Für eine Kultur des Friedens
Franz Alt fordert in seiner Rede beim Ostermarsch in Mannheim am 30. März 2024: Mehr Diplomatie im Ukraine-Krieg, Waffenstillstand in Gaza, Nein zum Wettrüsten und den Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag.
Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde!
Vor zwei Jahren hat die russische Armee die Ukraine überfallen, alle Regeln des Völkerrechts verletzt und die gesamte europäische Nachkriegsordnung. Ergebnis heute: Millionen Flüchtlinge, Hunderttausende Tote, massenhaft Folter, vergewaltigte Frauen, sexuelle Gewalt ist zur Epidemie geworden, tausende Kinder verschleppt, Kindergärten, Schulen, Museen und unzählige Gebäude zerstört und riesige Umweltschäden verursacht. Die EU spricht von über 70.000 Kriegsverbrechen. Damit ist Wladimir Putin einer der großen Kriegsverbrecher der Menschheitsgeschichte geworden. Krieg ist nie ein Mittel zur Lösung eines Konflikts, Krieg ist immer die Krankheit.
Weltweit geben wir zurzeit jedes Jahr mehr als 2000 Milliarden Euro für Rüstung aus und lassen zur selben Zeit Millionen Menschen verhungern. In einem Fernseh-Interview hat mir der Friedenspolitiker Michail Gorbatschow mal die Frage gestellt: „Wie könnte die Welt heute aussehen, wenn wir nach 1945 die vielen Milliarden Dollar statt in Rüstung und Kriegsvorbereitung in die Überwindung der Armut und in Bildung gesteckt hätten?“
Fachleute haben heute die Antwort: Ein Zehntel der globalen Rüstungsgelder würde ausreichen, um den Hunger in der Welt zu überwinden, ein zweites Zehntel würde ausreichen, um allen Kinder der Welt endlich eine Schulbildung zu ermöglichen.
Wir führen aber zugleich einen weiteren Krieg, an dem hauptsächlich die reichen Staaten beteiligt sind. Das ist der dritte Weltkrieg gegen die Natur: Wenn es heute Abend bei uns in der ARD eine ökologisch realistische Tagesschau gäbe: Was müssten dann meine Kollegen und Kolleginnen in Hamburg um 20 Uhr sagen?
Sie müssten sagen:
- Auch heute an diesem einen Tag haben wir weltweit 180 Tier- und Pflanzenarten ein für allemal ausgerottet;
- Auch heute wieder haben wir 50.000 Hektar Wüste zusätzlich produziert;
- Auch heute haben wir wie an jedem Tag 80.000 Tonnen fruchtbaren Boden verloren und sind weltweit eine Viertel Million Menschen mehr geworden und schließlich:
- Auch heute wieder haben wir 180 Millionen TonnenTreibhausgase in die Luft geblasen.
Diesen Dritten Weltkrieg gegen die Natur, das heißt gegen uns selbst und gegen die uns nachfolgenden Generationen, gegen die heute noch Ungeborenen und gegen die Armen im globalen Süden, haben wir weitgehend vergessen und verdrängt. Wir leben in einer Verdrängungsgesellschaft.
Seit mehr als 2.000 Jahren gilt der altrömische Grundsatz „Wer Frieden will, muss den Krieg vorbereiten“. Ergebnis: 2000 Jahre immer wieder Kriege, Massenelend und Millionen Tote. Solange Kriege vorbereitet werden, werden sie auch geführt. Das erleben wir alle schmerzlich auch beim Ukraine-Krieg. Präsident Putin hat diesen Krieg lange vorbereitet. Auch wir haben den dritten Weltkrieg gegen die Natur seit über 100 Jahren vorbereitet durch das Verbrennen von Kohle, Gas und Öl. Dabei wissen wir schon lange, dass der hundertprozentige Umstieg auf erneuerbare Energien möglich ist. Allein die Sonne schickt uns jeden Augenblick 15. 000 Mal mehr Energie als zurzeit alle acht Milliarden Menschen verbrauchen.
Wie wäre es, wenn wir künftig nach dem Motto leben würden: „Wer Frieden will, muss den Frieden vorbereiten“? Und wie ginge das konkret und praktisch? Unser Bestreben muss sein, in Zukunft den Frieden zu gewinnen und nicht mehr den Krieg.
Eine neue Politik beginnt mit neuem Denken
Das hat uns vor über 30 Jahren Michail Gorbatschow erfolgreich vorgemacht, ein Realpolitiker mit Visionen. Das Ergebnis seiner Politik hat uns dreißig Jahre Frieden in Europa geschenkt. Warum? Weil er den Mut hatte voranzugehen und in einem Umfeld von Hardlinern auf realisierbare Visionen zu setzen, konnten erstmals in der Menschheitsgeschichte ganze Waffensysteme einfach verschrottet werden. Kontrolliert verschrottet. 80 Prozent aller Atomwaffen wurden vor etwa 30 Jahren verschrottet.
Und heute nachdem der alte Wahnsinn des atomaren Wettrüstens gerade wieder von vorne beginnt? Kein Gorbatschow weit und breit. Aber schon wieder ein Denken in der alten Kriegslogik. Und Putin will weitere Gebiete in der Ukraine, aber auch anderswo erobern. Er sieht sich in seinem imperialistischen Traum in der Nachfolge der Zaren und in der Nachfolge der alten Sowjetunion. Und das Schlimmste dabei ist: Er wird vor allem von christlichen Kirchenführern wie vom orthodoxen Patriarchen Kyrill dabei unterstützt, der vom „Heiligen Krieg“ faselt. Eine schlimmere Gotteslästerung wie das Wort „Heiliger Krieg“ gibt es nicht. Und so kann Putin mit kirchlicher Unterstützung sogar mit dem Atomkrieg drohen. Ein Kirchenfürst als Messdiener Putins, das ist die geistige Katastrophe hinter der Katastrophe.
Was wäre ein Atomkrieg, fragte ich den Fachmann Gorbatschow in unserem gemeinsamen Buch: „Kommt endlich zur Vernunft – Nie wieder Krieg“. Seine Antwort: „Ein Atomkrieg wäre wahrscheinlich der letzte Krieg der Menschheitsgeschichte, weil es danach keine Menschen mehr gäbe, die noch einen Krieg führen könnten.“ Gorbatschow in unserem Buch: „Auch der Westen hat nach 1990 mit der NATO-Osterweiterung große Fehler gemacht.“ 1990 hatte die NATO noch 16 Mitglieder, heute 32. Und weitere wollen dazu. Wir haben nach 1990 nicht nur eine NATO-Osterweiterung erlebt, sondern auch noch eine NATO-Süderweiterung und eine NATO- Norderweiterung. Das war und ist für uns im Westen natürlich kein Problem, aber wir müssen uns doch auch fragen: Wie wirkt die ständige NATO-Erweiterung auf die russische Seite? Keine Frage: Jedes Volk hat das Recht, sich einem Militärbündnis anzuschließen. Aber spätestens im Atomzeitalter muss kluge Politik verstehen, dass Sicherheit für uns auch immer die Sicherheit des Anderen sein muss. Denn wir alle wären die Opfer eines Atomkriegs.
Wirkliche Sicherheit ist gemeinsame Sicherheit
Präsident Biden hat vor wenigen Wochen gesagt: Die Welt stand seit der Kuba-Krise von 1962 noch nie so nahe am atomaren Abgrund oder an einem dritten Weltkrieg wie heute. Dass der Westen die Sicherheitsinteressen der Ukraine verteidigen muss, auch militärisch, ist auch für mich als Pazifist und Christ selbstverständlich. Alles andere wäre jetzt unterlassene Hilfeleistung. Wir sind solidarisch mit der Ukraine.
Auch die Friedensbewegung muss beim Ukraine-Krieg differenzieren lernen. Das Ur-Ethos aller Religionen und Weisheitslehren heißt: „Du sollst nicht töten.“ Das heißt aber auch: „Du sollst nicht töten lassen, wenn du dadurch deinem Nachbarn helfen kannst.“ Es ist nicht christlich und auch nicht pazifistisch, sich die Ohren zu zuhalten, wenn dein überfallener Nachbar um Hilfe ruft. Im Gegenteil: Das ist unterlassene Hilfeleistung. Und die Ukraine ruft uns um Hilfe.
Aber als Pazifist und Christ weise ich darauf hin, dass auch 144 Millionen Russen Sicherheitsinteressen haben. Darauf hat Michail Gorbatschow in vielen Gesprächen mit mir immer wieder gepocht, aber auch deutsche Politiker wie Helmut Schmidt und Helmut Kohl haben auf die berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands hingewiesen. Sogar Henry Kissinger sagte an seinem 100. Geburtstag: „Auch die NATO hat nach 1990 große Fehler gemacht“.
Dies anzuerkennen, scheint mir die einzige Möglichkeit zu sein, möglichst rasch zu einem Waffenstillstand und schließlich zu Friedensverhandlungen zu kommen und damit zu einem Ende des Leids für die ukrainische Bevölkerung. Und darauf kommt es jetzt in erster Linie an: Das Leid der Ukrainer so rasch wie möglich beenden. Diese Möglichkeit, ich weiß, sieht im Augenblick nicht sehr hoffungsvoll aus. Ich sehe dennoch einen kleinen Hoffnungsschimmer. Präsident Selenskyj hat den chinesischen Friedensplan als „ersten Schritt in die richtige Richtung“ bezeichnet. Ich bin bei China deshalb skeptisch, weil ich weiß, was die chinesischen Kommunisten seit 60 Jahren in Tibet und in den letzten Jahren auch gegenüber den Uiguren angestellt haben und noch immer anstellen. China betreibt gegenüber Andersgläubigen und gegenüber Andersdenkenden genau so einen kulturellen Völkermord wie Putin auch in der Ukraine einen kulturellen Völkermord betreibt. Putin will in seinem imperialistischen Größenwahn alles Ukrainische auslöschen und die gesamt Ukraine russifizieren. Dagegen wehrt sich die Ukraine zu Recht.
Aber die vorsichtig-positive Reaktion des ukrainischen Präsidenten auf den chinesischen Vorschlag lässt auch an diesem Osterfest etwas hoffen. Endlich kommt Bewegung in die verhärteten Fronten. Auch afrikanische Staaten bemühen sich um einen Waffenstillstand in der Ukraine. Auch Deutschland sollte nicht nur Waffen liefern, sondern sich mehr als bisher auch um Waffenstillstand bemühen. Gute Diplomatie versucht in dieser verhärteten Lage, Verhandlungen herbei zu verhandeln.
Den Aggressor Putin bekommen wir wahrscheinlich nur an den Verhandlungstisch, wenn auch der Westen und die NATO bereit sind, über unsere früheren Fehler zu reden. Auch wir müssen lernen, Feindbilder abzubauen – so wie es Jesus in seiner Bergpredigt vorgeschlagen hat. Der frühere Kommunist Gorbatschow „Die Bergpredigt Jesu ist das Überlebensprogramm der Menschheit im Atomzeitalter.“ Wann fangen wir an, endlich die Kraft der Bergpredigt zu verstehen? Das heißt, dass auch wir unsere eigenen Ängste nicht dadurch überwinden können, dass wir der anderen Seite immer noch mehr Angst machen. Diese Politik wird eines Tages in die totale Katastrophe führen.
Nur wenn wir unseren eigenen Schatten verstehen, können wir lernen, Frieden zu gewinnen statt Kriege. Wer „Feindesliebe“ als naiv abtut, möge doch bitte an die Folgen von Feindeshass denken.
Die Geschichte lehrt, dass Frieden immer möglich ist. Wir wünschen dem ukrainischen Volk, dass Papst Franziskus auch in Moskau und Kiew Friedensverhandlungen initiiert– vielleicht zusammen mit dem Dalai Lama und dem UNO-Generalsekretär.
In meiner Heimat-Stadt Baden-Baden leben 123 Nationen friedlich zusammen, darunter viele Russen und Ukrainer. In dieser Stadt haben De Gaulle und Adenauer nach 1945 das Ende des gegenseitigen Abschlachtens zwischen Deutschen und Franzosen beschlossen und den Grundstein für die deutsch-französische Freundschaft und für die friedliche Europäische Union gelegt. In dieser Stadt wurde bewiesen, dass Frieden immer möglich ist. Noch nie hat ein Land der EU Krieg geführt gegen ein anderes Land der EU. Dafür hat die EU 2012 zu Recht den Friedensnobelpreis erhalten. Krieg ist kein Gottesurteil, Krieg ist kein Naturereignis, Krieg wird immer von uns Menschen geführt. Also können Menschen auch Kriege immer beenden. So wie Deutschland und Frankreich Frieden geschlossen haben, so können auch Russland und die Ukraine Frieden schließen. Herr Putin, beenden Sie diesen Massenmord in der Ukraine so schnell wie möglich. Die internationale Friedensstadt Baden-Baden bietet sich Ihnen als Verhandlungsort an. Oder auch Wien wäre ein guter Verhandlungsort, weil dort viele wichtige UNO- und Europäische Institutionen ihren Sitz haben.
Unsere heutige Forderung: Herr Putin, verhandeln Sie mit der Ukraine, ziehen Sie Ihre Truppen zurück und beenden Sie den Massenmord am ukrainischen Volk. Sowohl im Ukraine-Krieg wie auch im Gaza-Krieg heißt unsere Forderung: Waffenstillstand jetzt! Frieden ist noch immer möglich. Wann, wenn nicht jetzt? So wie es auch der Sicherheitsrat der UNO soeben gefordert hat.
Papst Franziskus sagt es in seinem neuen Buch so: „Nie wieder Krieg, nie wieder Waffenlärm. Nie wieder solches Leid. Frieden für alle. Ein dauerhafter Friede ohne Waffen.“
Und den dritten Weltkrieg gegen die Natur können wir vor allem durch den raschen Umstieg auf erneuerbare Energien beenden. Dafür brauchen wir eine solare Weltrevolution. Unser Motto dafür muss heißen: Die solare Weltrevolution beginnt – Die Sonne gewinnt. Wir vertrauen auf die unerschöpfliche Kraft der Sonne. Kriege um Ressourcen müssen der Vergangenheit angehören.
Vielen Dank – Franz Alt | Baden-Baden, 28.03.2024
PS: Zusammen mit Michail Gorbatschow hat Franz Alt das Buch geschrieben: „Nie wieder Krieg – Kommt endlich zur Vernunft“ (Benevento-Verlag). Zusammen mit dem Dalai Lama schrieb er: „Ethik ist wichtiger als Religion“ – ebenfalls bei Benevento. Sein Friedensbuch ist im Herder-Verlag erschienen: „Frieden ist noch immer möglich – Die Kraft der Bergpredigt“.