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Syrien: Das Regime hat noch mehr Waffen

An-Archie (Abwesenheit von Herrschaft) in Syrien: Es war an dem Tag, den wir den „Heiligen Abend“ nennen, 24.12.2012, als die Kinder in deutschen Städten und Landen den Nachmittagskrippengottesdienst besuchten. Da krachten drei Raketen in das National Hospital in Azaz, eines der stolzesten Institute medizinischer Versorgung in Syrien: 1987 wurde der Bau begonnen, 2007 fertig gestellt. Die Raketen zerstörten die Gebäude total und verletzten die sechs Dialyse-Patienten schwer, die sich dort gerade befunden hatten. Die Grünhelme hatten zugesagt, die Fensterrahmen und die Fenstergläser selbst zu rehabilitieren. Gott sei Dank wurden die Fenstergläser dabei mit einer Plastikfolie überzogen, so dass die Splitter nicht in alle Richtungen in die Räume flogen und noch größeres Unheil hätten anrichten können. Von Rupert Neudeck

Das ist die letzte Phase des Krieges, hatte ich noch im November 2012 bei meinem letzten Besuch gedacht. Aber ich wurde eines anderen belehrt, das Regime von Baschar al Assad hat noch andere Waffen, die es in Anschlag bringt. Strom-Sperren, seit einem Monat gibt es in Aleppo nur noch Strom in den zu Assad loyalen Stadtteilen. In Azaz gibt es überhaupt keinen Strom mehr. Man braucht aber, wie uns der Elektrochef der Stadt versichert, 20 Megawatt, um die Bedürfnisse der Stadt und der Umgebung über Generatoren einigermaßen noch zu sichern.

Die Stromsperre trifft die Menschen sehr hart. Es sind Temperaturen von bis zu 3-4 Grad, die die Menschen frösteln lassen. Denn zusätzlich zu den unmenschlichen Bedingungen, ständig für seine Familien und Kinder neue Quartiere und Sicherheit aufzubieten, wo es keine mehr gibt, geht es jetzt auch an die physische Existenz. Der Treibstoff ist auf 2 Euro pro Liter gestiegen, also höher als in Deutschland.

Das ist nicht einmal die letzte Waffe des Regimes, die Beamten werden alle noch aus Damaskus bezahlt, die auf der staatlichen Gehaltsliste stehen, wie wenn Damaskus das vergessen hätte zu unterbinden. Das wäre dann die letzte Kriegsmaßnahme der Regierung gegen ihre eigene Bevölkerung.

Es herrscht An-Archie in Syrien, im griechischen Ursprung des Wortes: Abwesenheit von Herrschaft. Es gibt keinen Staat, der den Boden- und Luftverkehr regelt, es gibt keine Ministerien, die Standards einhalten, die Menschen sind so total um das Überleben bemüht, dass für sie keine andere Überlegung bleibt. So werden in dem Hospital Al-Mashfa Al-Ali, in dem die Grünhelme gewohnt haben, Waffen getragen, obwohl dieses in einem Hospital verboten ist, es wird geraucht, wie ich das seit langem auf der Welt nicht mehr erlebt habe. Aber ich verstehe die Menschen, sie sind hypernervös und das Rauchen ist etwas, mit dem man seine Nervosität bewältigen kann. Auch gibt es bei den Zigaretten noch die schöne arabische Großzügigkeit, dass man eine Runde Zigaretten schmeißt. Mehr kann man nicht anbieten.

Wir hatten uns am Sonntag – die zwei Ärzte und Pfleger des Hospitals und die drei Grünhelme – wieder zu Zwölft im Keller zum Schlafen in den einzigen Raum zurückgezogen, den man im Hospital noch warm kriegen kann. Da kamen auf dem TV-Schirm über Al Jazeera Auszüge aus der Opernhausrede des Noch Staatschefs Baschar al Assad mit den unwürdigen Claqueuren, die dafür bezahlt wurden, dass sie in die Oper kamen. Die Mediziner wandten sich auf ihren Matratzen mit Ekel und Abscheu ab, und drehten dem Staatschef den Ton und das Bild ab. Sie konnten es nicht mehr ertragen. Ein Staatschef, der mittlerweile 60.000 Menschen auf dem Gewissen hat, der 500.000 als Flüchtende aus dem Lande gejagt hat, darf sich eigentlich im Lande sich nicht mehr blicken lassen.

Man muss sich immer daran zurückerinnern, dass es zu Anfang, am 15. März 2011, eine gewaltlose Demonstrationsbewegung vor allem jüngerer Leute war, die gegen das diktatorische Geheimdienst- und Einparteienregime des Präsidenten und der Dynastie der Assads auf die Straße ging. Das Regime ging mit der äußersten Brutalität gegen die eigene demonstrierende Bevölkerung vor. Erst mit der Zunahme von Deserteuren bildete sich – fast widerwillig – eine bewaffnete Opposition heraus, die „Freie Syrische Armee“.

Wir besuchen das Dorf Keljebeen, von dort sind es nur 40 km bis Aleppo, in dem die Grünhelme die von Einschüssen lädierte Schule wieder zu einem Schmuckstück des Dorfes haben werden lassen. Wir werden in der Schule „Mohamed Ismail Mohamed“ (ein Gymnasium) überschwänglich begrüßt. Es sind hier 500 Jungen und Mädchen, die im Schichtunterricht regulären Schulunterricht haben mit 20 Lehrern. Es wird hier Arabisch, Französisch und Englisch gelehrt. Der Schuldirektor fragt uns ganz direkt, ob die Bundesregierung ihnen auch zwei Lehrer mal schicken könne, damit sie – schon aus Dankbarkeit gegen die Deutschen, in deren Auftrag die Grünhelme die Schule neu gemacht haben – auch deutsch lernen können.

Wir ziehen eine Station weiter, nach Tal Reffaat, wo die drei Schulen alle Treffer und Volltreffer aufweisen. Auch dort soll jetzt eine Schule aufgebaut werden.

Was könnte die Bundesregierung tun? Ich wurde gefragt, ob Berlin oder die EU nicht das knapp werdende Mehl liefern könnten über die Türkei.

Das Hauptnahrungsmittel der Syrer, ohne das ein ziviles Leben zusammenbricht, ist das Brot. In der Brotbäckerei von Azaz werden 72.0000 Brotpakete gebacken pro Tag. Dazu braucht man jetzt, wo es keinen Strom gibt, 7.000 Liter Diesel pro Woche. Der Generator ist in der Zeit der guten Beziehungen zur damaligen DDR geliefert worden von der VEB Starkstrom Anlagenbau Magdeburg.

Die Bundesregierung könnte mit Mitteln des Auswärtigen Amtes Mehl nach Azaz, Aleppo und Tal Reffaat  liefern für eine begrenzte Bevölkerung. Sie muss es aber jetzt machen, über die befreundete Türkei. Denn jetzt in den drei kalten Monaten bis März ist die Not am größten.

Quelle

Rupert Neudeck 2012Grünhelme 2012

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