Bundesregierung torpediert strengere Schadstoffbegrenzung für Kohlekraftwerke
Studie belegt: Tausende Todes- und Krankheitsfälle könnten verhindert werden
Um die Interessen von Kohlekonzernen zu schützen, ist die Bundesregierung offenbar dazu bereit, die Gesundheit tausender Bürger*innen zu gefährden. Das belegt eine aktuelle Studie zu den gesundheitlichen Folgen von Luftschadstoffemissionen aus deutschen Kohlekraftwerken, die von der Umweltrechtsorganisation ClientEarth in Auftrag gegeben wurde.
Direkt nach Verabschiedung des stark umstrittenen Kohlegesetzes, scheint die Bundesregierung erneut den Klima- und Gesundheitsschutz hintenan zu stellen: In seinen kürzlich veröffentlichten Entwürfen zur Novellierung immissionsschutzrechtlicher Verordnungen präsentiert das Bundesumweltministerium lasche EU-Grenzwerte für deutsche Kohlekraftwerke, die verhindern, dass diese ihren gesundheitsschädlichen Schadstoffausstoß maßgeblich mindern müssen, obwohl dies technisch möglich wäre.
Der Studie zufolge könnten die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Grenzwerte demnach bis zu 26.000 vorzeitige Todesfälle in den Jahren 2022 bis 2038 zur Folge haben und bei zehntausenden Menschen Atemwegserkrankungen wie Asthma und Bronchitis auslösen. Diese gesundheitlichen Folgen würden die Volkswirtschaft und das Gesundheitssystem mit bis zu 73 Milliarden Euro belasten. Mit den von Umwelt- und Gesundheitsorganisationen empfohlenen strengeren Emissionsgrenzwerten könnten diese frappierenden Zahlen um fast zwei Drittel gesenkt werden. Ein früherer Kohleausstieg im Jahr 2030 würde sogar zu einer weiteren Halbierung führen.
Bereits im Mai mahnte eine breite Allianz aus Umwelt-, Gesundheits-, Klimaschutz- und Sozialverbänden die Bundesregierung in einem gemeinsamen Brief, dem Gesundheitsschutz ihrer Bürger*innen endlich Vorrang zu geben. Der nun veröffentlichte Entwurf ist für die Verbände eine Enttäuschung:
„Nach einem viel zu späten Kohleausstieg im Jahr 2038 und horrenden Milliardenabfindungen, scheint dies der nächste klimapolitische Fauxpas der Bundesregierung zugunsten von Kraftwerksbetreibern zu werden. Geltendes EU-Umweltrecht muss so umgesetzt werden, dass Umwelt und Bevölkerung bis zum Kohleausstieg bestmöglich vor den schmutzigen Emissionen der Kraftwerke geschützt werden. Und nicht so, dass Kohlekonzerne bestmöglich Kosten sparen“, Prof. Dr. Hermann Ott, Leiter des Deutschland-Büros von ClientEarth.
Die Kohleverstromung verursacht seit 20 Jahren gleichbleibend hohe Schadstoffemissionen. Und das, obwohl Techniken auf dem Markt und teilweise auch schon in den Kraftwerken verfügbar sind, mit denen sich der Ausstoß deutlich reduzieren ließe. Die Umsetzung der EU-Grenzwerte in deutsches Recht ist außerdem seit fast zwei Jahren überfällig”, Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH).
„Die Bundesregierung kann mit ehrgeizigeren Emissionsgrenzwerten einen wichtigen Beitrag zur Senkung von Herz-Kreislauferkrankungen, Krebs und anderen Krankheiten leisten. Solch ein Gesundheitsschutz stärkt die Resilienz der Menschen, entlastet das Gesundheitssystem und wird uns bei zukünftigen Pandemien zugute kommen. Die konsequente Reduzierung der Schadstoffe aus Kohlekraftwerken wird eine wichtige Lücke bei der Krankheitsprävention schließen“, Anne Stauffer, Leiterin für Strategie und Kampagnen bei der Gesundheitsorganisation von HEAL.
„Der deutsche Gesetzgeber sollte durch die Umsetzung der europäischen Standards dazu beitragen, dass die Gesundheitsbelastung durch Kohlekraftwerke in Deutschland substanziell reduziert wird. Diese Studie zeigt das fehlende Engagement der Bundesregierung für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung“, Christiane Averbeck, Geschäftsführerin der Klima-Allianz Deutschland.
In der Studie „Emissionsgrenzwerte für Kohlekraftwerke: Gesundheitliche Folgen der vorgeschlagenen Grenzwerte in Deutschland“ des Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) wurde ein Umsetzungsvorschlag der Bundesregierung (Stand August 2019) mit zwei strengeren Alternativszenarien verglichen. Der vor kurzem veröffentlichte und zur Verbändeanhörung stehende Entwurf sieht keine ambitionierteren Werte vor, sondern bleibt sogar noch dahinter zurück.
Die wichtigsten Ergebnisse der Studie:
· Für den Zeitraum 2022 bis 2038 würden die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Grenzwerte für Emissionen aus Kohlekraftwerken zu schätzungsweise bis zu 26.000 vorzeitigen Todesfällen führen – trotz der geplanten Beschlüsse zum Kohleausstieg.
· Die gesundheitlichen Auswirkungen der kontinuierlichen Luftverschmutzung durch Kohlekraftwerke im Rahmen der vorgesehenen Grenzwerte würden die Volkswirtschaft und das Gesundheitssystem im Zeitraum 2022 bis 2038 mit bis zu 73 Milliarden Euro belasten.
· Wenn nur die Kraftwerke, die bis zu ihrer Stilllegung nach dem Kohleausstiegspfad ohne Begrenzung der Betriebsstunden laufen, das untere Ende der mit Anwendung der Besten Verfügbaren Techniken erreichbaren Grenzwerte einhalten würden, könnte das Risiko vorzeitiger Todesfälle um 65% reduziert sowie die Kosten für die Allgemeinheit um ca. zwei Drittel auf 21 Milliarden Euro gesenkt werden. Dies macht das enorme Vorsorgepotential strikter Grenzwerte deutlich.
· Je früher der Ausstieg aus der Kohleverbrennung erfolgt, desto geringer fallen die Gesundheitsfolgen und -kosten aus. Ein Kohleausstieg bis 2030 würde zum Beispiel zu einer weiteren Halbierung führen.
Bereits im Mai 2020 hatten die Organisationen ClientEarth, Deutsche Umwelthilfe (DUH), Health and Environment Alliance (HEAL) und Klima-Allianz in einem gemeinsamen Schreiben die Bundesministerien für Gesundheit, Umwelt und Wirtschaft auf die Ergebnisse der Studie aufmerksam gemacht und entsprechend strenge Grenzwerte zum Schutz von Gesundheit und Umwelt eingefordert.
Im Antwortschreiben des Bundesumweltministeriums stimmte Ministerin Schulze zwar darin überein, dass trotz wichtiger Fortschritte zur Luftreinhaltung die in der Studie dargelegten Gefahren ein zu hohes Niveau erreichen. Zugleich verwies die Bundesministerin jedoch auf den Kohleausstieg bis 2038 zur Erreichung von Luftqualitätszielen und damit für den Gesundheitsschutz. Das Bundeswirtschafts- und das Bundesgesundheitsministerium reagierten bislang nicht auf den Brief der Verbände und die Studie.
Die neuen EU-Grenzwerte für Schadstoffemissionen aus Kohlekraftwerken müssen spätestens im August 2021 von allen Anlagen eingehalten werden. Die rechtliche Umsetzung der europäischen Grenzwerte hätte nach den Regelungen des deutschen Bundesimmissionsschutzrechts bereits im August 2018 erfolgen müssen. Der lange politische Stillstand in Sachen Schadstoffgrenzwerte war den Verhandlungen um den Kohleausstieg geschuldet. Im August 2019 fand ein Fachgespräch der Umweltorganisationen mit dem Bundesumweltministerium zum Stand der Umsetzung statt. Die damals vorgeschlagenen Grenzwerte erfüllen in vielen Fällen nur knapp die EU-Grenzwerte.
Die Umsetzung war auch in das Nationale Luftreinhalteprogramm bereits in Ansatz gebracht worden. Bereits im vergangenen Jahr hatte ein Rechtsgutachten im Auftrag der Klima-Allianz und der Deutschen Umwelthilfe gezeigt, dass die Bundesregierung aus Gründen EU-rechtlicher Verpflichtungen zum Umweltschutz die untere Bandbreite der Grenzwerte für Stickoxide ausschöpfen muss.
Am 20. Mai 2020 hat die Deutsche Umwelthilfe gemeinsam mit ClientEarth auf Änderung des nationalen Luftreinhalteprogramms (NLRP) zur wirksamen und sicheren Minderung mehrerer gesundheitsschädlicher Luftschadstoffe aus Verkehr, Massentierhaltung sowie Kohle- und Holzfeuerung geklagt. Die Bundesregierung verfehlt mit ihrem aktuellen Maßnahmenplan die verbindlichen EU-Vorgaben zur Minderung der Luftschadstoffe Ammoniak (NH3), Feinstaub (PM2,5), Stickoxide (NOx) und Schwefeldioxid (SO2) deutlich.
“Vorzeitige Todesfälle“: Eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien zeigt, dass vor allem eine langfristige, chronische Belastung durch Luftverschmutzung das Sterberisiko durch verschiedene Krankheiten erhöht. Auf dieser Grundlage hat die WHO empfohlen, Konzentrations-Wirkungs-Beziehungen anzuwenden, die die Belastung durch Luftverschmutzung mit einem erhöhten Risiko in Verbindung setzen. Dieser Ansatz ermöglicht die Aussage, dass eine bestimmte Anzahl von Todesfällen vermieden werden könnten, wenn die Belastung durch Luftverschmutzung reduziert würde.