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Stirbt die Artenvielfalt? Artensterben heißt: Wir löschen die Daten der Natur von der Festplatte! 6/8

Die Lebensvielfalt auf der Erde gehört zu den natürlichen Ressourcen wie das Wasser und die Wälder, die Luft und der Boden, die unsere Lebensgrundlage bilden.

Doch anders als bei Naturstoffen wie zum Beispiel Wasser oder Erdöl, das man zählen und messen kann, verändert und erneuert sich das Leben ständig.

Die wichtigste Eigenschaft der Lebewesen ist ihre Fähigkeit zur Selbstvermehrung und Selbstveränderung. Kohle, Sauerstoff oder Mineralien können nicht wachsen. Aber Leben kann wachsen und sich fortpflanzen und – zumindest in längeren Zeiträumen – sich auch verändern. Diese Entwicklung nennen wir Evolution. Dabei hat sich gezeigt: Die Vielfalt der Arten ist die „Versicherung“ des Lebens! 

Doch seit etwa 200 Jahren – mit dem Beginn der Industrialisierung – spielen wir Evolution rückwärts. Wir Menschen pfuschen erstmals dem lieben Gott ins Handwerk und spielen selbst Gott.

Die Übernutzung der Natur ist unser größtes Problem geworden. Was früher Nutzung war, ist heute Ausbeutung. Wir überfrachten die Natur mit Abfällen und Giften. Atommüll strahlt mehr als 100.000 Jahre. Die Menschheit produziert 2008 etwa 600 Milliarden Plastiktüten, die weggeworfen werden, aber in der Natur nicht recyclebar sind und Tiere töten, welche die Plastiktüten mit Nahrungsmitteln verwechseln.

Wir treiben Raubbau. In wenigen Jahrzehnten verbrennen wir an Kohle, Gas und Erdöl, woran die Natur 300 Millionen Jahre gearbeitet hat. Die Übernutzung von Wasser- und Energie-Ressourcen ist eine wesentliche Ursache des dramatischen Artensterbens.

Die Lebensvielfalt gilt noch immer als kein Wert an sich, obwohl davon wahrscheinlich unser Überleben abhängt. Wenn wir das Artensterben noch eine Zeitlang so weitertreiben wie heute, ist das so, als würden wir die Daten der Natur unwiederbringlich von der Festplatte des Lebens löschen. Wir zerstören eine unersetzliche Datenbank. Dabei liefern uns pflanzliche Arzneimittel wirksame Stoffe zum Beispiel gegen Krebs und Malaria.

Artensterben sei überhaupt kein Problem für unser Überleben, sagte mir ein Kollege in einer Fernseh-Talk-Show, weil es sich ja meist um kleinere, eher unscheinbare Lebewesen handelt. Erstens stimmt die Annahme nicht, denn auch große Tiere sind vom Aussterben bedroht. Es ist eine historische Tatsache, dass Menschen auch Großtiere ausgerottet haben. Und zweitens: Weil wir meinen, einen kleinen Käfer nicht „brauchen“ zu müssen oder Fliegen eher für unnütz und gefährlich halten, ist das noch lange kein Beweis für ihre Unbrauchbarkeit in der Natur. Der Wert des Lebens hängt nicht von seiner Größe ab. Für die meisten Menschen gilt: Auch Ungeborene haben ein Lebensrecht.

Im Angesicht von Hunger, Kriegen, Energieknappheit und Klimawandel fragt sich auch mancher Zeitgenosse, ob wir nichts Wichtigeres zu tun hätten, als uns um Vogelschutz und Streuobstwiesen Sorgen zu machen.

Verstummen die Vögel, fällt uns das vielleicht noch auf. Dass aber früher Spatzen allgegenwärtig waren, wo wir heute Amseln treffen, nehmen wir kaum noch wahr. Bunte Blumenwiesen von früher sind heute selten geworden. Jetzt im Frühjahr überwiegt das Gelb von Raps und Löwenzahn in unserer Landschaft. Schmetterlinge aber sind selten geworden. In Bayern wird heute bereits die Hälfte aller 16.000 Tierarten und die Hälfte aller Pflanzenarten als „gefährdet“ eingestuft.

Es gibt viele Pflanzenarten, die auf Tiere angewiesen sind, vor allem auf Insekten. Diese Vielfalt auch der kleinen Arten zu erhalten und den Artenreichtum verantwortlich zu nutzen, damit sich auch noch künftige Generationen daran erfreuen können, ist nicht nur eine ökologische Verpflichtung und eine ökonomische Chance, es ist primär ein moralischer Auftrag.

Neben der Überdüngung der Felder, dem Zerschneiden von Flächen und dem Klimawandel sind die vielen Menschen auf unserer begrenzten Erde die Hauptursachen für das Artensterben.

Wenn der Natur zu wenig Raum bleibt, ziehen sich Tiere und Pflanzen zurück, werden seltener und sterben aus. Zuerst lokal, dann regional und schließlich global. Es gibt im reichen und dicht besiedelten Deutschland viele ökonomische „Erfolgsbilanzen“ – aber die „Roten Listen der gefährdeten Arten“ gehören nicht dazu.

Und dennoch gibt es auch einen Grund zur Hoffnung: In unseren Großstädten zum Beispiel fühlen sich immer mehr bedrohte Tierarten richtig wohl.

Überraschenderweise zeigt sich, dass Großstädte oft letzte Rettung bieten für Tiere, die auf intensiv von der Landwirtschaft genutzten Flächen keine Chance mehr hatten: Dies gilt für die Millionenstadt München, aber auch für Hamburg, Berlin, Düsseldorf, Köln und Frankfurt, für New York, Singapur, London und sogar für Anchorage in Alaska.

Biologen und Stadtökologen stimmen darin überein, dass Großstädte in den letzten 30 Jahren artenreicher wurden. Der Artenreichtum nimmt sogar überraschenderweise mit der Größe der Stadt zu und nicht ab, schreibt der bekannte Münchner Evolutionsbiologe und Artenforscher Josef H. Reichholf in seinem Buch: „Ende der Artenvielfalt?“: „Die Zahl der im Stadtgebiet brütenden Vogelarten nimmt mit der Größe der Städte in Mitteleuropa stark zu. In Berlin brüten zwei Drittel aller sich überhaupt in Deutschland fortpflanzenden Vogelarten.“

  • In Simbach am Inn sind schon 60 Brutvogelarten im Stadtgebiet heimisch,
  • in Dachau sind es 82,
  • in Regensburg 100,
  • in Nürnberg 108,
  • in München 114,
  • aber in Berlin 138.

In Deutschlands Hauptstadt kann ein Fuchs unbehelligt durch die Stadt streifen, Elche und Schwarzbären, ja sogar Grizzlybären bummeln vertrauensselig durch die Gärten und Gassen von Anchorage. Nur Bär „Bruno“ hatte Pech in Bayern.

Auf Flughäfen tauchen Feldhasen auf, Amseln brüten auf abgestellten Eisenbahnwaggons, Sperber an Krankenhäusern und der scheue Wanderfalke am Kölner Dom, am Roten Rathaus in Berlin, ja sogar auf den Türmen der Münchner Heizkraftwerke. Reichholf: „Im Stadtgebiet von Berlin singen mit rund 1.000 Nachtigallen ähnlich viele oder vielleicht schon mehr als es von Europas Vogelwelt bester Sängerin in ganz Bayern noch gibt.  Dazu kommt ein solche Fülle von Schmetterlingen, dass die Ergebnisse entsprechender Untersuchungen in Städten durchaus mit solchen aus Naturschutzgebieten konkurrieren können.“

Selbst Schmetterlinge zeigen sich inzwischen mehr in Städten als auf Ackerland mit Monokulturen. Und in den vielfältigen gepflegten Gärten Mitteleuropas zeichen sich inzwischen dreimal so viele Arten wie es wildwachsende Pflanzen gibt.

Ein Wendepunkt zum Positiven war in Deutschland auch der Film „Serengeti darf nicht sterben“ von Bernhard Grzimek und in den USA der Bestseller „Der stumme Frühling“ von Rachel Carson. Seither steigt zumindest das Bewusstsein für Umweltschutz und Artenschutz in den westlichen Gesellschaften. Auch die zunehmende Zahl der Nationalparks (in Deutschland 15, in Australien 2000) haben Millionen für den Artenschutz sensibilisiert.

Die Agrarfläche macht in Deutschland 55 % der gesamten Landesfläche aus – auch dort sind Arten bedroht und ausgestorben. Tiere und Pflanzen finden paradoxerweise inzwischen mehr Schutz in den Städten, Friedhöfen und Truppenübungsplätzen, aber natürlich auch in Wäldern und Seen.

Erfolge im Artenschutz

Millionen Menschen engagieren sich im Natur- und Artenschutz. Prominente wie Prinz Philip von Großbritannien oder Prinz Bernhard der Niederlande waren Vorstände des WWF, was den Artenschutz populär machte. Mehr und mehr setzt sich die Erkenntnis durch: Tierschutz und Pflanzenschutz ist auch Menschenschutz!

Der Grauwal war beinahe ausgerottet – jetzt gibt es wieder Tausende und Hunderttausende Natur-Touristen machen „Walbeobachtung“. Delfine und Eisbären – wie Knut im Berliner Zoo – sind geradezu Stars für Millionen.

Das Verbot des Elfenbeinhandels hat den Elefanten in Afrika tatsächlich geholfen – ihre Populationen erholen sich. Gegenwärtig gibt es in Mitteleuropa mehr große Säugetiere und Großvögel als noch vor 100 Jahren. Rothirsch und Damhirsch, Rehe, Elche und Wildschweine gibt es heute sogar mehr als je zuvor. In Japan kehrte 2004 der ausgestorbene ostasiatische Weißstorch wieder zurück und wurde mit einem großen Volksfest begrüßt, und in Bayern konnte nach 1970 der Biber wieder heimisch werden. Auch die Zeit der fast völligen Ausrottung der Adler ist vorbei.

Rund ums Mittelmeer steigen wieder die Bestände der Flamingos und in den Schluchten des Balkans kehrten die extrem selten gewordenen Schwarzstörche zurück. Zu Zugzeiten kann man über München Schwärme von Graugänsen fliegen sehen.

Alle diese Beispiele sollten die 5.000 Teilnehmer der Bonner Biodiversitätskonferenz Ende Mai dazu ermutigen, Natur- und Artenschutz künftig einen noch höheren politischen Stellenwert zu geben als bisher. Dafür gibt es begründete Hoffnung. Kein Zweifel: Die Artenvielfalt auf unserem Planeten ist gefährdet. Aber verloren ist sie noch nicht.

Noch ein positives Beispiel: Vor gar nicht allzu langer Zeit war es für viele Frauen chic, sich in einen Leopardenfellmantel zu hüllen, um damit Reichtum und Ruhm zu signalisieren. So etwas ist heute megaout und eher verpönt. Und die Leopardenbestände in Afrika nehmen zu.

Teil 7: Was kann die Politik und jeder Einzelne tun?

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Quelle

Franz Alt
Erstveröffentlichung „tz“ München 2008

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