Deutschlands Klimaneutralität: Dramatischer Umbau erforderlich – mit viel mehr Tempo
Auf dem Weg zu Deutschlands Klimaneutralität bis 2045 wäre eine fundamentale Transformation des Energiesystems notwendig. In der Modellanalyse machen Forscher einmal mehr deutlich: Der schnelle Ausbau Erneuerbarer Energien bleibt dafür fundamental.
14.10.2021 – Noch vor der heißen Phase im Bundestagswahlkampf hatte die Bundesregierung ihre Klimaziele verschärft: Treibhausgasreduktion bis 2030 um mindestens 65 Prozent, bis 2040 mindestens 88 Prozent, und bis 2045 soll Deutschland „klimaneutral“ werden. Aktuell steht Deutschland bei etwa 40 Prozent Reduzierung der CO2-Emissionen.
Im novellierten Klimaschutzgesetz 2021 ist das ambitionierte Ziel festgehalten. Klimaneutral heißt, sämtliche Treibhausgas-Emissionen von der Stromerzeugung über die Industrie bis hin zu Gebäuden, Verkehr und Landwirtschaft so weit wie möglich zu reduzieren, während nicht vermeidbare Emissionen durch Treibhausgas-Senken ausgeglichen werden können. Bis 2045 müsste die Netto-Emissionsbilanz also auf null gedrückt werden.
Tiefgreifende Transformation
Im neuen Ariadne-Report, den rund 50 Wissenschaftler aus über 10 Forschungsinstituten, darunter das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), gemeinsam mit Universitäten erstellt haben, machen die Studienautoren deutlich, dass Klimaneutralität bis 2045 nur durch eine „beispiellos zügige und tiefgreifende Transformation des gesamten Energiesystems“ zu erreichen sei.
Zwischen deutscher Klimapolitik und ihren Klimazielen klaffe jedoch noch ein mächtiger Spalt. Geplante Maßnahmen seien zu schwach, ganz zu schweigen von deren Umsetzung. Die nächste Bundesregierung müsse nun „sehr schnell sehr viel auf den Weg bringen“.
Der Ariadne-Szenarienreport hat die Transformationspfade zur Klimaneutralität 2045 erstmals im Modellvergleich untersucht, der robuste Erkenntnisse zu Transformationspfaden, Spielräumen und Engpässen detailliert darlege. Vom Gesamtsystem über einzelne Sektoren, von der direkten Elektrifizierung über Wasserstoff und E-Fuels bis hin zu Energieimporten: Zehn unterschiedliche Modelle wurden für die Studie integriert und sechs verschiedene Szenarien durchgerechnet.
Die Zeit drängt
Klimaneutralität erreicht man nicht von heute auf morgen, deshalb müssten zu Beginn der nächsten Legislaturperiode wichtige Entscheidungen getroffen werden, mahnt Gunnar Luderer, Vize-Leiter des Ariadne-Projekts am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung PIK. Das Allerwichtigste ist und bleibt der massiv beschleunigte Ausbau von Wind- und Solarenergie. Der Stromsektor müsste schneller und umfassender klimafreundlich werden als bisher geplant.
Laut Berechnungen der Studienautoren wäre das ein relativ kostengünstiger Weg – im Vergleich zur Umstellung in anderen Sektoren. Ohnehin müsste Ökostrom auch für die Sektoren Verkehr, Industrie und Wärme in Zukunft in sehr viel größeren Mengen bereitstehen. Demnach sollte sich bis 2030 die Zahl der Wind und Solarenergie-Anlagen in Deutschland mindestens verdoppeln, Kohlekraftwerke bis 2030 abgeschaltet werden sowie die notwendige Netzinfrastruktur für eine dezentrale Energiewerde ausgebaut sein.
Auf Kurs zur Klimaneutralität rückten zwar erneuerbarer Strom, grüner Wasserstoff, grüne E-Fuels sowie nachhaltig erzeugte Biomasse immer stärker an die Stelle der fossilen Brennstoffe Kohle, Öl und Gas, heißt es in der Studie. Demgegenüber stünden langlebige vorhandene Infrastrukturen, Gebäude- oder Fahrzeugbestände und Industrieanlagen. „Stehen heute noch fossile Brenn- und Rohstoffe im Mittelpunkt von zum Beispiel Stahl- oder Chemieproduktion, werden auf einem Kurs zur Klimaneutralität Strom und Wasserstoff künftig die wichtigsten Energieträger für die Industrie sein“, sagt Andrea Herbst, Ko-Leiterin des Ariadne-Arbeitspakets Industriewende am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI. „Der Zeithorizont bis 2030 ist dabei entscheidend, denn in diesem Zeitraum müssen CO2-neutrale Verfahren vom Pilot- und Demonstrations-Maßstab auf industrielles Niveau skaliert und wirtschaftlich betrieben werden“.
Zentrale Herausforderungen seien dabei die höheren laufenden Kosten CO2-neutraler Technologien, der Infrastrukturausbau, die effektive Umsetzung von CO2-Preissignalen entlang der Wertschöpfungsketten und die Reduzierung von Unsicherheiten bezüglich großer strategischer Investitionen sowie eine klare Perspektive für den wirtschaftlichen, groß-industriellen Betrieb von CO2-neutralen Verfahren.
Weitere große CO2-Brocken Verkehr und Gebäude
Vor allem die im Klimaschutzgesetz festgelegten Ziele für Gebäude und Verkehr werden im Modellvergleich trotz einer deutlichen Beschleunigung des Tempos der Emissionsminderungen in vielen Szenarien nicht eingehalten, warnen die Wissenschaftler.
Bis 2030 müsste etwa im Gebäudebereich die jährliche Sanierungsrate auf 1,5 bis 2 Prozent steigen, sagt Christoph Kost, Ko-Leiter des Ariadne-Arbeitspakets Wärmewende am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE. „Fünf Millionen Wärmepumpen müssten installiert und etwa 1,6 Millionen Gebäude neu an das Fernwärmenetz angeschlossen sein.“ Auch hier gilt: Ohne massiven Zubau Erneuerbarer Energien ist das nicht möglich. Oberstes Ziel beim Bauen und Sanieren ist die Energieeffizienz: Ein wärmegedämmtes Gebäude braucht weniger Energie.
Auch der Verkehrssektor werde sein Klimaschutzziel für 2030 wahrscheinlich nicht erreichen, meint Florian Koller, Leiter des Ariadne-Arbeitspakets Verkehrswende am Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Denn dazu wären rund 14 Millionen E-Autos im Bestand notwendig – rund 40 Prozent mehr als von der Regierung angestrebt. Zudem fehle die dazu notwendige Lade-Infrastruktur. Weitere große Herausforderungen: Industrie, Gütertransport, schiffe Flugzeuge – dafür werden große Mengen von grünem Wasserstoff benötigt – also auch wieder große Mengen Ökostrom zur Herstellung.
Politik unterschätzt die Aufgabe noch immer
Im Unterschied zu bereits existierenden Szenarien wurde nicht nur ein Transformationspfad modelliert, berichten die Studienautoren, sondern insgesamt sechs Zielerreichungsszenarien. Die unterschiedlichen Technologieausrichtungen führten zu verschiedenen Profilen in den Transformationsherausforderungen: Während beispielsweise eine stärkere Elektrifizierung eine schnellere Transformation der Endnutzung erfordere, werde für die verstärkte Nutzung von Wasserstoff und E-Fuels ein zügigerer Hochlauf der entsprechenden Produktionskapazitäten und Infrastrukturen benötigt.
Zusätzlich würden aufgrund der hohen wirtschaftlichen und geopolitischen Relevanz unterschiedliche Ausprägungen von Importmöglichkeiten analysiert. Durch die vorliegende Modellvielfalt und Szenario-Variationen könnten einerseits Bandbreiten plausibler Entwicklungen sowie Unsicherheiten abgeleitet werden. Andererseits wäre es möglich, sowohl Spielräume als auch kritische Engpässe der Energiewende abzuschätzen, wie beispielsweise den Mindestbedarf an Strom aus Erneuerbaren Energien. „In der Politik wird oft noch unterschätzt, wie tiefgreifend der notwendige Umbau zur Klimaneutralität 2045 ist“, so Luderer: „Fest steht: Scheitern wir am Meilenstein des Klimaziels 2030, werden wir wohl auch 2045 nicht klimaneutral sein.“
Quelle
Der Bericht wurde von der Redaktion “energiezukunft“ (na) 2021 verfasst – der Artikel darf nicht ohne Genehmigung weiterverbreitet werden! | energiezukunft | Heft 30 / 2021 | „Power for Future – Die Zukunft der Energieerzeugung“ | Jetzt lesen | Download