in anderen Biosphärenreservaten, Natur- und Nationalparks sowie in Landschafts- und Naturschutzgebieten wildlebende Pflanzen und Tiere und deren Lebensräume besonders gehegt. Und das ist gut so. Doch reicht es allein nicht aus, weitere derartige Schutzgebiete zu definieren und Artenschutzprogramme umzusetzen, um den Verlust der biologischen Vielfalt stoppen zu können, den wir seit Jahren feststellen. Die Zukunft der Natur und der biologischen Vielfalt entscheidet sich mit der Art und Weise, wie wir Natur und Landschaft nutzen – und zwar außerhalb der Schutzgebiete.
Vor allem auf Äckern und Wiesen geht die Vielfalt immer mehr zurück. Anders als im Spreewald gehören großflächige Anbaugebiete und ausgeräumte Landschaften zum Normalbild – mit allen negativen Begleiterscheinungen: „Vögel, die auf Äckern, Wiesen und Weiden brüten, gehen aufgrund der intensiven landwirtschaftlichen Nutzung nach wie vor im Bestand zurück“, heißt es im Indikatorenbericht 2014 zur Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt. Braunkehlchen, Kiebitz, Neuntöter und Uferschnepfe, die für den Bericht untersucht worden sind, zeigen einen „stark negativen Trend“ (zum Thema Landwirtschaft s. Seite 32).
Mit den Meeren ist es nicht anders: Rund ein Drittel aller Lebewesen in Nord- und Ostsee sind in ihrem Bestand gefährdet, kein Lebensraumtyp des Meeres und der Küsten befindet sich in einem günstigen Erhaltungszustand. Mit der sogenannten Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, die bereits 1992 von den damaligen Mitgliedsstaaten der EU einstimmig verabschiedet worden ist, sollen zwar wildlebende Arten, deren Lebensräume und die europaweite Vernetzung dieser Lebensräume gesichert und geschützt werden – und damit auch die biologische Vielfalt in den Meeren. Doch Fischerei, Sand- und Kiesabbau sowie die zunehmende Lärmbelastung durch Offshore-Windkraft und Schifffahrt belasten den Lebensraum Meer erheblich. Die Situation für den Schweinswal beispielsweise bleibt kritisch, etliche Tiere ertrinken in Stellnetzen, genauso wie unzählige Seevögel.
Besonders schädlich sind die sogenannten Baumkurren, das sind mit schweren Ketten versehene Grundschleppnetze, die über den Meeresboden schleifen, um Schollen, Seezungen oder Nordseegarnelen zu fangen. Sie schädigen Riffe und Sandbänke schwer oder zerstören sie sogar.
Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) will das alles nicht länger hinnehmen und hat im Herbst 2015 die Naturschutz-Offensive 2020 initiiert. Ihr Ministerium hat dabei die zehn wichtigsten Handlungsfelder definiert und 40 Maßnahmen beschrieben, um die derzeitige Situation zu verbessern (siehe Kasten S. 31).
Dabei sind die Ministerin und ihre Mitarbeiter – und das ist die eigentliche Crux – in vielen Bereichen gar nicht zuständig, in denen es dringenden Handlungsbedarf gibt. Wenn es beispielsweise darum geht, die Landwirtschaft dazu zu bringen, die Überdüngung einzudämmen oder auf den Äckern nicht mehr ganz so intensiv zu wirtschaften, dann haben Bundeslandwirtschaftsminister Schmidt (CSU) und seine Länderkollegen das Sagen. Genauso wie in den Bereichen Fischerei und Forstwirtschaft. Bei großen Schutzgebieten sind ebenfalls die einzelnen Bundesländer gefragt; bei der Einrichtung neuer Nationalparks genauso wie bei der Ausweisung von Flächen, die sich selbst überlassen werden sollen.
„Eine Initiative ist natürlich noch kein Gesetz“, räumt Barbara Hendricks freimütig ein. „Jetzt beginnt meine politische Arbeit. Ich muss Mitstreiter finden und die Kollegen am Kabinettstisch und in den Ländern davon überzeugen, dass wir alle davon profitieren, wenn wir der biologischen Vielfalt mehr Gewicht geben.“
Dabei kann sich die Ministerin auf Beschlüsse der Vergangenheit berufen. Ihre Naturschutz-Offensive basiert auf der „Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt“, die bereits 2007 von der damaligen Bundesregierung beschlossen wurde: Bis 2010 sollte der Artenverlust gestoppt und in den Jahren danach der Trend umgekehrt werden. Diese Ziele wurden von allen Ressortleitern mitgetragen und mit vielen gesellschaftlichen Akteuren abgestimmt.
Das ist vergleichbar mit internationalen Konferenzen und Beschlüssen, zum Beispiel mit der Weltkonferenz 1992 in Rio, als sich die Staatengemeinschaft mit dem „Übereinkommen über die biologische Vielfalt“ verbindlich dem Schutz der Natur verpflichtet und 2010 in Nagoya das Ziel bekräftigt hat, den weltweiten Biodiversitätsverlust bis 2020 zu stoppen.
Auch die Europäische Union hat sich vergleichbare Ziele gesetzt: 2001 nahm sie sich auf ihrem Gipfel in Göteborg vor, bis zum Jahr 2010 das Artensterben zu beenden. Sie konnte dies jedoch genauso wenig erreichen wie die gesamte Staatengemeinschaft: 25 Prozent der europäischen Tierarten sind vom Aussterben bedroht, 88 Prozent der Fischbestände überfischt oder erheblich dezimiert, nur 17 Prozent der geschützten Lebensräume in einem guten Zustand. Die EU-Staats- und Regierungschefs haben ausgehend von dieser Situation 2010 die „Vision 2050“ entwickelt. Nun soll die biologische Vielfalt bis zur Mitte des Jahrhunderts angemessen wiederhergestellt werden.
Trotz aller Konventionen und Absichtserklärungen hat sich in den vergangenen 25 Jahren an den entscheidenden Stellen also wenig getan. Vergleicht man die Problematik mit den nicht minder schwierigen Verhandlungen zum Klimawandel, dann bekommt man eine Ahnung, wie schwierig es für Ministerin Hendricks werden wird, für ihre Naturschutz-Offensive ausreichend mächtige Mitstreiter zu finden und konkrete Ergebnisse zu liefern.
Vielleicht hilft auch da ein Blick auf den Spreewald. Der war nämlich bis vor wenigen Jahren in einem weit schlechteren Zustand als heute: Wasserläufe waren begradigt, Staugürtel angelegt und Moorwiesen entwässert. Als 2001 ein vom Bund gefördertes Naturschutzgroßprojekt konkret wurde, um die Sünden der Vergangenheit zu beseitigen, war der Widerstand in der Region zunächst groß. Kahnfahrer,
Hotelmanager und Wirtsleute fürchteten um die Gäste, Bauern und Forstarbeiter um ihre Existenz. Nach einem öffentlichen Moderationsverfahren und intensiven Diskussionsrunden mit den betroffenen Gruppen haben letztlich alle mitgetragen, dass Befestigungen entfernt, Fischtreppen gebaut, abgetrennte Altarme renaturiert und trocken gelegte Wiesen geflutet wurden. Davon profitieren inzwischen nicht nur die Lebewesen im, sondern auch die Menschen am Wasser. Man kann dem notwendigen Dialog um den bundesweiten Schutz der Artenvielfalt nur vergleichbare Erfolge wünschen.
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Quelle
Horst Hamm –
schreibt seit 30 Jahren über Umweltthemen und war bei der Zeitschrift natur Redakteur und stellv. Chefredakteur. Heute lebt er als freier Autor und Moderator in München und ist gemeinsam mit Ilona Jerger für das MehrWERT-.Magazin verantwortlich.